Gesammelte Schriften von Elany & Samuel aus Schwarze Saat

Die Schriften von Elany und ihrem verstorbenen Vater Samuel aus dem Buch Schwarze Saat – Gesammelte Schriften zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus. Die PDF kannst du hier herunterladen.


  1. Verbrannte Erde, kranke Körper: Die Notwendigkeit die Industrie zu zerstören
  2. Werkzeuge des Anarchismus Teil 1: Über zwischenmenschliche Beziehungen (und gelebter Anarchie)
  3. Werkzeuge des Anarchismus Teil 2: Über Entkolonialisierung (und die technologische Komponente des Kolonialismus)
  4. Werkzeuge des Anarchismus Teil 3: Über Dezivilisierung (und eine Neubewertung der Welt)
  5. Eine Schwarze Kritik der Zivilisation
  6. Survival in Endzeiten: Ein Wildpunk-„Manifest“

Verbrannte Erde, kranke Körper: Die Notwendigkeit die Industrie zu zerstören

Elany

Während ein Teil der Erde von Bränden heimgesucht wird und der andere Teil mit Überschwemmungen zu kämpfen hat, bedroht uns ein weiterer Aspekt: Covid-19. Doch die immer noch gegenwärtige Corona-Pandemie ist dabei nur der Anfang einer neuen Ära von Pandemien.

Während der Klimawandel und Forderungen nach Umweltschutz immer weiter zum „Mainstream“ werden, nimmt die Dringlichkeit von Pandemien zu. Die aktuelle Situation hat den Menschen eine deutliche Lektion erteilt: Tödliche Krankheitserreger stellen eine ebenso große und globale Bedrohung für Menschen und andere Lebewesen dar.

Schon vor etwas mehr als 15 Jahren hat der Soziologe Mike Davis vorhergesagt, dass wir aufgrund der Massentierhaltung ein globales Zeitalter der Pandemien beschreiten und es uns in die Katastrophe führen wird. Die industrielle Viehzucht fungiert wie eine Art Teilchenbeschleuniger. Mehr Körper auf weniger Raum bedeuten mehr Chancen für die Entstehung von Mutationen oder Hybridviren und für ihre Verbreitung, egal bei welchem Virus. Die globalen Versorgungsketten riesiger transnationaler Unternehmen mit Niederlassungen in einem halben Dutzend Ländern und Märkten in tausend Städten sowie die Urbanisierung tun ihr Übriges. Am Bedrohlichsten sind dabei die Vogelgrippeviren und wir wissen heute, dass wir wohl nur eine einzige Mutation davon entfernt sind, dass einer der tödlichsten Stämme der Vogel­grippe pandemisch wird. Diese Seuchen, die von der Agrarindustrie geschaffen und verbreitet werden, legen sich anschließend mit besonderer Verheerung über die Orte, die durch Kolonialismus und Kapitalismus in Armut versinken. Die Kombination aus mangelnder Gesundheitsversorgung und starker Urbanisierung führt schließlich zu einer ernsten Notlage, in der Seuchen die volle Härte der Verwüstung anrichten.

Apropos Verwüstung: Die Auswirkungen des Klimawandels sind ebenfalls mit voller Härte überall um uns herum zu spüren. Die Liste der Verwüstung ist endlos. Wälder werden abgeholzt, wobei häufigere und intensivere Hitzewellen zu einer Zunahme von Waldbränden, Dürreperioden und Wüstenbildung führen. Böden werden erodiert und Ackerland in Wüsten verwandelt. Düngemittel, Herbizide, Fungizide und Pestizide verunreinigen die Lebensmittelversorgung. Mülldeponien quellen über mit synthetischen Abfällen. Kernkraftwerke füllen Luft, Land und Meer mit krebserregenden Partikeln. Ein chemischer Smog füllt die Straßen der Städte und vergiftet Menschen und andere Lebewesen auf Schritt und Tritt. Plastikmüll zerfällt in Billionen von mikroskopisch kleinen Teilchen, die jeden lebenden Organismus infizieren. Chemikalien werden in Meere, Seen und Flüsse gekippt. Giftstoffe sickern ins Grundwasser. Der Anstieg und die Erwärmung der Meere führen zu stärkeren Regenfällen, schwereren Überschwemmungen, häufigeren Megastürmen und der Überflutung von Küstengebieten.

Zusätzlich zur Erwärmung erleben die Ozeane eine Versauerung und einen Sauerstoffverlust. Ein tödliches Trio, welches dazu führt, dass wir auf ein sechstes Massenaussterben des Lebens auf unserem Planeten zusteuern, bei dem das Artensterben 1000-mal so schnell voranschreitet wie normal. Wie die Ozeanografin Sylvia Earle festhält: „Unser Leben hängt vom lebendigen Ozean ab. Nicht nur von den Felsen und dem Wasser, sondern von stabilen, widerstandsfähigen, vielfältigen lebenden Systemen, die die Welt auf einem für die Menschheit günstigen, stetigen Kurs halten.“ Der Ozean bedeckt etwa 70% der Erde und ist zentral für die Ermöglichung von Leben. Meerespflanzen erzeugen die Hälfte des atembaren Sauerstoffs der Welt. Wenn der Ozean stirbt, sterben auch wir.

Die Agrarindustrie zerstört nicht nur Gemeinschaften, sondern breitet sich auch in die Wildnis aus, zerstört die Vielfalt und das Gleichgewicht der natürlichen Ökologie und ersetzt sie durch riesige Monokulturen. Die Hälfte der bewohnbaren Fläche der Erde wird heute landwirtschaftlich genutzt, und jedes Jahr kommen Millionen von Hektar hinzu. Ein Großteil dieser Anbauflächen dient der Futtermittelproduktion für Hunderte von Millionen Schweinen, Rindern, Schafen und Geflügel, die für die globalen Versorgungsketten gemästet werden, die die Welt umspannen.

Zusätzlich dazu kommen noch weitere soziale, ökonomische und politische Verschärfungen, wie etwa Hungersnöte und Wasserknappheit, Krankheiten und Tod durch Hitze, Seuchen und Zerstörung wichtiger Lebensräume und Kriege um schwindende Ressourcen und nutzbare Territorien. Der Klimawandel zerstört Lebensgrundlagen, verstärkt Krankheiten und vertreibt Menschen. Zusammen mit der Ära der Pandemien ergibt sich eine globale Kaskade des Leids.

Wo immer wir ökologische Zerstörung finden, finden wir die Industrie. Die Industrie ist nicht neutral und es könnte keine angemessene Lösung für die Umweltzerstörung geben, solange die Industrie weiter existiert. Um das Leid zu beenden, bedarf es einen vollständigen Untergang der Industrie. Oder wie es in Revolte, einer anarchistische Zeitung aus Wien, 2019 in Ausgabe 43 treffend ausgedrückt wurde: „Für die Zerstörung der Industrie, der Arbeit und der Ausbeutung! Für die Sabotage und den direkten Angriff!“

Nachhaltige, grüne Industrie?!

Während die Zerstörung der Lebensräume immer weiter voranschreitet, will uns die Industrie, welche für all das Leid verantwortlich ist, die Lösung verkaufen: Nachhaltigkeit und erneuerbare Energien.

An diesem Punkt ökologischer, sozialer und körperlicher Katastrophen müssen wir grüne Lösungen wie die fälschlicherweise so genannte Revolution der Erneuerbaren Energien kritisch hinterfragen und als das identifizieren, was es tatsächlich ist: eine Aufrechterhaltung des Status Quo. Die angeblich grünen Energien halten die ökologische Verwüstung und die globalen Wohlstandsgefälle weiter aufrecht.

Die Zerstörung von Lebensräumen von Menschen und Nicht-Menschen ist in den Massenproduktionsinfrastrukturen „erneuerbarer Energien“ impliziert, egal ob Solar, Wind, Biokraftstoffe, Wasserstoff, Atomkraft und andere angebliche erneuerbare Energien. Eine zerstörerische Norm wird dabei durch eine andere ersetzt. Diese Energien haben, wie die fossilen Brennstoffe, ihre Wurzeln in der kolonialistischen Rohstoffindustrie. Wieder einmal ist die „Lösung“ genau das Problem.

Für Batterie-Technologien können wir nach Bolivien (Lithium) und Kongo (Kobalt) schauen. Bei beiden Rohstoffen sind die ökologischen und humanitären Kosten unverzeihlich: die Zerstörung von Lebensräumen, Kindersklaverei und Todesfälle durch eine gefährliche Arbeit. Natürlich wird der Elektroschrott hinterher überall in Südamerika, Afrika und Asien verstreut. Lithium wird heute als „weißes Gold“ bezeichnet und die Gewinnung verbraucht riesige Mengen an Wasser, was die Verfügbarkeit für Indigene Gemeinschaften und Wildtiere drastisch einschränkt. Zusätzlich dazu werden giftige Abfälle produziert und chemische Lecks haben immer wieder Flüsse und damit Menschen und Nicht-Menschen vergiftet.

Großstaudämme für Wasserkraft-Technologien haben in der Vergangenheit ebenfalls katastrophale Auswirkungen auf Indigene Völker und ihr Land gehabt.

Industrielle Windparks, deren Blender am Himmel Zugvögel zerhacken, verbrauchen kolossale Ressourcen für die Produktion und Umsetzung (sowohl die Windturbinen als auch die Infrastruktur) und zerstören wandernde Wildtiere, wie Fledermäuse und Vögel, die für gesunde Ökosysteme wichtig sind und von denen einige zu den gefährdeten Arten gehören.

Für Solarenergie werden riesige Solarindustriekomplexe errichtet, die das Land kahl schlagen und menschliche Populationen und Migrationsrouten von Tieren und Menschen für die riesigen Solarfelder, Umspannwerke und Zufahrtsstraßen verdrängen, die alle unglaublich kohlenstoffintensiven Beton benötigen. Für Wind- und Solarenergie sowie für die Produktion von Biokraftstoffen wird 100-1000 Mal mehr Landfläche benötigt als für die Produktion fossiler Brennstoffe.

Scheiß auch auf die chinesischen Versorgungsbäuer*innen, die jeden Tag krebserregenden Industriemüll aus den Solarpanel-Fabriken auf ihr Land gekippt bekommen. Die denken offensichtlich nicht ökologisch genug. Und vergiss die Ghanaer*innen, die sich darüber beschweren, dass sich in ihren Hinterhöfen Berge von abgenutzten Solarmodulen zusammen mit dem Rest der veralteten Technik des Westens auftürmen. Sie behindern doch nur den ökologischen Fortschritt.

Ob Ölbohrungen, Kohlekraftwerke oder megalithische „grüne“ Projekte — sie alle wurzeln in einer beispiellosen Zerstörung von Lebensräumen für Menschen und andere Lebewesen. Es kann daher nicht das Ziel sein, eine zerstörerische Technologie durch eine andere zu ersetzen. Das Ziel sollte eine massive und radikale Reduzierung des Energieverbrauchs sein.

Anarchist*innen, die nur dafür kämpfen die Industrie vom Kapitalismus zu befreien, müssen sich endlich der brutalen Realität stellen. Nieder mit der Industrie, nieder mit der Arbeit. Um es mit den Worten des Indigenen Anarchisten ziq zu sagen: Beschlagnahmt die Mittel der Zerstörung! Und brennt sie verdammt noch mal nieder…

Was als nächstes passiert, hängt davon ab, was wir tun. Die Notwendigkeit, aktiv zu werden, war noch nie so dringlich wie heute.


Werkzeuge des Anarchismus Teil 1: Über zwischenmenschliche Beziehungen (und gelebter Anarchie)

Elany

Ein wesentlicher Teil der anarchistischen Theorie befasst sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Wie sehen diese aus, wenn der Staat fällt? Wie sieht eine anarchistische Gesellschaft aus? Sollte es überhaupt eine Gesellschaft geben? Was ist mit Gemeinschaft, Affinität, freie Assoziation?

Während viele Anarchist*innen die Gesellschaft auf ein imaginäres Podest stellen, argumentieren andere Anarchist*innen, dass das Konstrukt der Gesellschaft selbst der Anarchie im Wege steht und dass ihr selbst eine Autorität innewohnt. In seinem Beitrag „Gegen Gemeinschaftsbildung, für die Freundschaft“ argumentiert der Indigene Anarchist ziq, dass „das Ideal der anarchistischen Gemeinschaft unerreichbar und isolierend ist“ und zwischenmenschliche Beziehungen in einer Anarchie stattdessen auf Freundschaften basieren sollten anstelle von erzwungener Gemeinschaft.

Bereits 1844 hat Max Stirner in seinem Werk „Der Einzige und sein Eigentum“ das Konzept der Gesellschaft angegriffen und als Alternative zur Gesellschaft die „Vereinigung der Egoist*innen“ vorgeschlagen. Nach Stirner ist die Vereinigung etwas Alltägliches, aber ein unglaublich mächtiges Werkzeug für alle Individuen. Die Vereinigung ist etwas, das wir alle im Laufe unseres Lebens erfahren und erschaffen. Im Gegensatz zur Gesellschaft ist die Vereinigung der Egoist*innen nicht als statische Beziehung zwischen Individuen zu betrachten, sondern als gemeinsame Lebensaktivität von eigeninteressierten Individuen. Sie wird im Moment gefühlt, erlebt und gelebt.

In dieser Vereinigung kommen wir für eine gemeinsame Aktivität zusammen — nicht etwa durch Pflicht, Moral oder anderen Gründen, sondern weil wir einen gegenseitigen Nutzen in einer solchen Verbindung finden. Beispiele für alltägliche Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit beruhen, sind zB eine Liebesbeziehung, ein Spiel spielen, Sex oder eine Bank ausrauben. Eine solche Vereinigung schließt auch große Gruppierungen ein. So kann diese Vereinigung auch aus Tausenden von Menschen bestehen, die sich in einer Gewerkschaft zusammenschließen, um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Was zählt, ist, dass alle Beteiligten Befriedigung aus einer solchen Vereinigung finden. Wenn wir sie nicht mehr als vorteilhaft empfinden, uns nicht länger wohl fühlen, oder eine neue Aktivität wünschen, wird die Vereinigung beendet.

Kurz gefasst: die Vereinigung wird im Moment gelebt und ist vergänglich. Sie ist ein Werkzeug des Individuums. Dies steht im Gegensatz zur Gesellschaft. Das Individuum ist ein Werkzeug der Gesellschaft. Der Anspruch der Gesellschaft über das Individuum ist absolut und das Individuum kann diesen Anspruch nicht beenden. Während die Vereinigung ein bewusster Akt deiner eigenen Macht ist, wird die Gesellschaft dir aufgezwungen. Sie beruht nicht auf Gegenseitigkeit und in ihr wirst du gezwungen, dich auf Aktivitäten und Beziehungen einzulassen, in welcher du keine Befriedigung findest. Bedürfnisse und Sehnsüchte werden für leere Ideen unterdrückt.

Eine weitere Form zwischenmenschlicher Beziehungen im anarchistischen Raum ist die Bezugsgruppe. Eine Bezugsgruppe ist eine Gruppe von Gefährt*innen, die sich selbst als autonome politische Kraft verstehen. Die Idee dahinter ist, dass Menschen, die sich bereits kennen und sich vertrauen, zusammenarbeiten, um schnell und flexibel auf neue Situationen reagieren zu können. Obwohl Bezugsgruppen darauf konzipiert sind kleine Gruppen zu sein, können sie eine starke Wirkung erzielen. Im Gegensatz zu Top-Down-Strukturen sind sie frei darin sich jeder Situation anzupassen. Alle Mitglieder einer solchen Bezugsgruppe können sofort agieren und reagieren ohne auf Befehle warten zu müssen – und das trotzdem mit einer klaren Vorstellung von den Erwartungen und Vorstellungen der anderen.

Als Gegenstück zu den klassischen formellen Organisationsformen mit Programmen, Deklarationen von Prinzipien und Kongressen existieren noch informelle Organisationen, bei welcher die Vertreter*innen argumentieren, dass große Föderationen ein Relikt der Vergangenheit sind, welche bewiesen haben, dass sie gescheitert sind. Stattdessen sollten kleine autonome und agile Gruppen bevorzugt werden. Ohne die stets wichtige Verbreitung anarchistischer Ideen aufzugeben, geht es heutzutage nicht darum, um jeden Preis möglichst viele Leute um den Anarchismus zu versammeln. Es wird argumentiert, dass keine starken anarchistischen Organisationen nötig sind, die das Signal für die Revolution oder den Aufstand geben, wenn die Zeit reif ist. Wenn es nicht mehr darum geht, wie man Menschen für den Kampf organisieren kann, ist die neue Frage, wie man den Kampf organisieren kann. Voneinander unabhängige informelle Bezugsgruppen, welche die gleiche Perspektive des Kampfes haben, sind der beste Weg, um direkt in die Offensive zu gehen. Dies bietet die größte Autonomie und das breiteste Spektrum möglicher Aktionen.

Um nochmal zur „Gesellschaftsform“ in einer Anarchie zurückzukommen, erscheint es mir abschließend sinnvoll ein Beispiel der zwischenmenschlichen Beziehungen in einer gelebten Anarchie zu geben: das Stammesmodell der Jäger*innen und Sammler*innen, welches im Zuge der sich ausbreitenden Zivilisationen vor etwa 10.000 Jahren durch autoritäre zwischenmenschliche Beziehungen ersetzt wurde. In manchen Teilen der Welt leben auch heute noch kleine Gruppen von Jäger*innen und Sammler*innen, wie etwa die Hadza in Tansania, Ostafrika, die ihr antiautoritäres Modell der zwischenmenschlichen Beziehungen aufrechterhalten. Viele Anthropolog*innen und Soziolog*innen bezeichneten/bezeichnen diese Jäger*innen und Sammler*innen als „egalitäre Kulturen“ oder „akephale Gesellschaften“, nur die wenigsten verwendeten das Wort „Anarchie“ — ein bemerkenswerter Versuch der ideologischen Sabotage, wenn du mich fragst. (Akephal bedeutet übrigens herrschaftsfrei.)

Viele Jäger*innen und Sammler*innen zeichne(te)n sich durch einen besonderen Grad der Gleichheit, der individuellen Autonomie, der gegenseitigen Hilfe und der antiautoritären Erziehungsmethode aus. Sie leb(t)en stets in kleinen Gruppen von 20 bis 50 Menschen, ganz selten waren es bis zu 100. Hier finden wir somit eine Ähnlichkeit zu dem heutigen Konzept der Bezugsgruppe, welche für gewöhnlich aus 5 bis 25 Menschen besteht. Es wäre nicht abwegig, einen Stamm als die erste Bezugsgruppe der Welt zu bezeichnen. Die kleine Größe eines Stammes verhinderte — zusammen mit den anderen Merkmalen — effektiv die Bildung von Hierarchien. Ein Bezug zu Stirners Modell der Vereinigung der Egoist*innen lässt sich ebenfalls herstellen. Manchmal kamen/kommen verschiedene Stämme auf eine freiwillige gegenseitige Basis zusammen, um zB beim Bau von vorübergehenden Heimen zu helfen oder aber um Eindringlinge abzuwehren. Anschließend war die Vereinigung wieder beendet und die Stämme trennten sich.

In den Stämmen existiert ein „egalitärer Ethos“. Wenn ein Mitglied eines Stammes dieses verletzt, wird es von den anderen Mitgliedern gemieden. Entweder stellt die gemiedene Person ihr Verhalten ein oder aber die Person verlässt den Stamm und schließt sich einem anderen an (freie Assoziation).

Eine Praxis sticht allerdings besonders hervor. Eine Sache, die in anarchistischen Diskursen viel zu wenig Beachtung findet: die antiautoritären Praktiken der Kindererziehung, die dafür sorgen, dass in jeder Generation die Gefühle von Vertrauen, das egalitäre Prinzip und die Ablehnung von Autorität weitergegeben werden.

Der Erziehungsstil der Jäger*innen und Sammler*innen würde in der zivilisierten Welt als „freizügig“ bezeichnet werden. Kinder durften frei entscheiden, wann sie gefüttert werden wollten oder nicht, und sie bildeten sich durch ihr eigenes, selbstbestimmtes Spiel und Erkunden. Körperliche Bestrafungen waren Fehlanzeige. So beschreibt zB Elizabeth Marshall Thomas, welche die Ju/’hoansi in der Kalahari-Wüste Afrikas studierte, folgendes: „Ju/’hoan-Kinder weinten sehr selten, wahrscheinlich weil sie wenig Grund zum Weinen hatten. Kein Kind wurde jemals angeschrien, geohrfeigt oder körperlich bestraft, und nur wenige wurden überhaupt gescholten. Die meisten hörten nie ein entmutigendes Wort, bis sie sich der Pubertät näherten, und selbst dann wurde die Zurechtweisung, wenn es wirklich eine Zurechtweisung war, mit sanfter Stimme ausgesprochen. … Man sagt uns manchmal, dass Kinder, die so freundlich behandelt werden, verwöhnt werden, aber das liegt daran, dass diejenigen, die diese Meinung vertreten, keine Ahnung haben, wie erfolgreich solche Maßnahmen sein können. Frei von Frustration oder Angst, sonnig und kooperativ, waren die Kinder der Traum aller Eltern. Keine Kultur kann jemals bessere, intelligentere, sympathischere und selbstbewusstere Kinder großgezogen haben.“

Es ist leicht nachvollziehbar, dass Kinder, denen von Anfang an vertraut wird und die gut behandelt werden, dazu heranwachsen, anderen zu vertrauen und sie gut behandeln, und wenig oder kein Bedürfnis verspüren, andere zu beherrschen und zu unterdrücken, um ihre Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. ]Zum Thema Erziehung empfehle ich den Beitrag „Kindheit & Die psychologische Dimension der Revolution“ von Ashanti Alston zu lesen — nicht nur einmal.]

Heute sind die Hadza eines der letzten noch heute existierenden Beispiele der gelebten Anarchie und antiautoritärer zwischenmenschlicher Beziehungen. Und das seit mindestens 100.000 Jahren. Doch die sich immer stärker ausbreitende Landwirtschaft ist im Inbegriff das letzte bisschen Anarchie zu zerstören.

Den absoluten Großteil ihres Lebens lebten die Hadza unberührt von der zivilisierten Welt. Während das mesopotamische Reich mit der Landwirtschaft experimentierte (was zu Wüstenbildung und Überschwemmungen führte, etwas, das auch heute noch die Folgen sind), während in Ägypten Sklav*innen die Pyramiden bauten, während des Aufstiegs und des Untergangs des Römischen Reichs, während Europäer die Welt kolonisierten, während Indigene auf dem amerikanischen Kontinent abgeschlachtet wurden, während afrikanische Menschen aus ihrer Heimat entführt wurden um die „neue Welt“ aufzubauen, lebten die Hadza in völliger Unwissenheit über Kolonialismus und Agrarimperialismus. Bis zum Ersten Weltkrieg, als die britische Kolonialregierung versucht hatte, die Hadza dazu zu bringen, sesshaft zu werden und Landwirtschaft zu betreiben. Profitierten die Hadza anfangs noch von den neuen Nahrungsmitteln, sahen sie schnell keinen Sinn mehr darin schwere Tätigkeiten auf den Feldern zu verrichten, wenn im Busch ausreichend Nahrung frei verfügbar ist. Ein weiterer Grund, warum sie die Siedlungen verließen, war der Ausbruch von Infektionskrankheiten, wie etwa Masern, die in sesshaften Gemeinschaften gut gedeihen.

Krankheiten sind bei den Hadza selten. Es existiert eine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und Jugendliche dürfen ihre Sexualität frei erkunden. Frauen genießen ein hohes Maß an sexueller Autonomie, ganz im Gegensatz zur zivilisierten Welt. Die Hadza sind auch völlig befreit von der erdrückenden Zeit. Ihr Zeitgefühl hängt ausschließlich von den wandernden Tieren und den wechselnden Mustern der blühenden Pflanzen ab.

Doch in den letzten 100 Jahren haben sie aufgrund der zunehmenden Landwirtschaft und der Zivilisation, die in ihre Gebiete eindringen, mehr als 90% ihres Landes verloren. Rinder verdrängen die übliche Jagdbeute und fressen Nüsse und Beeren weg. Durch die Überweidung der Gebiete fingen sie zudem auch damit an die Grasdächer der Hadza-Hütten zu fressen. Der Zugang zu Quellwasser ist heute mühsam, da die lokale Landwirtschaft einen enormen Bedarf hat, eine anhaltende Dürre in Ostafrika ausgelöst hat und der Grundwasserspiegel gesunken ist. Manche Hadza sind gezwungen ihren wertvollen Honig gegen das weniger wertvolle Maismehl von den sesshaften Gemeinschaften zu tauschen, da die Nahrungsbeschaffung immer schwieriger wird. Aufgrund des Tourismus, bei welchen die Hadza eine beliebte Attraktion sind, kamen einige Stämme zudem auch das erste Mal in Kontakt mit Alkohol. Alkoholismus und damit verbundene Todesfälle sind zu einem ernsten Problem geworden. Wenn die Hadza bald erfolgreich ihres Gebietes und ihrer Lebensweise beraubt werden und sie in Folge dessen zwangszivilisiert werden, stirbt erneut ein weiterer Teil der gelebten anarchischen zwischenmenschlichen Beziehungen, bis bald nichts mehr übrig ist.


Werkzeuge des Anarchismus Teil 2: Über Entkolonialisierung (und die technologische Komponente des Kolonialismus)

Elany

Der anarchistische Kampf ist eng mit dem antikolonialen Widerstand verbunden. In beiden Kämpfen stehen der Staat und der Kapitalismus im Mittelpunkt. Doch viele Anarchist*innen (wie auch antikoloniale Kämpfende) versäumen es oft, die verschiedenen Ebenen der Macht und Unterdrückung zu berücksichtigen, die nicht nur historisch, sondern auch gegenwärtig im Spiel sind. Die technologische Komponente des Kolonialismus findet meist wenig Beachtung und der Anarchismus hat häufig einen beachtlichen Eurozentrismus.

Um über Entkolonialisierung zu sprechen, muss zunächst einmal festgehalten werden, wovon wir uns überhaupt entkolonialisieren wollen. Kolonialisierung bedeutet, dass eine dominante Gruppe ein Land und die jeweilige Bevölkerung ausbeutet, assimiliert und eigene Werte und Ideale aufzwingt, um die ursprünglichen Lebensweisen der kolonisierten Völker zu zerstören. Der Kolonialismus hat überall auf der Welt stattgefunden und sich in den unterschiedlichsten Formen der Unterdrückung gezeigt: Landraub, Versklavung, Vergewaltigung, Zerstörung von Körpern durch Arbeit, Gefangenschaft und Genozid, Entführung von Kindern, Durchsetzung von Religionen und Zerstörung spiritueller Lebensweisen, das Aufzwingen von eigenen Werten und Vorstellungen (wie etwa die Geschlechterbinarität und Heteronormativität) oder die Plünderung des Lebensraums. All diese Dinge haben bei kolonisierten Völkern tiefe Risse hinterlassen, sowohl physisch als auch spirituell und psychologisch, während uns ein System aufgezwungen wurde, dass wir weder geschaffen noch mitgestaltet haben. Das sind die Dinge, von denen wir uns heilen müssen. Hier kommt die Entkolonialisierung ins Spiel.

Bei der Entkolonialisierung geht es darum, das zurückzufordern, was uns genommen wurde, und das zu ehren, was wir noch haben. Das erfordert bewusste Anstrengung. Es ist wertvoll, aktiv nach dem zu suchen, was verloren wurde, und sich an das zu erinnern, was vergessen wurde. Wir leben immer noch mit dem Trauma, das die Kolonialisierung mit uns gemacht hat, und viele von uns haben die aufgezwungenen Werte der Kolonialherrschaft so sehr verinnerlicht, dass sie in unseren Communities teilweise stärker sichtbar sind als in heutigen sogenannten „progressiven“ Staaten. Um ein Beispiel zu nennen: vor dem Kolonialismus existierte in den meisten Indigenen Lebensweisen keine wirkliche Vorstellung von Geschlecht. Die Siedlersexualität zwang im Namen der Wissenschaft Vorstellungen der Geschlechterbinarität und Heteronormativität auf. Werte, die so sehr verinnerlicht wurden, dass unter kolonisierten Völkern heute Frauen- und Queerfeindlichkeit sowie patriarchale Strukturen weit verbreitet sind.

Um die Welt zu entkolonialisieren, müssen wir also zunächst uns selbst entkolonialisieren. Wir müssen von den tiefen Wunden heilen, die der Kolonialismus hinterlassen hat. Das erfordert, den Kolonisator im eigenen Kopf zu töten. Entkolonialisierung ist eine Lebensweise. Es ist ein Weg, der uns mit unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Es ist nicht nur politisch, sondern auch persönlich und spirituell.

Die anarchistische Dimension der Entkolonialisierung

Der Anarchismus hat viele verschiedene Tendenzen hervorgebracht, doch gibt es drei wesentliche Eckpfeiler des anarchistischen Denkens: gegenseitige Hilfe, direkte Aktion und freie Assoziation. Gegenseitige Hilfe ist der gegenseitige Austausch von Ressourcen und Unterstützung zum gegenseitigen Nutzen. Die direkte Aktion betont das unvermittelte Handeln durch einen Angriff auf die Strukturen der Herrschaft, was ich persönlich als permanenten Aufstand bezeichnen würde. Die freie Assoziation ist die Art und Weise, wie und mit wem Individuen ihre Aktivitäten bestimmen, um gemeinsam zu agieren.

Die anarchistische Entkolonialisierung unterstützt dabei den antikolonialen Kampf, ohne eigene Ideale in den Vordergrund zu stellen. Es bedeutet, die Wünsche und Bedürfnisse der kolonisierten Völker zu berücksichtigen, auch wenn diese nicht dem eigenen Wunsch nach Anarchie entsprechen. So unterstützt die anarchistische Entkolonialisierung den Kampf der Zapatista, auch wenn diese betonen, dass sie nicht am Anarchismus interessiert sind (aber laut eigener Aussage anarchistische Zapatista unter sich haben). Andere antikoloniale Bewegungen haben ebenfalls nicht die Anarchie als Ziel, sondern Formen der Indigenen Demokratie und Kommunalismus, welche häufige politische Systeme in der vorkolonialen Zeit waren. Der anarchistische antikoloniale Kampf erfordert eine respektvolle Auseinandersetzung mit Indigenen Bewegungen, indem die Unterschiede und die Autonomie respektiert werden und Raum geboten wird, und nicht eigene Vorstellungen auf diese Bewegungen übertragen werden. Dies ist unabdingbar, um rekolonialisierende Tendenzen in anarchistischen Bewegungen zu verhindern.

Während eigene Vorstellungen nicht auf Bewegungen übertragen werden sollten, stellt die anarchistische Entkolonialisierung dennoch „anarchistische Werte“ in einen Fokus, die das Erbe der Zivilisation in Frage stellen. Diejenigen, die marginalisiert und rassifiziert sind, sind nicht unbedingt frei von der Gefahr der Kolonialität. Der techno-industrielle Fortschritt ist die Kunst, die Wünsche der Unterworfenen zu erobern. Die Souveränität kolonisierter Völker zu unterstützen, bedeutet nicht, dass du jede Person, jedes Projekt und jede Bewegung unterstützen solltest. Es gibt viele Indigene, Schwarze und rassifizierte Menschen, die die Werte der Kolonialisierung verinnerlicht haben, und du tust dir keinen Gefallen, wenn du ihnen hilfst, an die Macht zu kommen. Kämpfe für befreiende Ideen, nicht für Nationen oder Blutlinien.

In einem anarchistischen antikolonialen Kampf kann die anarchistische Entkolonialisierung ihren wahren Geist zeigen und für die vollständige Befreiung von Menschen und Nicht-Menschen kämpfen. Dabei schöpft die anarchistische Entkolonialisierung aus verschiedenen anarchistischen Tendenzen. In Anlehnung an die aufständische Tendenz wird der (neo-)koloniale Staat als Besatzungsmacht identifiziert, welche einen permanenten Krieg mit niedriger und hoher Intensität führt, um natürliche Ressourcen zu kontrollieren und Menschen zu domestizieren. Die feministische und queere Tendenz liefert notwendige Positionen, um die Konstrukte des Patriarchats, der Geschlechterbinarität und der Heteronormativität zu identifizieren und zu zerstören. Besonders relevant für den antikolonialen Kampf ist schließlich die grüne Tendenz, bei welchem ökologische Themen, Verteidigung von Land und die Befreiung von Mensch und Tier in einen weiteren Mittelpunkt gestellt werden.

Die antizivilisatorische Tendenz ist dabei die radikalste grüne Tendenz, welche die Mechanismen der Herrschaft und der Unterdrückung innerhalb des zivilisatorischen Konstrukts erkennt, die erst zum Kolonialismus geführt hat. Der weltenverschlingende Leviathan wird bekämpft, der menschliche und nicht-menschliche Ressourcen ausbeutet und in seine kybernetische Infrastruktur und seine Kapitalkreisläufe umlenkt. Indem die sich überschneidenden Herrschaftsprozesse, die sich in verschiedene Formen manifestieren, erkannt und abgelehnt werden, bietet dies eine für den antikolonialen Kampf wertvolle Perspektive, um Kolonialismus und Rekolonialisierung unmöglich zu machen.

Die anarchistische Entkolonialisierung ist vor allem fließend sowie wild und spontan wie die Anarchie selbst. Sie lässt sich nicht in einem Konzept erfassen und wird sich der noch immer weiter voranschreitenden Kolonialisierung anpassen müssen.

Die technologische Komponente des Kolonialismus

Viele Gefährt*innen können die technologische Komponente des Kolonialismus nicht erfassen (oder aber ignorieren sie absichtlich) und bleiben perplex gegenüber einer Perspektive, die auf der Notwendigkeit basiert, die Techno-Herrschaft und die Tech-Industrie vollständig zu zerstören. Sprichst du sie auf die Verbindung von Technologien mit der Macht an, wird mit einer angeblichen Neutralität dieser reagiert und dass diese von der Logik der Macht, die diese entwickelt und produziert haben, entkoppelt werden können.

Eine solche Haltung ignoriert, dass das gesamte Gerüst an Basistechnologien, das heute in allen Bereichen des sozialen Lebens angewandt wird, aus der militärischen Forschung stammt, und dass der Kolonialismus, sowohl historisch als auch gegenwärtig, eine starke technologische Komponente hat und diese ein Eckpfeiler des Kolonialismus ist. Der Prozess der Kolonialisierung entwickelte sich über Jahrhunderte hinweg, wobei stets neue Technologien hinzukamen, sobald diese entwickelt wurden. Diese Technologien basieren nicht nur auf der Ausbeutung von Menschen des Globalen Südens und ihrer Lebensräume, sondern wurden und werden stets gegen den „Feind“ eingesetzt oder in den Kolonien getestet, bis sie schließlich im Imperium Einzug finden.

Mithilfe der britischen Kolonien ermöglichten Unterseekabel die telegrafische Kommunikation im Dienste des britischen Imperiums. Neue Entwicklungen in der Aufzeichnung, Archivierung und Organisation von Informationen wurden vom US-Nachrichtenmilitärdienst genutzt, die zuerst bei der Eroberung der Philippinen eingesetzt wurden. Gegenwärtig arbeiten Regierungen mit Tech-Giganten zusammen, um eine flächendeckende Überwachung und Kontrolle der eigenen Bevölkerung zu ermöglichen, wobei diese im Globalen Süden zuerst getestet werden. Microsoft bietet eine Lösung für Polizeifahrzeuge mit Gesichtserkennungskameras, die in Kapstadt und Durban, Südafrika, eingeführt wurden. Die Command-and-Control-Überwachungsplattform namens „Microsoft Aware“ kommt bei der Polizei in Brasilien und Singapur zum Einsatz. Microsoft ist auch stark in der Gefängnisindustrie engagiert. Sie bieten eine Vielzahl von Software-Lösungen für den Strafvollzug an, die den gesamten Prozess abdecken. In Afrika haben sie sich mit einer Firma namens Netopia Solutions zusammengetan, die eine Prison-Management-Software-Plattform anbieten, die „Fluchtmanagement“ und Gefangenenanalysen beinhaltet. Länder des Globalen Südens bieten auch weiterhin eine Fülle von billigen Arbeitskräften für technologische Prozesse und Tech-Giganten. Dazu gehören Datenannotation für Datensätze der Künstlichen Intelligenz, Call-Center-Arbeiter*innen und Content-Moderator*innen für Social-Media-Giganten wie Facebook, welche Social-Media-Feeds von verstörenden Inhalten säubern, was sie oft psychisch beschädigt zurücklässt.

Über Jahrhunderte hinweg testeten imperiale Mächte Technologien zur Überwachung und Kontrolle der eigenen Bevölkerung zuerst an fremden Bevölkerungen, von Sir Francis Galtons Pionierarbeit an Fingerabdrücken, die in Indien und Südafrika angewandt wurden, bis hin zu Amerikas Kombination aus Biometrie und Innovationen in der Verwaltung von Statistiken und Datenmanagement, die den ersten modernen Überwachungsapparat zur Pazifizierung der Philippinen bildeten. Die Sammlung von Überwachungstechnologien, die auf den Philippinen zum Einsatz kamen, boten ein Testgelände für ein Modell, das schließlich in die Vereinigten Staaten zurückgebracht wurde, um es gegen Dissident*innen im eigenen Land einzusetzen. Die Hightech-Überwachungsprojekte von Microsoft und seinen Partnern legen nahe, dass Afrika weiterhin als Labor für karzerale Experimente dient.

Die technologische Komponente des Kolonialismus zeigt sich auch in der Art und Weise, wie Menschen im Globalen Süden für niedere und gefährliche Arbeiten ausgebeutet werden und dabei ihre Lebensräume zerstört werden, nur um angeblich notwendige Technologien zu liefern. So liefert Kongo mehr als 70% des weltweiten Kobalts, ein wichtiger Rohstoff für Batterien, die in Autos, Computer und Smartphones verwendet werden. Was Lithium betrifft, so befinden sich die größten Reserven in Chile, Argentinien, Bolivien und Australien, wobei Australien weniger attraktiv ist, da die Arbeiter*innen dort deutlich höhere Löhne erhalten. Der Prozess des Abbaus dieser Rohstoffe selbst hat oft negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Arbeiter*innen und die sie umgebenden Lebensräume.

Um den Kolonialismus auszumerzen, müssen die Ursachen, Hauptakteure und Auswirkungen klar und deutlich aufgezeigt und in Verbindung gebracht werden. Es sollte keine wirre Vorstellung sein, dass ein antikolonialer Kampf sich unweigerlich gegen die Tech-Industrie richten muss, wenn die Entkolonialisierung ihrem Namen gerecht werden will.

Eine postkoloniale Zukunft?

Die Unzulänglichkeit sich eine postkoloniale Zukunft vorzustellen, zeigen sich in den völlig bizarren Gedankenexperimenten so mancher Personen, die von sich behaupten Anarchist*innen zu sein, dabei aber zutiefst koloniale Weltanschauungen vertreten. Das abscheulichste Konzept ist dabei der „Luxuriöse Weltraumkommunismus“, dessen treffendere Bezeichnung Weltraumkolonialismus ist.

Fantasien wie diese offenbaren eine maßlose Naivität in Befreiungsbewegungen. Wenn festgestellt wird, dass all die Dinge doch nicht einfach so vom Himmel fallen werden, wird der Globale Süden weiter ausgebeutet, bis die Ressourcen erschöpft sind und die Erde verbrannt ist. Aber das soll uns nicht weiter stören, denn hinterher verfügen wir über die benötigten Materialien, um auch den Weltraum zu kolonisieren. „Radikale“ werden sich an die Ausbeutung und Unterdrückung klammern, wenn sie herausfinden, dass ihr Gesellschaftsideal keinen kolonialen Luxus und keine durch ausbeuterische Arbeitspraktiken gestützten Systeme vorsieht. Das gewohnte Leben in der Wärme der vier heimischen Mauern ist am Ende dann doch das gemächlichste und sicherste aller Gefängnisse.

Anarchist*innen müssen sich der Frage stellen, was sie bereit sind „aufzugeben“, wenn ihr Ziel eine tatsächliche antikoloniale Anarchie ist, befreit von jeder Hierarchie, jeder Ausbeutung und jeder Unterdrückung. Bist du nicht bereit, auf so manche Vorzüge, die die Tech-Industrie hervorgebracht hat, zu verzichten, stelle dir die Frage ob Anarchie wirklich das Richtige für dich ist. Dein geliebter Gaming-PC mit 16GB RAM und der neuesten NVIDIA GEFORCE ist wahrscheinlich ein solches Produkt, welches in einer postkolonialen Zukunft nicht länger existieren könnte, außer du findest auf magische Weise einen Weg einer nicht-ausbeuterischen Herstellung und Produktion. Bis dahin wirst du aber entweder andere Menschen ausbeuten müssen, um an die benötigten Rohstoffe zu kommen, oder aber du gefährdest deine eigene Gesundheit um diese zu gewinnen. Dies natürlich auch noch vorausgesetzt, dass die dazu benötigte Maschinerie zur Gewinnung, Produktion und Herstellung plötzlich nicht länger zur Zerstörung der Umwelt und der Lebensräume der Menschen und Nicht-Menschen um dich herum beiträgt.


Werkzeuge des Anarchismus Teil 3: Über Dezivilisierung (und eine Neubewertung der Welt)

Elany

Seit den Anfängen des Anarchismus als Bewegung und Philosophie haben Anarchist*innen ihre antiautoritäre Analyse stetig erweitert. Anfangs standen Antistaatlichkeit und Antikapitalismus nicht nur im Fokus, sondern waren die einzigen Eckpfeiler des Anarchismus. Frustriert von den männlichen Anarchisten, die der Überzeugung waren, dass die Befreiung der Frau bis „nach der Revolution“ warten könne, erweiterten Frauen die anarchistische Autoritätskritik um das Patriarchat. Einige Jahrzehnte später erweiterten wiederum Queers die feministische Analyse.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die anarchistische Analyse um eine Kritik von Technologie und Zivilisation erweitert. Schließlich verfolge der Anarchismus das Ziel jede Autorität zu zerstören. Doch die antizivilisatorische Analyse, welche sich eine Dezivilisierung als Ziel gesetzt hat, wurde von den meisten anarchistischen Kreisen bisher nicht gut aufgenommen. Stattdessen existieren tiefe Missverständnisse und Fehleinschätzungen bis hin zu absichtlichen bösartigen Diffamierungen. Um diese Missverständnisse (hoffentlich) aus dem Weg zu räumen, gehe ich in diesem Artikel auf die häufigsten Kritiken ein, erkläre was mit dem Begriff Zivilisation gemeint ist (etwas, was die meisten ebenfalls missverstehen) und zeige auf, warum die Dezivilisierung das vielleicht mächtigste Werkzeug für die Schwarze und Indigene Befreiung ist — und auch aller Menschen, aller Tiere und der Erde.

Vom freien, wilden Leben zur zivilisierten Gesellschaft

Uns wird beigebracht zu glauben, dass unser moderner Lebensstil, der von Wettbewerb, Ungleichheit und Unterdrückung geprägt ist, eine Verbesserung gegenüber der Vergangenheit ist. Aber wenn man sich die Fakten der Menschheitsgeschichte ansieht, könnte dieser Irrglauben nicht falscher sein. Stattdessen können wir Dinge aus unserer egalitären Vergangenheit lernen, um zu schauen wie wir die Anarchie in unserer Welt wieder aufleben lassen können.

Eine alte afrikanische Fabel lehrt uns folgendes:

Eine Gruppe von Nomad*innen trifft auf einen Baum voller reifer Früchte und feiert ein Festmahl. Am Morgen, als sie aufbrechen wollen, packt ein junger Mann ein Paket mit den Früchten zusammen, um sie mit auf die Reise zu nehmen, damit sie noch etwas zu essen haben. Eine ältere Person der Gruppe hält ihn auf: „Wir haben nicht viele Regeln, aber die wichtigste ist: Wir danken, wir genießen, aber wir nehmen nicht mit.“ Der junge Mann fragt: „Aber warum nicht?“ Der Ältere antwortet: „Weil die Welt reichlich ist und uns versorgen wird. Aber wenn wir mehr nehmen, als wir brauchen, ist das der Anfang vom Ende unseres sorgenfreien Lebens und führt die ganze Welt in die Katastrophe.“

Vorzivilisierte Lebensweisen in Afrika verstanden die genaue Art ihrer Beziehungen und Auswirkungen auf die individuelle Lebensqualität sowie auf unser kollektives Schicksal so präzise und tiefgreifend wie ähnliche nomadische Lebensweisen auf der ganzen Welt. Diese Gruppen haben es geschafft, viele hunderttausend Jahre lang ein friedliches, egalitäres Leben frei von jeder Autorität und Unterdrückung zu führen, bevor das Hirtenwesen und die Sesshaftigkeit und schließlich die Zivilisation einsetzten. Unsere Vorfahr*innen fanden einen Weg mindestens 500.000 Jahre — wahrscheinlich waren es sogar zwei Millionen Jahre — nachhaltig im Einklang mit der Natur zu leben. Dies änderte sich mit dem Aufkommen der Landwirtschaft und der Zivilisation vor etwa 10.000 Jahren.

In der nomadischen Lebensweise ist kein Platz für die Anhäufung von Eigentum und daher gibt es auch keine großen Unterschiede bei den materiellen Besitztümern. Nomad*innen besitzen in der Regel nur das, was sie tragen können. Der Anthropologe Marshall Sahlins prägte den Begriff „Ursprünglicher Wohlstand“, um den Lebensstil von Sammler*innen und Jäger*innen zu beschreiben. Dieses Konzept von Wohlstand bedeutet, „genug von allem zu haben, was zur Befriedigung der Bedürfnisse nötig ist, und viel freie Zeit, um das Leben zu genießen.“ Jäger*innen und Sammler*innen erreichen Wohlstand, indem sie wenig wollen und nicht viel produzieren, also frei von Gier sind. Nomad*innen leben in Gruppen, in denen es so gut wie keinen materiellen Reichtum gibt, dafür aber echten Reichtum: viel freie Zeit um das Leben in vollen Zügen zu genießen. Das allgemein hohe Maß an Zufriedenheit, Glück und Liebe zu Kunst, Musik, Tanz und sozialen Spielen bei vielen Urvölkern wie den Waldmenschen in Zentralafrika, den Aborigines in Australien und verschiedenen Indigenen Völkern Amerikas ist gut dokumentiert.

Auch heute noch hat diese ursprüngliche Lebensweise, die unsere Vorfahr*innen während des größten Teils der Zeit, die die Menschheit auf der Erde verbracht hat, genossen haben, überlebt, auch wenn sie stark zurückgegangen und fast ausgestorben ist. In Indonesien und anderen Teilen Südostasiens, in den Amazonasgebieten Südamerikas und verstreut in ganz Afrika gibt es noch voll funktionsfähige nomadische Mikrokulturen, die ähnlich oder sogar vollständig wie der „ursprüngliche Wohlstand“ leben. Obwohl es Unterschiede zwischen diesen verbleibenden Gruppen gibt, haben sie viele Gemeinsamkeiten. Am besten dokumentiert für heutige Jäger*innen und Sammler*innen sind die Hadza in Tansania, Ostafrika, und das Volk der Dobe Ju/’hoansi im südlichen Afrika, das in und um die Kalahari-Wüste lebt.

Eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Merkmale von Jäger*innen und Sammler*innen:

– Die Arbeit (weitestgehend die Beschaffung von Nahrung) beträgt weniger als die Hälfte der Zeit, die zivilisierte Völker in Fabriken, Büros und anderen Arbeitsplätzen verbringen. Der absolute Großteil der Nahrung wird gesammelt, während die Jagd nur einen kleinen Teil ausmacht. Arbeit und Spiel sind identisch.

– Alle haben genug zu essen und es gibt keinen Hunger — im Vergleich dazu hungert mehr als 30% der Bevölkerung in den Industriegesellschaften.

– Es gibt meist keine Vorstellung von Geschlecht. Und dort, wo es sie gibt, existiert keine soziale Schichtung.

– Es existiert keine Vorstellung von Privateigentum.

– Die Kinder werden „freizügig“ erzogen. Sie bilden sich durch ihr eigenes, selbstbestimmtes Spiel und Erkunden. Körperliche Bestrafungen sind Fehlanzeige.

– Hervorragende Gesundheit. Krankheiten sind sehr selten. Wenn eine Person krank oder behindert ist, wird diese liebevoll vom Rest der Gruppe versorgt.

– Es gibt keine Hierarchie, keine Autorität.

– Alle Menschen haben den gleichen Zugang zu Ressourcen.

– Wenn eine Person beschissenes Verhalten an den Tag legt, wird diese Person gemieden, bis sie ihr Fehlverhalten einstellt. Andernfalls kann diese Person sich dazu entscheiden sich einer anderen Gruppe anzuschließen, denn niemand (über)lebt lange allein.

Die wenigen heute noch lebenden nomadischen Gruppen wurden in den letzten 10.000 Jahren in zahllosen Wellen der Marginalisierung von den zivilisierten Völkern immer weiter in die am wenigsten ertragreichen Gebiete, an den Rand ihrer früheren Lebensräume, gedrängt.

Es gibt eine Vielzahl von Berichten über den anfänglichen Übergang von nomadischen zu sesshaften Stämmen. Das Volk der San im südlichen Afrika zum Beispiel (zu dem auch die Dobe Ju/’hoansi gehören) lebte Hunderttausende von Jahren friedlich und nachhaltig, bevor die Bantu-Stämme aus dem Norden kamen. Die Bantus brachten Ackerbaumethoden und Technologien mit, sorgten für Nahrungsmittelüberschüsse und einen starken Bevölkerungsanstieg, woraufhin massive und blutige Kriege zwischen den Stämmen begannen.

Es gibt auch zahlreiche Beispiele dafür, dass die Ungleichheit und das Ausmaß der Gewalt nach dem Aufkommen der Landwirtschaft immer weiter zunahmen. Der isolierte Enga-Stamm in Papua-Neuguinea lebte traditionell von Taro, Yamsknollen, halbdomestizierten Schweinen und etwas Waldwild. Doch die Einführung der Süßkartoffel, einer schnell und einfach wachsenden Pflanze aus Südamerika, führte zu einem starken Anstieg des Nahrungsmittelüberschusses. Die Überschüsse wurden an die Schweine verfüttert, deren Population sich vervielfachte und die als Zahlungsmittel im Handel eingesetzt wurden. So entstand eine neue politische Klasse, die keine eigentliche Arbeit verrichtete, sondern den Handel zu ihrem eigenen Vorteil kontrollierte und manipulierte und im Vergleich zu den armen Bäuer*innen sehr reich wurde. Damit verschwand jede Spur von Gleichberechtigung, und die Kriege wurden immer größer und häufiger.

So tauschte die Menschheit Qualität gegen Quantität und gab Freiheit und Autonomie für harte Arbeit und Sicherheit auf. Auch in vielerlei anderer Hinsicht verschlechterte sich das Leben, zB durch die Reduzierung unserer Ernährung von tausenden verschiedenen Pflanzen auf einige wenige Getreidesorten, was zum Auftreten vieler neuer, moderner Krankheiten führte. Mit dem fortlaufenden Getreideanbau und -verzehr entstanden letztlich die uns heute bekannten Zivilisationskrankheiten: Krebs, Diabetes, Übergewicht, Herzerkrankungen, kaputte Darmgesundheit und viele mehr.

Die Landwirtschaft brachte so viele Übel über das menschliche Leben, dass der Wissenschaftler Jarred Diamond sie als den schlimmsten Fehler in der Geschichte der Menschheit bezeichnete, in dem er schreibt:

„Neben Unterernährung, Hunger und epidemischen Krankheiten hat die Landwirtschaft noch einen weiteren Fluch über die Menschheit gebracht: tiefe Klassenspaltungen. Mit dem Aufkommen der Landwirtschaft ging es der Elite besser, aber den meisten Menschen ging es schlechter. … Die Landwirtschaft konnte viel mehr Menschen ernähren als die Jagd, wenn auch mit einer schlechteren Lebensqualität. Gruppen, die Ackerbau betrieben, überzüchteten sich und vertrieben oder töteten dann die Gruppen, die sich entschieden, Jäger*innen und Sammler*innen zu bleiben. Es ist nicht so, dass die Jäger*innen und Sammler*innen ihre Lebensweise aufgegeben haben, sondern dass diejenigen, die vernünftig genug waren, sie nicht aufzugeben, aus allen Gebieten vertrieben wurden, außer aus denen, die die Bäuer*innen nicht wollten.“

Mit dem neuen Lebensstil kam auch eine neue Arbeitsteilung. Die Bäuer*innen arbeiteten viel mehr als früher, um alle zu ernähren, und andere konzentrierten sich nun auf Dinge wie die Herstellung von Waffen und Technologien. Die Anhäufung von mehr Besitz brachte den Reichen mehr Verhandlungsmacht und führte zu einem exponentiellen Anstieg des Reichtums, was bedeutete, dass die obere Schicht die Arbeit der unteren Schicht zunehmend für ihren eigenen Profit ausbeuten konnte. Der Übergang brachte auch das Aufkommen einer zentralisierten Macht mit sich. Die soziale Ungleichheit nahm stetig zu, während die Gesellschaften immer größer und komplexer wurden. Der technische Fortschritt ermöglichte eine noch drastischere Ungleichverteilung des Wohlstands.

Wenn die Geschichte der Menschheit um null Uhr begonnen hätte, dann wären wir jetzt fast am Ende unseres ersten Tages angelangt. Wir haben fast den ganzen Tag als Jäger*innen und Sammler*innen gelebt, von Mitternacht bis zum Morgengrauen, Mittag und Sonnenuntergang. Schließlich, um 23:54 Uhr, gingen wir zum Ackerbau über. Die Jäger*innen und Sammler*innen praktizierten den erfolgreichsten und langlebigsten Lebensstil der Menschheitsgeschichte. Im Gegensatz dazu kämpfen wir seit etwa 10.000 Jahren immer noch mit dem Chaos, in das uns die Landwirtschaft und die Zivilisation gestürzt hat, und es ist unklar, ob wir es lösen können.

Es ist an der Zeit, die uralte Geschichte der Anarchie vor der systematischen Auslöschung zu bewahren, denn sie könnte der Schlüssel zu unserer gemeinsamen Zukunft sein.

Das Konstrukt namens Zivilisation

Über das Wort Zivilisation herrscht eine Menge Unklarheit (dabei reicht als Anfang bereits eine kleine Recherche in Wikipedia, die mit den meisten Unklarheiten aufräumt). Menschen, die in Gruppen/Gemeinschaften/Gesellschaften zusammenleben, sind nicht zwangsläufig eine Zivilisation. Menschen, die zB als Hirt*innen zusammenleben und nicht als Jäger*innen und Sammler*innen, sind ebenfalls nicht zwangsläufig eine Zivilisation. Eine Zivilisation hat eindeutige Eigenschaften.

Als Zivilisation wird eine komplexe Gesellschaft bezeichnet, bei der die sozialen und materiellen Lebensbedingungen durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt ermöglicht und von Politik und Wirtschaft geschaffen werden. Mit einer Zivilisation kommt es schließlich somit immer zur Bildung von Regierungen, Staaten und Grenzen und durch die neu entstandene Hierarchie entstehen soziale Schichtung, Arbeitsteilung und Ungleichheiten. Eine Zivilisation besitzt allgemeinhin eine Ideologie, die Fortschrittsglaube beinhaltet sowie die Überzeugung, dass bestimmte Gruppen anderen überlegen sind.

Mit der Zivilisation brachen die schlimmsten Übel über uns ein: Imperien, Expansionismus, Kolonialismus, Kapitalakkumulation, Polizei & Militär, Gefängnisse, die Geschlechterbinarität und damit Heteronormativität und Patriarchat, Kriege um Ressourcen und Land, die Entstehung von Klassen, Faschismus, Technokratie,…

Kurz gefasst: Eine Zivilisation zentralisiert Macht auf wenige Menschen, um schließlich die Kontrolle über andere Menschen sowie die Natur auszuweiten. Es ist das absolute Gegenstück der Anarchie. Hör auf, das zivilisatorische Konstrukt zu verteidigen, indem du es falsch definierst. Die Zivilisation steht dem guten Leben für alle im Weg und ist nichts anderes als das größte Gefängnis der Welt.

Wenn wir die aktuellen Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt unterstützen, sollten wir uns daran erinnern, dass wirklich gleichberechtigte und gerechte antiautoritäre Lebensweisen nicht nur möglich sind, sondern auf dem afrikanischen und anderen Kontinenten schon viel länger existieren als das jüngste Phänomen von Tyrannei und Unterdrückung.

In Richtung einer Dezivilisierung der Welt

Ich plädiere nicht dafür, dass wir zu dem zurückkehren, was von den Wäldern übrig geblieben ist und wir wieder zum Sammeln und Jagen übergehen, auch wenn so viel dafür spricht. Wenn wir die vielen dringenden Probleme lösen wollen, mit denen wir heute konfrontiert sind, bedarf es einer Neubewertung der Welt. Vorzivilisierte und unziviliserte Völker liefern uns lehrreiche Lektionen, die nicht nur nützlich sind, sondern uns vor einer Katastrophe, in der die Menschheit aufhört zu existieren, bewahren können.

Um die Freiheit wiederzuerlangen, die uns geraubt wurde, muss die Welt, bzw das was von ihr noch übrig ist, dezivilisiert werden. Wir müssen alles in Stücke reißen, was die Zivilisation hervorgebracht hat und auf den Trümmern dieser alten kaputten Welt eine neue aufbauen, die wieder für alle Menschen und Nicht-Menschen bewohnbar ist. Diese anvisierte Zukunft wäre nicht „primitiv“ (sie kann es aber sein), aber sie würde definitiv vieles von dem beinhalten, was uns primitive Völker lehren. Im Prozess der Dezivilisierung, der notwendigerweise unzählige Generationen andauern würde, werden wir uns unweigerlich der Frage stellen müssen, ob und was wir aus dem Wrack der Zivilisation retten können. Und wenn etwas aus diesem Wrack gerettet wird: wie verhindern wir ein erneutes Aufleben der Tyrannei? Wie bewahren wir die Anarchie?

Eine dezivilisierte Zukunft wäre vor allem eins: eine ungewisse Zukunft ohne genauen Fahrplan. Sie wäre wild und spontan wie die Anarchie selbst. Doch wenn wir als Menschheit überleben wollen, ist die Dezivilisierung der einzige Weg. Eins ist zumindest sicher: Es wäre ein wirklicher radikaler Wandel. Eine Radikalität, die ihrem Namen auch gerecht wird. Ein Neuanfang, bei welchem alle Eckpfeiler der Autorität niedergerissen und niedergebrannt werden, um etwas völlig Neues und Befreiendes zu erschaffen – ganz im Gegensatz zu den verzweifelten Bestrebungen anderer Anarchist*innen die Zivilisation zu reformieren, während 90% des Lebens vom Wandel unberührt bleibt. Wo die Autorität nicht vollständig zerschlagen wird, werden sich Herrschaft und Unterdrückung immer wieder aufs Neue manifestieren.

Vorurteile über antizivilisatorisches Denken

Abschließend erscheint es mir sinnvoll noch kurz auf gängige Kritiken und Vorurteile einzugehen, dem antizivilisatorisches Denken häufig ausgesetzt ist, um Missverständnisse, Fehleinschätzungen und Diffamierungen aus dem Weg zu räumen.

„Antizivilisatorisches Denken ist Primitivismus“

Nö. Primal Anarchist*innen sind gegen die Zivilisation, aber nicht alle antizivilisatorischen Anarchist*innen sind Primal Anarchist*innen — genau genommen sind es wahrscheinlich sogar nur die wenigsten. Und selbst unter Primal Anarchist*innen herrscht keine Übereinstimmung darüber wie eine dezivilisierte Welt denn nun aussehen solle. So schrieb die Fifth Estate einst: „Ziel ist es, eine Synthese von ursprünglicher und zeitgenössischer Anarchie zu entwickeln, eine Synthese der ökologisch ausgerichteten, nicht-staatlichen, antiautoritären Aspekte primitiver Lebensweisen mit den fortschrittlichsten Formen der anarchistischen Analyse von Machtverhältnissen. Das Ziel ist nicht, das Primitive zu replizieren oder dorthin zurückzukehren, sondern lediglich das Primitive als Inspirationsquelle zu sehen, als Beispiel für Formen der Anarchie.“

„Gegen die Zivilisation zu sein ist queer- und behindertenfeindlich“

Das ist eine besonders „interessante“ Kritik, welche vor allem die widerlichen, bösartigen Diffamierungen unterstreicht. Unter antizivilisatorischen Anarchist*innen gibt es den wohl größten Anteil an queeren und behinderten Anarchist*innen, während „traditionelle“ antiautoritäre Räume ein tatsächliches Problem mit Queer- und Behindertenfeindlichkeit haben. Da stellt sich doch schon die Frage, wie das nur zusammenpasst? Sind es queere und behinderte Menschen, die sich scheinbar einfach nur selbst hassen und auf ihre eigene Auslöschung hinaus arbeiten?

Eine Dezivilisierung würde zur Folge haben, dass die Vergeschlechtlichung wieder verschwindet. Es würde somit bedeuten, dass das Konzept Geschlecht und damit auch die Geschlechtsdysphorie aufhören würde zu existieren (bei der Körperdysphorie mag das vielleicht anders aussehen). Es ist die Zivilisation, die queer- und transfeindlich ist, weil sie das Konzept Geschlecht entworfen hat und in ihr die Geschlechterbinarität, die Heteronormativität und das Patriarchat entstanden sind.

Was Behinderungen angeht, so lässt sich auch hier festhalten, dass es die Zivilisation ist, die ableistisch ist. Nicht nur werden Menschen in der Zivilisation auf den Körper reduziert und in eine Ware transformiert, bei der nur able-bodied Personen von Bedeutung sind, weil sie als Ware die nötige Arbeitsleistung erbringen, sondern die Zivilisation ist auch direkt für die meisten Behinderungen verantwortlich. Beispiele: Opfer von Verkehrs- und Arbeitsunfällen, Contergan-Kinder, Kriegsversehrte, Behinderungen, die durch andere Erkrankungen entstehen, und nicht zu vergessen die Epidemien der mentalen Behinderungen.

Bei „Volkskrankheiten“ sieht die Lage nicht anders aus: Diabetes, Allergien, Krebs, Akne, Herzerkrankungen, Schilddrüsenerkrankungen und so viele mehr. Warum glaubst du, nennt man sie Zivilisationskrankheiten? Es sind Erkrankungen, die durch unsere Lebensweise hervorgerufen werden und die in Naturvölkern, nicht nur unter Jäger*innen und Sammler*innen, gar nicht erst vorkommen. Dazu gibt es seit mehreren Jahrzehnten unzählige Untersuchungen und Forschungen. Diese zeigen zudem auch wie schnell sich Naturvölker diese „einfangen“ können, wenn sie mit der Zivilisation in Kontakt treten. Die Lebensweise ändert sich, man kommt in Kontakt mit der giftigen Umwelt in Industriegesellschaften und die ursprüngliche Ernährung wird durch Getreide, Milchprodukte, Industrieabfälle und noch mehr Getreide ersetzt — Folge: die vorher unbekannten Zivilisationskrankheiten brechen aus.

Unzivilisierte Völker haben allgemeinhin eine hervorragende Gesundheit. Erkrankungen sind selten. Die wenigen kranken und behinderten Menschen, die es gibt, werden liebevoll behandelt und nicht zurückgelassen. Schon die Neandertaler haben sich um ihre Behinderten gekümmert. In einer dezivilisierten Welt würden also Erkrankungen und Behinderungen im Laufe der Zeit immer weiter abnehmen. Nicht, indem man diese Menschen dem Sterben aussetzt, sondern weil die direkten Ursachen bekämpft werden.

Um einen anarchistischen Gefährten mit Behinderungen zu zitieren: „Wenn sich behinderte und kranke Menschen mit den genauen Ursachen ihres Leids beschäftigen, sind die Implikationen zwangsläufig antizivilisatorisch. Die Zivilisation ist das größte Freiluftgefängnis – in welcher die Luft hochgradig vergiftet ist – der Welt, die uns erst körperlich und seelisch verstümmelt, und uns anschließend den Glauben einpflanzt, dass nur die Zivilisation unser Leid lindern kann.“

„Antizivilisatorische Anarchist*innen wollen die Bevölkerung reduzieren“

Hier haben wir es mit einer Behauptung zu tun, die auch um Diskussionen über eine sogenannte „Überbevölkerung“ entstehen. Gleich im Vorfeld muss eins festgehalten werden: wer aktiv in die Kontrolle der Bevölkerungszahl eingreifen möchte (Geburtenkontrolle, kranke Menschen zurücklassen), ist kein*e Anarchist*in. Es ist auch unerheblich, ob die Erde „überbevölkert“, „unterbevölkert“ oder „genau richtig bevölkert“ ist. Was zählt, ist das Hier und Jetzt und wie wir allen Menschen ein gutes Leben ermöglichen. Die Dezivilisierung wäre zudem ein schleichender Prozess, der über mehrere Generationen hinweg andauern würde. 10.000 Jahre der Unterdrückung lassen sich nicht von heute auf morgen rückgängig machen. Die Bevölkerungszahl würde sich in einem solchen Prozess automatisch stabilisieren, ohne irgendwelche schrecklichen Vorstellungen des aktiven Eingreifens zur Kontrolle.

Feminist*innen haben zudem auch lange argumentiert, dass Menschen, befreit von geschlechtsspezifischen Zwängen und der Familienstruktur, nicht durch ihre reproduktiven Fähigkeiten wie in patriarchalen Gesellschaften definiert würden, und dies würde somit zu einer niedrigeren Bevölkerungszahl führen. Die Bevölkerungszahl würde also wahrscheinlich sinken, und zwar unwillkürlich.

„Ohne die Zivilisation würden Menschen hungern, Seuchen brechen aus und es gäbe keine Medizin zur Heilung“

Da fragt man sich doch schon wie zB die Hadza bis heute überlebt werden. Hunger existiert in solchen Lebensweisen nicht, dafür aber im hohen Maße in der zivilisierten Welt. Natürlich kannst du entgegnen, dass 8 Milliarden Menschen nicht mit dem Sammeln und Jagen ernährt werden können und wahrscheinlich hast du Recht, selbst wenn von heute auf morgen überall dort Lebensmittelwälder entstehen, wo es vorher Einkaufszentren, Gewerbegebiete, Industriekomplexe und Straßen gab. Genau daher schlage ich auch nicht eine Rückkehr zum reinen Sammeln und Jagen vor. Vielleicht werden Wege einer Landwirtschaft gefunden, die so nachhaltig wie möglich ist, um alle Menschen zu versorgen, ohne dabei den kolossalen Ökozid weiter anzutreiben. Monokulturen sind damit definitiv raus. Indigene Kulturen liefern uns auch hier lehrreiche Lektionen.

Was Seuchen angeht, ist auch hier wieder das Gegenteil der Fall. Die Zivilisation macht erst die gravierende Ausbreitung von Seuchen möglich. Und aktuell betreten wir die Ära der Pandemien. Ich habe gewiss keine Glaskugel, doch ich kann mir kein Szenario vorstellen, in dem in einer dezivilisierten Welt so etwas wie die gegenwärtige Corona-Pandemie Millionen von Menschen töten könnte, geschweige denn, dass es eine solche Pandemie überhaupt gäbe, wenn du dessen Lebensgrundlage zerstörst. Die Vergangenheit soll mir aber Recht geben: Seuchen breiteten sich erst mit dem Aufkommen der Zivilisation regelrecht aus. Es gab zwar schon vorher Infektionskrankheiten, das will ich gar nicht erst leugnen. Aber nie in einem solchen Ausmaß, wie es in der zivilisierten Welt vorkommt.

Damit kommen wir schließlich zum Punkt von Heilung und Medizin und beginnen mit einem Fun Fact: ein wesentlicher Teil der heutigen westlichen Medizin basiert auf dem botanischen Wissen von Indigenen, welches man sich im Laufe des Kolonialismus angeeignet hat und später synthetisiert wurde. Indigene Kulturen wenden oft Methoden an, die die heutige Wissenschaft nur schwer oder gar nicht versteht. Tatsächlich verfügen Indigene Gruppen sowie unzivilisierte/vorzivilisierte Völker nicht nur über ein tiefes Wissen über die Natur, sondern auch über Erkenntnisse, die den Stadtbewohnenden verloren gegangen sind.

Der Großteil der heutigen Medizin heilt auch nicht, sondern lindert ausschließlich die Symptome. Nimm als Beispiel Medikamente für Zivilisationskrankheiten wie Schilddrüsenerkrankungen oder Diabetes, die in der Regel ein Leben lang eingenommen werden müssen, um die Erkrankung zu „managen“. In der Dezivilisierung steht Heilung selbst im Fokus. Heilung der Risse, die sich innerhalb der Individuen, zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur aufgetan haben. Die Risse, die sich durch die Zivilisation, durch die Macht, aufgetan haben. Unser heutiger medizinischer Fortschritt ist auch alles andere als unschuldig – hör auf sie zu romantisieren. Kolonialismus, Imperialismus und grauenvolle medizinische Experimente auf dem vorwiegend afrikanischen Kontinent (sowie in der Tierwelt) waren immer ein Teil dieses sogenannten Fortschritts und sind es auch bis heute noch. Meine Vorfahr*innen litten und starben dafür, dass du heute mit einer Pille deine Erkrankung managen kannst, du die erst durch die moderne Lebensweise erhalten hast.

Frage dich selbst: Will ich für das Fortbestehen dieser Welt eintreten, in der meine Kinder von den selben (und neuen) Leiden geplagt sind wie ich es bin, oder will ich diese zerstörerische Welt zerstören und erneuern, sodass zukünftige Generationen von diesem Leid erspart sind? Die beste Medizin ist am Ende nicht die Unterdrückung von Symptomen, bei welchem Prozess häufig wieder neue Symptome zum Vorschein kommen und du Pille B gegen das Symptom von Pille A nimmst, sondern die Ursache selbst zu bekämpfen, wo es nur möglich ist. Hier ist die Zivilisation immerhin ehrlich, indem sie zugibt, dass sie die schwersten Erkrankungen geschaffen hat und selbst von Zivilisationskrankheiten spricht.

Wir wurden und werden alle auf die eine oder andere Weise verstümmelt. Unsere Psyche wird geschändet und physisch werden wir durch Krankheiten und Seuchen zerstört. Indem den Zivilisationskrankheiten und den Seuchen die Lebensgrundlage entzogen wird, würde im Laufe von Generationen der Bedarf an „komplexer“ Medizin stetig sinken. Eine Welt, die Heilung in den Mittelpunkt stellt, würde energisch danach streben, Leiden zu heilen. Bei der wenigen heutigen Medizin, die womöglich auch in einer dezivilisierten Welt gebraucht werden könnte, wird man Wege der nicht-zivilisatorischen und antikolonialen Herstellung finden. Das Wissen von heute wird sich schließlich auch nicht plötzlich in Luft auflösen. [Das soll auch nicht bedeuten, dass du nun all deine Pillen entsorgen solltest, nur weil sie eine kolonialistische Geschichte hinter sich haben. Wir müssen anerkennen, dass das Leid und die Zerstörung unserer Körper, die die Zivilisation verursacht hat, sich nicht von heute auf morgen ungeschehen machen lassen wird. Es geht darum, dafür zu kämpfen, dass zukünftige Generationen von diesem Leid und dieser Zerstörung verschont werden, indem wir die direkten Ursachen bekämpfen. Manches lässt sich schneller korrigieren als anderes – eine Änderung der Lebensweise und der Ernährung, die Abschaffung der Arbeit, das Verwildern der übriggeblienenen Fleckchen Erde, können einen schnellen und dennoch nicht unerheblichen positiven Einfluss ausüben, während auf der anderen Seite manche Bedrohungen uns langfristig schaden werden, wie zum Beispiel die Gifte, die sich in Böden anreichern und uns über Jahrzehnte und Jahrhunderte begleiten werden.]

Ich hoffe, dass ich mit diesem Beitrag einen kleinen Einblick in eine Perspektive einbringen konnte, um unsere verloren gegangene Anarchie wiederherstellen zu können, und die gezeigt hat, dass es die moderne Gesellschaft ist, die rückwärtsgewandt ist und nicht die primitiven Lebensweisen. Neben dem Eurozentrismus offenbart sich auch der Moderne-Zentrismus als gravierendes Problem. So beschreibt unsere Gesellschaft endlos die Möglichkeiten, die moderne Technologien bieten, und ignoriert dabei völlig, was sie uns gleichzeitig nehmen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir mit nüchternen und objektiven Augen prüfen, was wir mit dem Aufkommen der Zivilisation gewonnen, aber vor allem verloren haben.


Eine Schwarze Kritik der Zivilisation

Samuel B.

[Der folgende Beitrag ist ein nicht fertiggestellter Entwurf, der mit dem Tod des Verfassers auch nie fertiggestellt werden kann. Manche Stellen sollten ursprünglich weiter ausgearbeitet werden.]

Warum können wir uns das Ende der Welt vorstellen, nicht aber das Ende jedweder Autorität?

Wir sind in unserem alltäglichen Leben in der Logik der Zivilisation gefangen, dass wir uns ein freies, erfülltes Leben, befreit von allen Zwängen, allen Unterdrückungen, allen Mechanismen der Kontrolle und Herrschaft, nicht mehr vorstellen können. Selbst die schärfsten Verfechter*innen des Anarchismus können sich die Anarchie nicht vorstellen. Sie unterwerfen sich der Logik des sogenannten „Fortschritts“, der nur für die Priviligiertesten wirklich fortschrittlich ist. Sie träumen nicht von einem Ende aller Ketten, denn manche Ketten sind es wert nicht zerbrochen zu werden, um moderne Annehmlichkeiten (auf Kosten anderer) weiterhin zu gewähren.

Hätte man mir noch vor einem Jahrzehnt eine Kritik der modernen Lebensweise an den Kopf geworfen, so hätte ich sofort völlig aufgebracht reagiert. Bist du noch ganz zu retten? Was ist die Alternative? Sollen wir uns zurück in die Höhlen verkriechen? Ich hätte mit Sicherheit so reagiert, wie es fast alle Menschen heute tun würden. Wie sollte es auch anders sein. Ich hatte einen zermürbenden, aber recht gut bezahlten Job in der Tech-Industrie. Mein Arbeitgeber hat mir ein Auto zur freien Nutzung zur Verfügung gestellt, alljährlich wurde das Smartphone durch ein neues Modell ersetzt, meiner Familie ging es gut. Wir mögen uns zwar nicht alles hätten leisten können, was wir unbedingt brauchten (was uns die Werbung glauben machen wollte, dass wir es brauchen), aber wir mussten uns bis dahin nie Sorgen darüber machen ob die nächste Rate fürs Haus abbezahlt ist und genug Essen auf dem Tisch steht. Das alles aufgeben?

Das Leben war sicher nicht perfekt, schon gar nicht wenn du als eine Schwarze Familie in einem weißen Umfeld lebst und arbeitest. Doch in meinem beschränkten Horizont sah ich nur das Gute im Leben, die Annehmlichkeiten der Moderne. Ein Leben ohne diese zeitgenössische Zivilisation? Das bedeutete für mich ein Ende des Fortschritts. Eine Welt, in der nur die Stärksten überleben werden, während die Kranken und Schwachen dem Sterben ausgesetzt werden. Leid und Tod. Das Ende. In meiner Naivität und Indoktrination durch die Schule, die Werbung und alles um mich herum, verband ich diese Zivilisation mit dem Glück auf Erden. Ich hatte kein Gefühl dafür, was diese Zivilisation wirklich ausmacht. Fortwährende Unterdrückung der Armen durch die Reichen, Versklavung und Kolonialismus, ein fortgesetzter digitaler und technologischer Kolonialismus, eine rasant zunehmende Zerstörung und Plünderung von Mutter Erde und die Ausbeutung von Arbeitskräften für unseren Fortschritt, Kriege um Ressourcen, um Macht, um Glauben, die Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung um jeden Preis für die Machterhaltung einiger weniger priviligierter Menschen an der Spitze der hierarchischen Kette.

Das alles und noch viel mehr ist die wahre Natur der Zivilisation. Das ist die Geschichte der letzten paar Tausend Jahre, ein winziger Tropfen auf dem heißen Stein der Menschheitsgeschichte. Es brauchte erst einen eigenen Schicksalsschlag, dass ich meine Augen für die Kehrseite der Moderne öffnete. Eine Seite, die für alle sichtbar sein sollte, doch wir blenden sie aus, weil diese Moderne uns mit ihren Wunderwerken und Vorzügen blendet und Befriedigung verschafft.

Es war vor knapp 9 Jahren, dass sich mein gesamtes Leben auf dem Kopf stellen sollte. Durch meine Arbeit geriet ich täglich in Kontakt mit giftigen und gefährlichen Stoffen, die die Industrie und ihre hergestellten Geräte befeuern. Mir war immer bewusst welcher Gefahr ich mich aussetze, doch irgendjemand muss diesen Job doch tun, oder etwa nicht? Dann ereilte mich das schreckliche Schicksal: in einer Mischung aus Missgeschick und Versagen der Technik verlor ich mein Augenlicht und meine linke Hand. Tausende von Fragen schossen sich mir durch den Kopf. Wie versorge ich meine Familie? Was passiert mit dem Haus? Wie weit ändert sich mein Leben? Wenig später setzten die Ärzte noch eins drauf und stellten mir die Diagnose Krebs. Fünf Jahre Überlebensrate. Spätestens dann soll mich das moderne Leben einholen.

Es war zu diesem Zeitpunkt, dass ich mich, zunächst unfreiwillig, dem Anarchismus zuwandte. Trotz meiner Vernarrtheit in die Wunder der Technik war der neue Screenreader für mich befremdlich. Ich habe immer den Komfort genossen, den mir das Smartphone, der PC oder die Waschmaschine geboten haben, doch der Gedanke, dass von nun eine Maschine über einen Teil meines Lebens merklich bestimmen sollte, entfremdete mich. Mir war es weiterhin möglich zu lesen, doch es war nicht ich, der gelesen hat. Meine plötzliche Erkrankung hat die Familienbande gestärkt und meine Tochter las mir jeden Tag aus ihrer kleinen Bibliothek vor. Es war weiterhin nicht ich, der da las, aber es war keine Maschine. Die Bücher, die sie mir vorlas, waren allesamt Dinge, die ich niemals selbst in die Hand genommen hätte: anarchistische Werke. Anarchie… Das ist doch diese rebellische Phase von jungen Menschen, die sie schon ablegen werden, sobald sie erwachsen sind und das richtige Leben beginnt. Ich bedauere zutiefst, dass ich meiner Tochter nicht schon viel früher zugehört habe, denn je mehr ich zuhörte, desto empfänglicher wurde ich für diese „rebellische Gedankenwelt“. Ich begann eins und eins zusammenzuzählen und die Zusammenhänge in dieser Welt zu erkennen. Warum haben manche Menschen volle Teller, während andere hungern? Warum stirbt die Erde um uns herum, obwohl wir immer fortschrittlicher werden? Woher kommt all das Leid auf diesem Planeten? Es ist leicht, alles Schlechte auf dieser Welt dem Kapitalismus in die Schuhe zu schieben, doch das wäre das, was allgemeinhin als verkürzte Kapitalismuskritik bekannt ist. Das Leid existiert nicht erst seit einigen hundert Jahren. Der Kapitalismus beschleunigt diese Prozesse nur in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Die Industrie ist heute der stärkste Treiber des Leids und es wird auch nichts daran ändern ob die Industrie in kapitalistischer oder anderer Hand ist. Mein Schicksalsschlag hatte auch etwas Positives. Nicht nur habe ich eine noch viel tiefere Bindung zu meiner Familie aufgebaut, sondern auch zur Erde. Ich erkenne das Leid auf dieser Welt, für den auch ich für meinen persönlichen Komfort mitverantwortlich bin. Ich mag blind sein, doch ich sehe nun klarer als nie zuvor.

Mein Verständnis für die wahre Natur von Industrie und Zivilisation kam nicht sofort. Es beginnt, wie bei allen Anarchist*innen, mit einer Erkenntnis über Staat und Kapital. Doch hier hören die meisten Anarchist*innen dann auch wieder auf. Die Kritik und Ablehnung der Autorität wird teilweise noch auf andere Bereiche wie etwa das Patriarchat erweitert, doch die Industrie, oder vor allem die zugrundeliegende Autorität der Autoritäten, die Zivilisation, bleiben weitestgehend von der anarchistischen Analyse unberührt. Ich denke ein wesentlicher Teil kommt daher, dass der Begriff Zivilisation nicht verstanden und fälschlicherweise als gesellschaftliches Miteinander beschrieben wird. Wenn es das ist, gibt es folgerichtig in der gesamten Menschheitsgeschichte nur die Zivilisation, denn die Menschen haben immer miteinander gelebt. Dennoch wird die Zivilisation auf ein bestimmtes Ergebnis datiert: mit dem Beginn der neolithischen Revolution. Erst vor 10-12.000 Jahren fingen die Menschen an Zivilisationen zu errichten und ihre „unzivilisierte“ Lebensweise nach und nach abzulegen.

Die Zivilisation war und ist kein starres Ereignis in der Geschichte. Sie hat sich fortwährend entwickelt und das tut sie auch heute noch. Von der Verstädterung zu Regierungen, Staaten, Grenzen, soziale Schichtung, Kolonialismus, Expansionismus, Heteronormativität, Patriarchat, Polizei, Militär, Überwachung, Kontrolle, Genozid und Ökozid,…. all das sind wesentliche Merkmale, die durch die Zivilisation hervorgegangen sind. Eine Zivilisation ist nicht durch gesellschaftliches Miteinander geprägt, sondern dadurch, dass Macht auf wenige Menschen zentralisiert wird. Warum wird also die Autorität der Zivilisation von den meisten Anarchist*innen, die angeblich gegen jede Autorität sind, nicht erkannt und abgelehnt?

Damit kommen wir wohl zum wesentlichen Punkt. Die meisten Anarchist*innen können sich keine Anarchie vorstellen. Sie können sich kein Leben vorstellen, in welchem sie einen wesentlichen Teil ihrer Luxusgüter aufgeben müssten. Ich sage bewusst Luxusgüter, denn es sind Dinge, die nicht für ein gutes und erfülltes Leben gebraucht werden, sondern erwünscht sind. Damit möchte ich nicht sagen, dass diese Produkte belanglos sind, nur weil sie nicht notwendig sind. Mir geht es im Speziellen um zwei Punkte:

1. Wie werden diese Produkte hergestellt? Was sind die direkten Auswirkungen für Umwelt und Mensch?

2. Welche Autorität wohnt diesen Produkten selbst inne?

Viele Produkte, vor allem technologische Errungenschaften, basieren auf Ausbeutung. Für den Prozess der Herstellung muss nicht nur die Erde ausgebeutet werden (wobei sie ihrer endlichen Ressourcen beraubt wird und der Prozess häufig mit einer massiven Zerstörung der Umwelt einhergeht), sondern auch der Mensch muss ausgebeutet werden (weitestgehend die Menschen im globalen Süden, wo die wichtigsten und meisten Ressourcen zu finden sind). Es ist häufig eine gefährliche Arbeit, die niemand freiwillig leisten würde. Wenn der Mensch nicht mehr zur Arbeit genötigt wird um zu überleben, würden so manche (viele) Tätigkeiten aufhören zu existieren. Wenn du ein bestimmtes Luxusgut forderst, wirst du selbst in die Mine kriechen müssen um die benötigten Materialien zusammenzusammeln und -setzen. Erwarte nicht, dass andere ihr Leben und ihre Gesundheit für deinen Komfort riskieren. Es ist bezeichnend für das Ausmaß der vorherrschenden Naivität, dass wir uns nicht vorstellen können, dass ein Lebensmittelwald uns ernähren kann, aber viele immer noch glauben, dass sich jede erdenkliche Technologie auf magische Weise selbst produziert und vom Himmel regnen wird.

Die zugrundeliegende Autorität von Technologien ist etwas, das wir in einer anarchistischen Analyse auch nicht ignorieren sollten. Viele Technologien werden nicht nur für unglaublich autoritäre Handlungen (Krieg, Imperialismus, Bevölkerungskontrolle) genutzt, sondern wurden explizit für diese geschaffen. Natürlich kannst du sagen, dass diese Technologien nur in „gute Hände“ gelangen müssten, doch das offenbart nur eine weitere Naivität. Es wird immer herrschsüchtige Menschen geben, die andere dominieren wollen, und wenn diese Technologien erst einmal existieren, würden sie auch weiterhin für schreckliche Dinge genutzt werden. Ein Panzer kann deine Gemeinschaft vor einer verfeindeten Gruppe schützen, doch genau so gut kann der Panzer auch dich überrollen.

Lass mich an dieser Stelle allerdings eins klarstellen. Eine Welt ohne Massenindustrie und Zivilisation würde nicht Produkte unmöglich machen, die für ein gutes und erfülltes Leben für alle Menschen gebraucht werden. Nimm als Beispiel Hilfsgeräte für behinderte Menschen, wie etwa Rollstühle und Sehhilfen. Es sind keine komplexen Bauten, keine Technologien. Es sind Werkzeuge, die schon lange vor der industriellen Revolution existierten. Es gäbe kein Grund anzunehmen, dass solche Hilfsmittel plötzlich aufhören würden zu existieren. Das Wissen der letzten Tausende von Jahren würde nicht einfach verloren gehen und auch wenn es Werkzeuge sind, die im Zuge der Zivilisationsgeschichte entstanden sind, so sind es Produkte, die auch in einer postzivilisierten Welt weiterhin vorhanden sein können. Für die Herstellung ist keine komplexe, ausbeuterische Industrie nötig und auch der ökologische Einfluss ist minimal, während das Leben von Menschen mit Behinderungen effektiv verbessert wird.

Auch andere Produkte könnten in einer postzivilisierten, anti-industriellen Welt weiterhin existieren. Doch damit diese Welt sich als anarchistisch und antikolonial bezeichnen kann, müssen notwendigerweise die meisten Technologien aufhören zu existieren. Welche Technologien möglich sein werden, würde sich erst hinterher zeigen. Die Menschen werden sich der Frage stellen müssen, was sie, ohne Ausbeutung, Kolonialismus, Ökozid und Autorität zu reproduzieren, schaffen können. The Fifth Estate hat dies auch wie folgt ausgedrückt: „Reduziert auf die grundlegendsten Elemente, sollten Diskussionen über die Zukunft vernünftigerweise davon ausgehen, was wir gesellschaftlich wünschen und daraus ableiten, welche Technologie möglich ist. Wir alle wünschen uns Zentralheizungen, Toiletten mit Wasserspülung und elektrisches Licht, aber nicht auf Kosten unserer Menschlichkeit. Vielleicht sind sie alle zusammen möglich, aber vielleicht auch nicht.“ Eine postzivilisierte Welt hat somit keine vorgegebene Vision einer möglichen Zukunft. Sie kann primitiv sein, doch das muss sie nicht notwendigerweise. Die anarchistische Zeitschrift „AJODA“ stellt sich eine Zukunft vor, die „radikal kooperativ und kommunitär, ökologisch und feministisch, spontan und wild“ ist, und das ist vielleicht das, was einer Beschreibung am nächsten kommt.

Die Zivilisation und die (industrielle) Technologie sind Barrieren, die echten menschlichen, tatsächlichen Fortschritt verhindern. Wenn wir die Autorität ein für allemal überwinden wollen, werden wir nicht um eine Dekonstruktion der Zivilisation herumkommen, um eine freie, anarchistische Welt zu schaffen, die allen Menschen ein gutes Leben ermöglicht.

Kritiken und Debatten um Zivilisation werden heute von weißen und (nicht-Schwarzen) Indigenen Anarchist*innen besetzt, während die Zivilisationskritik Schwarzer Anarchist*innen eine Randerscheinung und praktisch unsichtbar ist. Teilweise wird dies auch dadurch genährt, dass es für manche weiße Anarchist*innen ein bequemer Weg ist ihren eigenen Rassismus und Ableismus zu verschleiern. Solange sich der gegenwärtige Klimakollaps beschleunigt, werden wahrscheinlich auch Rechte anfangen, eine technologiekritische Rhetorik zu übernehmen, doch es sollte deutlich gemacht werden, dass Positionen aus dem antizivilisatorischen und postzivilisatorischen Raum von Natur aus unvereinbar mit rechten Verwirrungen sind und ausschließlich in einen anarchistischen Rahmen passen, bei welchem alle Menschen berücksichtigt werden. Ich habe mal in einem (weißen) Text etwas von einer sogenannten rechten Antizivilisation gelesen. Wie soll so etwas möglich sein? Der Faschismus ist eine der höchsten Formen der Zivilisation. Der Wunsch einiger Faschist*innen „zurückzugehen“ ist eine zutiefst zivilisatorische Position, denn ihr Wunsch meint nicht die Anarchie der vorzivilisierten Welt, sondern Zivilisationen wie etwa das Römische Reich.

Die fünf Jahre, die mir meine Ärzte gaben, sind inzwischen längst verstrichen. Ich weiß nicht, wann mich das Schicksal ereilen wird, doch ich wünsche mir inständig, dass meine Brüder und Schwestern sich von allen Ketten von Massa lösen werden, auch wenn ich es wahrscheinlich nicht mehr selbst miterleben werde. Ich weiß nur, dass es eine Dekonstruktion der Zivilisation bedarf, um sich von den Ketten zu befreien und wieder das Leben in vollen Zügen zu genießen und die Erde für unsere Kinder und Kindeskinder wieder bewohnbar zu machen.

Finde diejenigen, die in sich ein Feuer für eine wildere und gerechtere Welt brennen haben.


Survival in Endzeiten: Ein Wildpunk-„Manifest“

Elany, Samuel B.

„Das Gespenst, dem viele nicht ins Auge blicken wollen, ist eine simple Erkenntnis: Die Welt wird nicht ›gerettet‹ werden. Die anarchistische Weltrevolution wird nicht stattfinden. Der Klimawandel ist inzwischen nicht mehr zu stoppen. Wir werden nicht das weltweite Ende der Zivilisation / des Kapitalismus / des Patriarchats / der Autorität erleben. Das wird in nächster Zeit einfach nicht kommen. Es ist unwahrscheinlich, dass es überhaupt irgendwann kommt. Die Erde wird nicht ›gerettet‹ werden. Nicht durch Aktivist*innen, nicht durch Massenbewegungen, nicht durch Wohltätigkeit und auch nicht durch ein aufständisches, globales Proletariat. Die Erde wird nicht ›gerettet‹ werden. Diese Erkenntnis verletzt die Leute. Sie wollen sie nicht wahrhaben! Es ist aber wahrscheinlich so.“

Das sind eine der ersten Zeilen aus Desert, dem wahrscheinlich wichtigsten anarchistischen Werk der jüngsten Zeit. Desert konfrontiert uns mit einem Punkt, den wir vielleicht alle tief in uns spüren, es aber nicht wahrhaben wollen: „Tief in unseren Herzen wissen wir alle, dass die Welt nicht ›gerettet‹ werden wird.“

Mittlerweile verstehen die meisten Menschen, dass der Kapitalismus den Planeten zerstört und Studien prognostizieren den Zivilisationskollaps, doch was passiert danach? Sicher ist, dass ein Zusammenbruch einer Zivilisation nichts Neues ist. Unzählige Zivilisationen sind in der Vergangenheit bereits an dem Machtgefälle, dass jeder Zivilisation innewohnt, kollabiert: das Römische Reich, das Mesopotamische Reich, das Inka-Reich,… Doch sicher ist auch, dass auf jede eine noch gefährlichere Zivilisation folgt.

Aktuell befinden wir uns in der Ära der kapitalistisch-industriellen Zivilisation, welche jedoch diesmal auf globaler Ebene agiert und im Inbegriff ist, die einst grüne Erde in eine einzige Wüste zu verwandeln. Der Zusammenbruch dieser Zivilisation wird mit so viel Leid und Zerstörung verbunden sein, wie es in keiner vorherigen Zivilisation bisher der Fall war. Und an ihrer Stelle könnte erneut etwas noch viel Gefährlicheres den Platz einnehmen, wenn globale Kriege um Ressourcen ausbrechen und die neue Norm werden. Vielleicht eine technokratisch-faschistische? Die Anzeichen sind zumindest bereits da.

Obwohl die Zeichen noch nie so dystopisch waren, wie sie es heute sind, ist der Widerstand gegen das System nach den beiden Weltkriegen stark zurückgegangen. Welche Hoffnung bleibt auf eine globale aufständische oder revolutionäre Masse, die sich der Dystopie stellt, um noch viel Schlimmeres abzuwehren? Die revolutionären Bewegungen der letzten beiden Jahrhunderte sind mit dem industriellen Kapitalismus nicht fertiggeworden als er noch in den Kinderschuhen steckte und heute ist der revolutionäre Geist weitestgehend im Keim erstickt. Das letzte Jahrzehnt mag zwar geprägt von neuen Revolten sein, doch keiner dieser Revolte war es möglich entweder eine wirklich breite Masse zu mobilisieren oder aber wirkliche Veränderungen herbeizuführen. Selbst wenn wir Hoffnungen darauf haben könnten, dass die Masse in Zukunft wieder ein revolutionäres oder aufständisches Potential entfaltet, käme es zu spät. Diese Zeit zu warten und zu hoffen haben wir nicht. Die Wüste kommt. Anarchist*innen verlieren wertvolle Zeit des Handelns, wenn sie sich darauf konzentrieren „die Masse zu mobilisieren“. Selbst wenn du in 30 Jahren damit Erfolg haben solltest, was ist bis dahin noch übrig?

„Die Hoffnung auf das große Happy End verletzt Leute – sie bereitet den Weg für den Schmerz, den sie spüren, wenn sie desillusioniert werden. Mal ehrlich, wer von uns glaubt wirklich daran? Wie viele sind an dem Aufwand, den fundamental religiösen Glauben an eine positive Transformation dieser Welt mit der uns umgebenden Lebensrealität in Einklang zu bringen, zerbrochen? Desillusioniert zu sein – in Bezug auf die Weltrevolution / auf unsere Möglichkeit, den Klimawandel zu stoppen – sollte jedoch nicht dazu führen, dass wir unsere anarchistische Überzeugung ändern oder unsere Liebe zur Natur aufgeben. Es gibt immer noch viele Möglichkeiten für wilde Freiheit.“ — Desert

Aktive Desillusionierung ist befreiend. Es bedeutet nicht handlungsunfähig zu werden, sondern im Hier und Jetzt zu kämpfen, ohne verzweifelte und aussichtslose Hoffnungen auf eine „Weltrevolution“, die uns nur im Warten üben lassen wird, während die Welt um uns herum zerbricht. Wildpunk [1] erkennt die Dystopie der Gegenwart und Zukunft an und versucht sich dem zu stellen und Lebensweisen zu schaffen, ohne jedoch in einen Utopismus zu verfallen. Das „Ziel“ ist kein Warten auf ein besseres Morgen, sondern wie wir heute, im Hier und Jetzt, für uns, unsere Liebsten, unsere Tier- und Pflanzenwelt, unsere Erde, kämpfen und etwas schaffen, für das es sich noch zu leben lohnt. Wenn es nicht mehr darum geht zu warten und zu hoffen, steht uns alles offen.

Ein Wildpunk-„Manifest“

1. Wildpunk entwickelt kein Programm für die Zukunft und hält nichts von vorgefertigten Bauplänen. Es ist dynamisch und fließend und passt sich stets den Gegebenheiten an. Sämtliche Punkte dieses „Manifests“ können angepasst oder sogar verworfen werden. Es sollte so viele solcher „Programme“ geben, wie es Anarchist*innen gibt. Während du dies liest, denke darüber nach, was für dich persönlich mitschwingt und was nicht. Erschaffe dein eigenes Manifest. Wildpunk ist so wild wie die Anarchie selbst.

2. Wildpunk ist anarchistisch. Es gibt keine Freiheit ohne Anarchie und daher kämpfen wir gegen jede Autorität, in all ihren Facetten und Erscheinungsformen. Es ist die Autorität, die die Welt ins Chaos gestürzt hat, seit sie vor etwa 10.000 Jahren das erste Mal aufgetaucht ist.

3. Wildpunk ist inspiriert von Jäger*innen und Sammler*innen, von afrikanischen nomadischen und kleinbäuerlichen Stämmen, von Indigenen Kulturen des Widerstands, von primitiven Lebensweisen. In diesen Lebensweisen finden wir eine Quelle der Inspiration, wie wir die Anarchie in unseren Herzen und unseren Räumen aufflammen lassen können. Es lodert ein Feuer in uns…

4. …und dieses Feuer tragen wir hinaus in die Welt. Wildpunk steht für direkte Aktion, für Sabotage, für Rebellion, für Aufstand. Wir mögen den Klimawandel nicht mehr aufhalten können, doch wir können die Verursachenden und ihre Infrastrukturen der Dystopie angreifen und zerstören.

5. Der zentrale Angriffspunkt der kapitalistischen Zivilisation ist die Industrie, welche die Erde und unsere Körper vergiftet hat. Wildpunk kämpft nicht dafür die Produktionsmittel zu übernehmen, sondern die Mittel der Zerstörung zu ergreifen und sie verdammt nochmal zu sabotieren und niederzubrennen.

6. Wildpunk erkennt, dass vermeintlich grüne Energien nicht grün sind. Egal was die Herrschenden uns auch auftischen wollen, jede dieser Energien wurzelt in einem beispiellosen Ökozid. Energieinfrastrukturen, auch die angeblich grünen, sind weitere wunde Angriffspunkte der Herrschaft.

7. Wildpunk steht für Degrowth und Minimalismus. Nicht minimalistisch im Sinne von „wenn wir alle nur weniger konsumieren, können wir den Klimawandel aufhalten“, sondern minimalistisch im Sinne von das eigene Leben von unnötigem und belastendem Konsum zu befreien. Würde die „Weltrevolution“ tatsächlich kommen und JEDE Autorität zerschlagen, wäre es ohnehin das Ende der Industrie und des Konsums.

„Domestizierte Menschen sitzen in sterilen kleinen Kisten gefangen und werden mit Pestiziden und Maissirup gefüttert, während sie arbeiten, konsumieren, konsumieren, konsumieren und dann sterben. Das ist kein Leben. Das ist keine Anarchie. Das ist ein Alptraum, eine verdorbene Höllenwelt, die uns alle durch eine Gehirnwäsche dazu gebracht hat, sie für akzeptabel zu halten.“ — ziq

8. Wir vernetzen uns gemeinsam, um die Dystopie zu bewältigen, denn niemand (über)lebt und kämpft lange allein. Dieses Band basiert auf Affinität und Freundschaft, nicht einer erzwungenen Gemeinschaft, in denen wir unsere eigenen Ideale, unsere Wünsche, Träume und Bedürfnisse, einem gespenstischen Konsens unterwerfen und opfern.

9. Wildpunk kämpft für LandBack. Bei LandBack geht es darum, die Gewalt zu beenden, die nicht nur den Indigenen Völkern, sondern auch unserer Erde angetan wird. Nur 5% der Weltbevölkerung besteht aus Indigenen Völkern, die auf ihrem angestammten Land leben. Aber diese Völker schützen 80% der biologischen Vielfalt des Planeten, das Herz und die Gesundheit der Erde selbst. Während die Industrie im Inbegriff ist die Erde in eine Wüste zu verwandeln, ist es von besonderer Wichtigkeit so viel Indigenes Land wie möglich zu erkämpfen und zu erhalten. Vielleicht werden es Indigene Völker sein, die der Erde neues Leben einhauchen, wenn die Wüstenschöpfer von ihrer eigenen Dystopie verschlungen werden.

„Einige indigene Gemeinschaften verteidigen – angetrieben durch ein tiefsitzendes Landbewusstsein –, bereitwillig die biodiversen wilden Gemeinschaften (von denen sie ein Teil sind) gegen unsere Entwicklungen. Andere werden regelrecht dazu gezwungen, weil irgendwelche Staaten sie, berechtigt oder oder nicht, als Hindernisse für Entwicklungen ansehen oder weil diese schlichtweg ihr Habitat zerstören wollen, um sich neue menschliche Subjekte, andere ›natürliche Ressourcen‹ oder schlicht Land einzuverleiben. So oder so stellt die mörderische Natur der Zivilisation auf diese Weise ungewollt sicher, dass der Widerstand minoritärer indigener Gemeinschaften von den Bergen Orissas bis in den Amazonas oftmals die beste Verteidigung auch von Ökosystemen darstellt. Solidarität und gemeinsame Kämpfe mit diesen Gemeinschaften sind oftmals die erfolgversprechendsten Strategien für biozentristische Libertäre. Gleichzeitig erfordern sie meistens die wenigsten Kompromisse.“ — Desert

10. Wildpunk steht für echte Dekolonisierung. Und das bedeutet, dass wir die Ursache des Kolonialismus und Neokolonialismus selbst, die Zivilisation, identifizieren und herausfordern. Wir müssen Überlegungen anstellen, wie wir den Würgegriff der Zivilisation lockern können, um wieder etwas atmen zu können.

11. Im Einklang mit dem Ursprung des Wortes radikal, das sich vom lateinischen Wort für Wurzel ableitet, muss die heutige radikale Praxis einen botanischen Ansatz verfolgen: die Kultivierung eines Systems, das uns nährt, anstelle eines, das uns zerstört. Guerilla-Gärtnern, das Säen von Wildblumen in der ganzen Landschaft und Upcycling sind einige der Methoden, die wir anwenden können. Wir müssen Räume schaffen, die uns so weit möglich nähren, auch wenn wir uns nicht aus den Fängen der Industrie lösen können. Herbizide, Fungizide, Pestizide und andere Gifte haben die Böden für Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte, vergiftet. Mit diesen Konsequenzen werden wir uns auseinandersetzen müssen.

12. Wildpunk unterstützt jede Waldbesetzung. Lass nicht zu, dass die letzten Wälder dieser Erde gerodet werden. Kämpfe so weit es möglich ist für den Erhalt jedes letzte bisschen Grüns.

13. Während die Klimakatastrophe immer näher kommt, erleben wir eine Welle der Obdachlosigkeit und Klimaflucht. Besetze Räume für Obdachlose und Geflüchtete und verteidige sie mit allen Mitteln.

„Obwohl zukünftige Klimakriege eine logische Fortführung der gegenwärtigen Verhältnisse sind, werden sie wahrscheinlich wesentlich größer und extremer als heutige Auseinandersetzungen ausfallen. An einigen Orten werden die Leute, unter ihnen Anarchist*innen, Klimakriege in libertäre Aufstände transformieren können. An anderen wird es schlicht ein Kampf ums Überleben oder vielleicht nur um einen bedeutsamen Tod in Würde sein. Diejenigen, die in in relativ stabilen, gemäßigten, sozialen Umgebungen leben – politisch und klimatisch –, werden vermutlich einem immer repressiver werdenden Überwachungsstaat gegenüberstehen und einer ›Masse‹, die zunehmen Angst vor den ›Barbaren außerhalb der Mauern‹ haben wird.“ – Desert

14. Schaffe und kämpfe für Freiräume und autonome Zonen des Widerstands, in denen wir unregierbar sind. Es mag unmöglich sein, der kapitalistischen Zivilisation gänzlich zu entkommen, doch während die Welt zerbröckelt, wächst etwas von innen. Indem wir das, was uns erhält, anstatt das, was uns zerstört, kultivieren, können wir andere Menschen inspirieren das Selbe zu tun, und diese Zonen des Widerstands erweitern und verbinden. Ein wichtiges Element dieser Bemühungen ist der Aufbau von Netzwerken, um Wissen und Ressourcen zu teilen und unsere gemeinsamen Kapazitäten zu erweitern.

„Selbst wenn eine Gegend anscheinend vollkommen unter autoritärer Kontrolle steht, gibt es immer Orte, in denen gelebt, geliebt und von denen aus Widerstand geleistet werden kann. Wir können diese Orte vergrößern. Die globale Situation scheint über uns hinauszugehen, die lokale Situation allerdings nicht. Als Anarchist*innen sind wir weder komplett machtlos noch potenziell allmächtig (glücklicherweise).“ — Desert

15. Diese Zonen sind nicht nur Zonen des Widerstands, sondern auch Zonen der Heilung, in denen wir von schweren Traumata heilen können. Wir können uns nicht nur auf den Angriff verlassen. Wir brauchen auch Orte des Rückzugs. Ohne Heilung werden wir früher oder später selbst zerbrechen.

16. Wildpunk schließt behinderte Menschen im Kampf mit ein. Es sind diejenigen, die selbst in vielen anarchistischen Räumen und Diskursen übersehen und ignoriert werden, und auch diejenigen, die zu den am stärksten Betroffenen der sich anbahnenden Katastrophe gehören. Wir müssen in der Lage sein, behinderte (und kranke) Menschen um uns herum zu versorgen und ihnen die notwendige Unterstützung zukommen lassen.

17. Alle sind im Kampf involviert — wenn sie es wollen und/oder können. Die Zivilisation hat viele von uns, sowohl physisch als auch psychisch, verstümmelt. Manche von uns werden nicht in der Lage sein sich am direkten Kampf zu beteiligen, doch das macht uns nicht entbehrlich. Vielleicht sind wir nicht in der Lage einen Hammer in die Hand zu nehmen, haben dafür aber andere Fertigkeiten wie etwa Hacken. Doch auch ohne eine Beteiligung am Widerstand, egal auf welchem Wege, sind wir alle gleich wichtig.

18. Der Klimawandel ist bereits da und wird sich nicht mehr aufhalten lassen. Die Wüste kommt. Es ist von besonderer Dringlichkeit, dass wir gemeinsam (Überlebens)techniken erlernen. Der industrielle Kapitalismus hat uns von lebenswichtigen Vorgängen abgeschottet, sodass wir heute vieles verlernt haben, weil die Maschinerie für uns das Denken übernimmt. Lerne Fähigkeiten und Fertigkeiten und teile diese. Wie wollen wir unregierbar werden, wenn wir nicht einmal in der Lage sind, ein Feuer zu entzünden, ganz ohne Streichhölzer und Feuerzeuge, oder wie wir diese selbst erschaffen können?

19. (Bewaffnete) Selbstverteidigung wird einen immer größeren Platz einnehmen, je weiter sich die Katastrophe zuspitzt. Wir müssen uns auf Konflikte vorbereiten und wie wir damit umgehen. Das schließt neben Selbstverteidigung auch das Training mit Waffen mit ein. Verlass dich nicht auf den Frieden.

20. Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst, ob sie nun kommen mag oder nicht. Wie wollen wir von uns behaupten, Anarchist*innen zu sein, während wir gleichzeitig die autoritären Erziehungsmethoden unserer Eltern und Großeltern bei unseren eigenen Kindern anwenden? Auf diese Weise züchten wir immer wieder eine neue Generation heran, die sich an die Autorität klammern wird, weil sie nichts anderes gelernt haben. Töte den Cop, den Kolonisator und die Autorität in deinem eigenen Kopf.

[1] Warum Wildpunk?

Es geht nicht darum eine neue Identität zu erschaffen oder ein Programm oder Ideologie unter einem Namen zu entwerfen. Es ist eine absichtliche Anspielung auf Solarpunk. Wir entlarven Solarpunk als das was es tatsächlich ist: ein Konzept des Greenwashing und realitätsleugnender, verblendeter Hoffungsideologie, welches von liberalen Kräften leicht kooptiert werden kann (und bereits wird). Wildpunks brauchen kein Hopium [2] um sich zu berauschen. Unser Rausch ist der direkte Angriff gegen die Autorität, gegen jede Struktur der Macht.

[2] Eine Wortkombination aus Hope (Hoffnung) und Opium

PS: Read Desert.

readdesert.org