Omar Aziz (von Freund:innen liebevoll Abu Kamel genannt) wurde in Damaskus geboren. Er kehrte aus dem Exil in Saudi-Arabien und den Vereinigten Staaten in den frühen Tagen der syrischen Revolution nach Syrien zurück. Als Intellektueller, Ökonom, Anarchist, Ehemann und Vater, engagierte er sich im Alter von 63 Jahren für den revolutionären Kampf. Er arbeitete mit lokalen Aktivist:innen zusammen, um humanitäre Hilfe zu sammeln und diese in den Vororten von Damaskus zu verteilen, die vom Regime angegriffen wurden. Durch sein Schreiben und seine Tätigkeit förderte er die lokale Selbstverwaltung, die horizontale Organisation, die Zusammenarbeit, die Solidarität und die gegenseitige Hilfe als Mittel, mit dem sich die Menschen von der Tyrannei des Staates emanzipieren konnten. Zusammen mit Genoss:innen gründete Aziz in Barzeh, Damaskus, das erste lokale Komitee. Das Beispiel verbreitete sich in ganz Syrien und mit ihm einige der vielversprechendsten und dauerhaftesten Beispiele nicht-hierarchischer Selbstorganisation, die aus den Ländern des Arabischen Frühlings hervorgegangen sind.
In ihrer Hommage an Omar Aziz sagt Budour Hassan, er „trug weder eine Vendetta-Maske, noch bildete er schwarze Blöcke. Er war nicht davon besessen, der Presse Interviews zu geben … Doch zu einer Zeit, als die meisten Antiimperialist:innen über den Zusammenbruch des syrischen Staates und das „Kapern“ einer Revolution jammerten, die sie nie von vornherein unterstützt hatten, strebten Aziz und seine Genoss:innen unermüdlich nach bedingungsloser Freiheit von allen Formen des Despotismus und der staatlichen Hegemonie.“
Aziz wurde von der revolutionären Welle, die das Land erfasste, ermutigt und glaubte, dass „die anhaltenden Demonstrationen in der Lage waren, die Dominanz der absoluten Macht zu brechen“, aber er sah einen Mangel an Synergie zwischen der revolutionären Aktivität und dem täglichen Leben der Menschen. Für Aziz machte es keinen Sinn, an Demonstrationen teilzunehmen, die den Sturz des Regimes forderten, während er immer noch in streng hierarchischen und autoritären Strukturen lebte, die vom Staat aufgezwungen wurden. Er beschrieb eine solche Spaltung Syriens, das der Überschneidung von zwei Zeiten unterworfen ist: „die Zeit der Macht“, die noch immer die Lebensaktivitäten verwaltet, und „die Zeit der Revolution“, die den Aktivist:innen gehört, die am Sturz des Regimes arbeiten. Aziz glaubte, dass für die Kontinuität und den Sieg der Revolution die revolutionäre Aktivität alle Aspekte des Lebens der Menschen durchdringen muss. Er plädierte für radikale Veränderungen der gesellschaftlichen Organisation und der Beziehungen, um die Grundlagen eines auf Herrschaft und Unterdrückung basierenden Systems in Frage zu stellen.
Aziz sah überall positive Beispiele um ihn herum. Ermutigt wurde er durch die zahlreichen Initiativen, die im ganzen Land aus dem Boden schossen, darunter die freiwillige Bereitstellung von medizinischer und juristischer Notfallhilfe, die Umwandlung von Häusern in Feldlazarette und die Organisation von Lebensmittelkörben zur Verteilung. Er sah in solchen Taten „den Geist des Widerstandes des syrischen Volkes gegen die Brutalität des Systems, das systematische Töten und die Zerstörung der Gemeinschaft“. Omars Vision war es, diese Praktiken zu verbreiten, und er glaubte, der Weg, dies zu erreichen, sei die Einrichtung von Gemeinderäten. Im achten Monat der syrischen Revolution, als die weitverbreiteten Proteste gegen das Regime noch weitgehend friedlich waren, erstellte Omar Aziz ein Diskussionspapier über die Gemeinderäte in Syrien, in dem er seine Vision darlegte.
Nach Aziz‘ Ansicht war der Gemeinderat das Forum, in dem Menschen aus verschiedenen Kulturen und unterschiedlichen sozialen Schichten zusammenarbeiten konnten, um drei Hauptziele zu erreichen: ihr Leben unabhängig von den Institutionen und Organen des Staates zu verwalten; den Raum zu schaffen, der die kollektive Zusammenarbeit der Individuen ermöglicht; und die soziale Revolution auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zu aktivieren.
In seinem Schriftstück listet Aziz auf, was seiner Meinung nach die Hauptanliegen der Gemeinderäte sein sollten:
1) Die Förderung der menschlichen und zivilen Solidarität durch die Verbesserung der Lebensbedingungen, insbesondere durch die Bereitstellung von sicheren Unterkünften für die Vertriebenen; die Bereitstellung von Hilfe, sowohl psychologischer als auch materieller Art, für die Familien der Verwundeten oder Inhaftierten; die Bereitstellung von medizinischer Unterstützung und Nahrungsmitteln; die Gewährleistung der Kontinuität der Bildungsdienste; und die Unterstützung und Koordination der Medienaktivitäten. Aziz merkt an, dass solche Handlungen freiwillig sein sollten und kein Ersatz für familiäre Unterstützungsnetzwerke sein sollten. Er glaubte, dass es Zeit brauchen würde, bis die Menschen sich außerhalb der staatlichen Dienstleistungen wohl fühlen und ihr Sozialverhalten anpassen würden, um kooperativer zu sein. Aziz war der Meinung, dass die Rolle des Rates auf ein Minimum beschränkt werden sollte, um die Entwicklung einzigartiger Gemeinschaftsinitiativen zu ermöglichen.
2) Die Förderung der Zusammenarbeit, einschließlich des Aufbaus lokaler Gemeinschaftsinitiativen und -aktionen und die Förderung von Innovation und Erfindungen, die Aziz durch ein halbes Jahrhundert der Tyrannei erstickt sah. Der Gemeinderat würde das Forum sein, durch das die Menschen die Probleme, denen sie im Leben begegnen, und ihre täglichen Bedingungen diskutieren könnten. Der Gemeinderat würde die Zusammenarbeit unterstützen und es den Menschen ermöglichen, angemessene Lösungen für die Probleme zu finden, denen sie sich gegenübersehen, einschließlich der Probleme, die die Infrastruktur, die soziale Harmonie und den Handel betreffen, sowie der Probleme, die Lösungen außerhalb der lokalen Gemeinschaft erfordern. Aziz sah auch eine Schlüsselrolle in der Verteidigung des Territoriums in ländlichen und städtischen Gebieten, die Gegenstand von Enteignungen und Übernahmen durch den Staat waren. Er lehnte die Enteignung von Land in den Städten und die Marginalisierung und Vertreibung der ländlichen Gemeinden ab, die er als eine Methode des Regimes ansah, um ihre Politik der Herrschaft und der sozialen Ausgrenzung durchzusetzen. Aziz hielt es für notwendig, den Zugang zu Land zu sichern, das die Lebensnotwendigkeiten für alle befriedigen kann und rief zu einer Wiederentdeckung des Gemeingutes auf. Er war realistisch, aber optimistisch. Er bemerkte, dass „es klar ist, dass solche Handlungen für sichere Orte oder Gebiete gelten, die quasi ‚befreit‘ von der Macht sind. Aber es ist möglich, die Situation jedes Gebietes zu beurteilen und zu bestimmen, was erreicht werden kann“. Aziz plädierte für horizontale Verbindungen zwischen den Räten, um Verbindungen und Interdependenzen zwischen den verschiedenen geographischen Regionen zu schaffen.
3) Die Beziehung mit der Freien Syrischen Armee (FSA) und die Wechselbeziehung zwischen Schutz und Verteidigung der Gemeinschaft und der Kontinuität der Revolution. Aziz war der Meinung, dass es unerlässlich sei, den zivilen und bewaffneten Widerstand des Volkes zu koordinieren. Er sah die Rolle der FSA darin, die Sicherheit und Verteidigung der Gemeinschaft vor allem während der Demonstrationen zu gewährleisten, die Sicherung der Kommunikationslinien zwischen den Regionen zu unterstützen und den Personenverkehr und die logistische Versorgung zu schützen. Die Rolle des Rates würde darin bestehen, für die Verpflegung und Unterbringung aller Mitglieder der FSA zu sorgen und sich mit der FSA über die Sicherheit der Gemeinschaft und die Verteidigungsstrategie für die Region abzustimmen.
4) Die Zusammensetzung der Gemeinderäte und die Organisationsstruktur. Aziz sah eine Reihe von Herausforderungen bei der Bildung von mehreren Gemeinderäten. Die erste war das Regime, das wiederholt Städte und Ortschaften stürmte, um die Bewegung zu lähmen, die Menschen in den Enklaven zu isolieren und die Zusammenarbeit zu verhindern. Aziz argumentierte, um auf solche Angriffe des Staates zu reagieren, müssten die Widerstandsmechanismen flexibel und innovativ bleiben. Die Räte müssten je nach Bedarf nach oben oder unten skalieren und sich den Machtverhältnissen vor Ort anpassen. Er glaubte, dass diese Flexibilität für die Verwirklichung des Wunsches der Gemeinschaft nach Freiheit unerlässlich sei. Er sah auch die Herausforderung darin, die Menschen zu ermutigen, eine neue und ungewohnte Lebensweise und soziale Beziehungen zu praktizieren. Auch das Dienstleistungsangebot musste aufrechterhalten werden, und es war notwendig, einen Weg zu finden, um angesichts der Kürzungen eine unabhängige Machtquelle zu erhalten, sowie die Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten zu unterstützen. Aus diesem Grund glaubte er, dass zu den Mitgliedern des Gemeinderates Sozialarbeiter:innen und Personen mit Fachkenntnissen in verschiedenen sozialen, organisatorischen und technischen Bereichen gehören sollten, die sowohl den Respekt der Menschen als auch das Potential und den Wunsch haben, freiwillig zu arbeiten. Für Aziz ist die Organisationsstruktur des Gemeinderates ein Prozess, der mit dem Minimum beginnt und sich je nach dem Grad der durch die Revolution erreichten Transformation, dem Kräfteverhältnis innerhalb eines bestimmten Gebietes und den Beziehungen zu den Nachbargebieten entwickeln sollte. Er ermutigte die Gemeinderäte, ihr Wissen zu teilen, von den Erfahrungen anderer Räte zu lernen und sich regional zu koordinieren.
5) Die Rolle des Nationalrats besteht darin, der Initiative Legitimität zu verleihen und die Akzeptanz der Aktivist:innen zu gewinnen. Er sollte sich um finanzielle Mittel bemühen, um die notwendigen Arbeiten durchzuführen und Ausgaben zu decken, die auf regionaler Ebene möglicherweise nicht gedeckt werden können. Der Nationalrat würde die Koordination zwischen den Regionen erleichtern, um eine gemeinsame Basis zu finden und eine engere gegenseitige Abhängigkeit zu fördern.
Die Arbeit von Omar Aziz hat einen großen Einfluss auf die revolutionäre Organisation in Syrien gehabt. Während die politische Mainstream-Opposition in den vergangenen zwei Jahren nichts Bemerkenswertes erreicht hat, ist die Basis-Oppositionsbewegung angesichts der gewalttätigen Repression dynamisch und innovativ geblieben und hat den anarchistischen Geist verkörpert. Der Kern der Basisopposition ist die Jugend, hauptsächlich aus den Armen und der Mittelschicht, in der Frauen und verschiedene religiöse und ethnische Gruppen eine aktive Rolle spielen. Viele dieser Aktivist:innen sind nicht den traditionellen politischen Ideologien angehörig, sondern werden von der Sorge um Freiheit, Würde und grundlegende Menschenrechte motiviert. Ihr Hauptziel ist nach wie vor der Sturz des Regimes, anstatt großartige Vorschläge für ein zukünftiges Syrien zu entwickeln.
Die Hauptform der revolutionären Organisation wurde durch die Entwicklung der „tansiqiyyat“ geschaffen; hunderte von lokalen Komitees, die in Nachbarschaften und Städten im ganzen Land gegründet wurden. Hier engagieren sich revolutionäre Aktivist:innen in vielfältigen Aktivitäten, von der Dokumentation und Berichterstattung über Verstöße des Regimes (und zunehmend auch von Teilen der Opposition) über die Organisation von Protesten und Aktionen des zivilen Ungehorsams (wie Streiks und die Verweigerung der Bezahlung von Stromrechnungen) bis hin zur Sammlung und Bereitstellung von Hilfsgütern und humanitären Gütern in Gebieten, die bombardiert oder belagert werden. Es gibt kein einheitliches Modell, aber sie agieren oft als horizontal organisierte, führungslose Gruppen, die aus allen Teilen der Gesellschaft bestehen. Sie sind das Fundament der revolutionären Bewegung und schaffen Solidarität unter den Menschen, Gemeinschaftssinn und kollektives Handeln. Einige lokale Komitees haben gewählte Vertreter:innen, wie z.B. in Kafranbel Idlib, wo ein Komitee von gewählten Vertreter:innen ihre eigene Verfassung gemacht hat. Jugendaktivist:innen aus Kafranbel hielten die populäre Protestbewegung am Leben und haben durch den Gebrauch von bunten und satirischen Bannern bei wöchentlichen Protesten weltweiten Ruhm erlangt. Sie engagierten sich auch in zivilen Aktivitäten wie der psychosozialen Betreuung von Kindern und Foren für Erwachsene, in denen Themen wie ziviler Ungehorsam und friedlicher Widerstand diskutiert wurden.
Auf der Stadt- und Bezirksebene wurden Revolutionsräte oder „Majlis Thawar“ eingerichtet. Sie sind oft die primäre zivile Verwaltungsstruktur in Gebieten, die vom Staat befreit wurden, sowie in einigen Gebieten, die unter staatlicher Kontrolle bleiben. Diese gewährleisten die Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen, koordinieren die Aktivitäten der lokalen Komitees und stimmen sich mit dem bewaffneten Volkswiderstand ab. Zweifellos haben sie in dem Maße, wie die staatliche Versorgung mit Dienstleistungen in einigen Gebieten verschwunden ist und sich die humanitäre Lage verschlechtert hat, eine immer wichtigere Rolle gespielt. Es gibt kein einheitliches Modell für die Lokalkomitees, aber sie folgen hauptsächlich irgendeiner Form eines repräsentativen demokratischen Modells. Einige haben verschiedene Verwaltungsabteilungen eingerichtet, um Funktionen zu übernehmen, die früher vom Staat wahrgenommen wurden. Einige waren erfolgreicher und integrativer als andere, die darum gekämpft haben, die Bürokratie des alten Regimes zu verdrängen, oder die von Machtkämpfen geplagt waren.
Während die Hauptgrundlage der Aktivitäten sehr stark auf der lokalen Ebene liegt, gibt es eine Reihe von verschiedenen Dachgruppen, die entstanden sind, um sich auf regionaler und nationaler Ebene zu koordinieren und zu vernetzen. Dazu gehören die Lokalen Koordinierungskomitees (LCC), die Nationalen Aktionskomitees (NAC), die Föderation der Koordinierungskomitees der Syrischen Revolution (FCC) und die Allgemeine Kommission der Syrischen Revolution (SRGC). Keines dieser Komitees repräsentiert die Gesamtheit der lokalen Komitees/Räte und sie haben unterschiedliche Organisationsstrukturen und unterschiedliche Ebenen des Engagements oder Nicht-Engagements mit der formellen politischen Opposition.
Omar Aziz hat die oft unüberwindbar scheinenden Herausforderungen, die die Revolutionäre Syriens bedrängen würden, oder die Erfolge und Misserfolge der Experimente der lokalen Selbstorganisation nicht mehr erlebt. Am 20. November 2012 wurde er von den Mukhabarat (gefürchteter Geheimdienst) aus seinem Haus verhaftet. Kurz vor seiner Verhaftung sagte er: „Wir sind nicht weniger als die Arbeiter:innen der Pariser Kommune: sie haben 70 Tage lang Widerstand geleistet und wir machen immer noch anderthalb Jahre lang weiter.“ Aziz wurde in einer 4 mal 4 Meter großen Geheimdienstzelle festgehalten, die mit 85 anderen Personen geteilt wurde. Dies trug wahrscheinlich zur Verschlechterung seiner ohnehin schon schwachen Gesundheit bei. Später wurde er ins Adra-Gefängnis verlegt, wo er im Februar 2013, einen Tag vor seinem 64. Geburtstag, an Herzschäden starb.
Omar Aziz‘ Name wird vielleicht nie weitläufig bekannt werden, aber er verdient Anerkennung als eine führende zeitgenössische Figur in der Entwicklung des anarchistischen Denkens und der anarchistischen Praxis. Die von ihm inspirierten Experimente zur revolutionären Organisation an der Basis bieten Einblicke und Lektionen in anarchistischem Organisieren für zukünftige Revolutionen auf der ganzen Welt.