Der Mythos der Resozialisierung

Der nachfolgende Beitrag ist aus Instead of Prisons übersetzt.

Mythos: Gefängnisse rehabilitieren Gefangene.

Die Realität: Die Hauptfunktionen von Gefängnissen sind Kontrolle und Bestrafung.

Robert Martinson, Soziologe am City College of New York, stellt in einer umfassenden Studie fest, dass „Resozialisierungsmaßnahmen“ keine nennenswerten Auswirkungen auf die Rückfallquoten haben. Norman Carlson, Direktor des Federal Bureau of Prisons, gibt zu: „Wir wissen eigentlich nicht, ob irgendetwas funktioniert.“ Die Resozialisierung wird aus allen Ecken angegriffen.

Aber die Botschaft der Abolitionist_innen ist mehr als nur die Erklärung, dass die „Rehabilitation“ gescheitert ist. Unsere Aufgabe ist es, den zugrundeliegenden Mythos zu entschlüsseln, aber noch wichtiger ist es, zu beschreiben, wie die Rehabilitation/Resozialisierung nicht korrigiert, sondern kontrolliert. Denn das Modell der „Resozialisierung“ verstärkt den Hauptzweck der Gefängnisse: die Kontrolle und Bestrafung bestimmter Gesellschaftsgruppen.

Ursprünglich wurde das Gefängnis als milderer Ersatz für die Peitsche, den Pranger und das Brandeisen vorgeschlagen, weil man hoffte, dass ein abtrünniger Mensch, der sich von der Gesellschaft abkapselt und mit der Einsamkeit konfrontiert wird, Reue zeigen würde. Daher galten Zuchthäuser als moralische und humane Einrichtungen, in denen die Bestrafung eine „Erlösung“ ermöglichen sollte.

Diese Geschichte bildete die Grundlage für die individualisierte Behandlung. Kurz gesagt: Das Modell der individualisierten Behandlung geht davon aus, dass die Ursache des Verbrechens in der Person der Täter_innen liegt und die Strafe daher auf die Täter_innen und nicht auf das Verbrechen abgestimmt werden muss. Sobald die Gefangenen aus der Gesellschaft herausgenommen und isoliert wurden, werden sie so lange eingesperrt, bis sie sich „gebessert“ haben. In diesem Kontext wird der Kriminelle als jemand mit einer „Krankheit“ betrachtet, die mit der „richtigen Behandlung“ geheilt werden kann. Kriminelle werden auf der Grundlage dieses medizinischen Modells in willkürliche Kategorien eingeteilt und als bestimmte Typen bezeichnet. Die Zeit der Rehabilitation ist eine Zeit der Erlösung; jetzt kann der Kriminelle durch eine „Behandlung“ „gerettet“ werden. Und die „Reue“-Philosophie setzt sich in ihren verschiedenen Verkleidungen von Generation zu Generation fort, bis der gesamte Prozess der Kontrolle durch einen Behandlungsrahmen legitimiert wird.

„Resozialisierung“ = Bestrafung + Kontrolle

Die Gleichsetzung von Resozialisierung und Bestrafung ist keine bloße Rhetorik. Hinter der humanen Konnotation des Wortes „Resozialisierung“ verbirgt sich eine breite Palette von strengen Kontrollmechanismen.

„In Wahrheit hat die Resozialisierung im Gefängnis die gleiche Funktion und Wirkung wie in anderen totalitären Gesellschaften: Sie mag zwar einige wohlwollende oder paternalistische Züge haben, ist aber in erster Linie ein Kontrollsystem …. Das Gefängnis ist fast ausschließlich, wenn nicht sogar ausschließlich, eine Bestrafung, und wir haben kein Recht, etwas anderes zu behaupten.“

– Herman Schwartz, „Protection of Prisoners‘ Rights,“ Christianity and Crisis

Das Verbrechen der Bestrafung liegt in dieser Heuchelei. Aber die Empörung geht tiefer. Die Kontrolle wird institutionell ausgeübt. Konformität wird verlangt. „Korrektur“ wird erzwungen. „Rehabilitation“ wird als Bedingung für die Entlassung verlangt. Man muss sich anpassen. Man muss geheilt werden. Kurz gesagt, der Zwang ist die Wurzel der List.

Das Gefängnis ist auf Zwangskontrolle aufgebaut. Mit einem Vokabular, das dem eines Krankenhauses verblüffend ähnlich ist, wird der Eindruck einer gesunden, heilenden Behandlung erweckt. Diese „Behandlung“ zielt darauf ab, die „abweichelnde“ Person auf unbestimmte Zeit in Gewahrsam zu halten, und verlangt eine Änderung ihres Verhaltens. Der Schlüssel zur erfolgreichen Rehabilitation ist Konformität — nicht mehr und nicht weniger. Wenn der_die „Abweichler_in“ nicht mehr von den Werten der herrschenden Klasse abweicht, ist er_sie „rehabilitiert“.

Das verheerende Ergebnis dieser Kombination aus „Behandlung“ und Gewahrsam ist eine allumfassende Kontrolle. Die Rehabilitation wird geschickt genutzt, um diese Kontrolle auszuweiten.

„Für die Gefängnisverwaltenden, egal ob Wärter_innen, Soziolog_innen oder Psychiater_innen, ist die „individuelle Behandlung“ in erster Linie ein Mittel, um den Widerstandswillen der Sträflinge zu brechen und sie dazu zu zwingen, den Anforderungen der Anstalt nachzukommen, und damit ein Mittel, um ein Maximum an Kontrolle über die Insassen auszuüben. Die Behandlung wird in dem Maße als wirksam erachtet, in dem die armen/jungen/Braunen/Schwarzen Gefangenen vor ihren Mittelklasse/weißen/mittleren Alters Entführenden kapituliert und die Tugenden der Unterwerfung unter die Autorität, des Fleißes, der Reinheit und der Gefügigkeit angenommen haben.“

– Mitford

Der Käfig

Manche „Resozialisierungs“-Programme können bei manchen Menschen tatsächlich Entwicklung fördern und werden vielleicht sogar von wohlmeinenden Menschen gewissenhaft durchgeführt. Aber das sind Ausnahmen von der Regel.

Kann ein Mensch in einem Käfig „korrigiert“ werden? Kann eine Vermenschlichung in einer entmenschlichenden Atmosphäre stattfinden? Kann ein_e Patient_in unfreiwillig „geheilt“ werden? Das Gefängnis ist eine totalitäre Einrichtung; es kontrolliert jeden Aspekt des täglichen Lebens und schafft so entweder völlige Abhängigkeit oder radikale Auflehnung.

Viele Gefangene werden institutionalisiert. Bemühungen um eine Wiedereingliederung erscheinen kontraproduktiv; stattdessen lernen die Gefangenen, sich von der abnormen, gewalttätigen und auf autoritären Werten basierenden Gefängnisgesellschaft abhängig zu machen.

Unbestimmtheit & das Behandlungsmodell

In diesem Umfeld wird für die Rehabilitation ein akzeptables Verhalten erzwungen. Wenn ein Gefangener diesem Prozess nicht zustimmt, wird die endgültige Belohnung der Entlassung immer wieder aufgeschoben, indem die Bewährung verweigert wird. Wenn eine Form der Behandlung nicht wirksam ist, ist eine andere nicht nur gerechtfertigt, sondern erforderlich. Eine Skala von der Isolation bis zur Verhaltensänderung wird akzeptiert, um eine „Korrektur“ zu erreichen.

Ein bis zehn Jahre ist eine typische unbestimmte Strafe. Manche Strafen gehen von fünf Jahren bis lebenslänglich. Die unbestimmte Strafe wird angeblich auf die Einzelnen und ihre Bereitschaft zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft abgestimmt; in Wirklichkeit ist sie ein offizielles Mittel zur Bestrafung und zum Einfordern von Konformität. Alle positiven Werte der Resozialisierungsprogramme werden durch den Zwang der unbestimmten Strafe zunichte gemacht.

Verhaltensmodifikation

Techniken zur Verhaltensmodifikation zeigen, wie weit der Staat gehen kann, um im Namen der „Resozialisierung“ Konformität zu erzwingen. Der zunehmende Einsatz verhaltensmodifizierender Maßnahmen in Gefängnissen verdeutlicht das Eskalationspotenzial, das jedem strafenden Ansatz innewohnt. Unter dem Deckmantel der Behandlung werden Verfahren mit langfristiger Isolation, negativer Verstärkung und hohen Dosen von Betäubungsmitteln eingesetzt, um „gewalttätige“, „unkooperative“ und „aggressive“ Gefangene zu „korrigieren“, die so genannt werden, weil sie sich nicht an die Gefängnisregeln und -vorschriften halten. Verhaltensmodifikation wird zu einer bequemen Methode, um die Gefängnisinsassen „besser und kontrollierbarer“ zu machen. Rehabilitierung in Form von Verhaltensänderung ist also höchstwahrscheinlich ein Experiment der Kontrolle.

Das „Spiel“

Alle Elemente für ein gefährliches „Spiel“ nehmen Gestalt an. Es gibt keine Regeln, nur die Launen der Verwaltenden. Ungewissheit, fehlende Verantwortungspflicht und Ermessensspielraum dominieren.

Konformität wird zum Kriterium für eine erfolgreiche Resozialisierung. Die erfolgreiche Resozialisierung wird zum Kriterium für die Entlassung. Die Rückfallquote wird zum Kriterium für den Gesamterfolg der Resozialisierung.

Wir können uns nicht auf die Sprache dieses „Spiels“ oder auf seine Statistiken oder Bewertungen verlassen. Wir müssen uns wieder auf die Ursachen der Kriminalität besinnen und uns daran erinnern, dass das „Spiel“ in einem Käfig gespielt wird. Der Mythos der Resozialisierung kann erst dann ausgeräumt werden, wenn wir die Naivität der Reformer_innen erkennen, die die Art und Weise, wie das „Spiel“ gespielt wird, ignorieren.

In den letzten Jahren haben die Gefangenenrevolten einen Ansturm von Kritik an den Gefängnissen ausgelöst. Organisationen wie Struggle for Justice und sogar die Berichte der National Advisory Commission on Criminal Justice Standards and Goals erklären nicht nur, dass die Inhaftierung kläglich gescheitert ist, sondern stellen auch fest, dass Inhaftierung und resozialisierende Ziele unvereinbar sind. Sogar führende Sprecher_innen des Strafvollzugssystems haben begonnen, das Scheitern der Resozialisierung zuzugeben.

Sozialwissenschaftler_innen stehen an der Spitze derer, die die Wirksamkeit der Resozialisierung in Frage stellen. Robert Martinson kommt in seiner Arbeit zu dem Schluss: „Mit wenigen und isolierten Ausnahmen hatten die bisherigen Rehabilitationsbemühungen keine nennenswerten Auswirkungen auf die Rückfälligkeit.“ Er weist auch darauf hin, dass die Inhaftierung selbst dem Gefangenen schadet.

„Wenn eine Person ins Gefängnis kommt, wird sie zum Eigentum des Staates und hat keine Menschenrechte, die Staatsbedienstete respektieren müssen (ein Zustand, der auf den sklavenähnlichen Status von Gefangenen hindeutet). Diese Person ist erniedrigenden, entwürdigenden und demütigenden Bedingungen und Behandlungen unter totalitärer Kontrolle in einer völlig gesetzlosen Situation ausgesetzt. Es ist eine Situation, in der „jede_r für sich selbst“ überleben muss und in der Handlungen wie Mitgefühl, Freundlichkeit und Kooperation als verdächtig, wenn nicht sogar als subversiv gelten. Wenn Gefangene rehabilitiert werden müssen, dann durch die Behandlung, der sie im Gefängnis ausgesetzt sind.“

-Bob Canney, Gefangener aus Florida, Come Unity, März 1976

Wir müssen die Resozialisierung von der Notwendigkeit von Dienstleistungen trennen. Solange es Gefängnisse gibt, brauchen die Gefangenen Dienstleistungen und sollten bestimmen, welche Ressourcen benötigt werden. Diese Ressourcen und Leistungen sollten auf vertraglicher Basis von gemeinnützigen Gruppen erbracht werden, die den Gefängnisverwaltungen gegenüber nicht rechenschaftspflichtig sind. Es besteht zwar die Gefahr, dass das Gefängnis als Ort für den Erwerb dieser Leistungen legitimiert wird, aber die Befähigung der Gefangenen, ihre Bedürfnisse selbst zu bestimmen, wiegt wahrscheinlich schwerer als die Gefahr, in der Übergangszeit vor der Abschaffung Dienstleistungen anzubieten.