Ein Jahr seit der türkischen Invasion in Rojava: Interview mit Tekoşîna Anarşîst

Zur anarchistischen Beteiligung am revolutionären Experiment in Nordost-Syrien

Vor einem Jahr, mit dem Segen von Donald Trump, drangen türkische Streitkräfte in Rojava. Mittels ethnischen Säuberungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und der Vertreibung Hunderttausender versuchten sie das Gebiet neu zu strukturieren. Seit 2012 findet in der autonomen Region Rojava ein Experiment der Selbstbestimmung und der Autonomie der Frauen (unter Beteiligung sämtlicher Bevölkerungsgruppen) statt – und das während sie gegen den Islamischen Staat (ISIS) kämpften. Anarchist:innen beteiligten sich am Widerstand gegen die türkische Invasion, einige als Sanitäter:innen vor Ort in Syrien und andere im Rahmen einer internationalen Solidaritätskampagne. Bis zum heutigen Tag besetzen die türkischen Streitkräfte weiterhin einen Teil des syrischen Territoriums, von der Eroberung der gesamten Region wurden sie jedoch abgehalten.

Anarchist:innen aus der ganzen Welt beteiligen sich seit vielen Jahren an dem Experiment in Rojava. Sie schlossen sich zur Zeit der Verteidigung von Kobanê gegen den Islamischen Staat den YPJ und YPG (»Volksverteidigungseinheiten«) an und gründeten später ihre eigenen Organisationen, darunter die Internationalen Revolutionären Volksguerillakräfte (IRPGF, International Revolutionary People’s Guerrilla Forces) und zuletzt Tekoşîna Anarşîst (»Anarchistischer Kampf« oder TA), die im Herbst 2017 gegründet wurde. Im folgenden ausführlichen Interview vergleichen mehrere Teilnehmende der TA ihre Erfahrungen im Kampf gegen den Islamischen Staat und im Kampf gegen die Türkei, erkunden, was in Syrien seit der Invasion geschehen ist, bewerten die Wirksamkeit der anarchistischen Interventionen in Rojava und diskutieren, was andere auf der ganzen Welt aus den Kämpfen in der Region lernen können.

Dies ist ein wichtiges historisches Dokument, das sich auf mehrere Jahre Erfahrung und Reflexion stützt. Für Anarchist:innen, die sich jeder Form von Hierarchie und zentralisierter Gewalt widersetzen, wirft die Gründung bewaffneter Selbstverteidigungsorganisationen viele heikle Fragen auf. Das folgende Interview beantwortet sie zwar nicht abschließend, aber es wird jede Diskussion über diese Fragen bereichern.


Für mehr Hintergrundinformationen über die türkische Invasion in Rojava, lies »The Threat to Rojava« und »Why the Turkish Invasion Matters«; für Hintergrundinformationen über die Agenda der türkischen Regierung in der Region, lies »The Roots of Turkish Fascism«, verfasst von türkischen Anarchist:innen.

Ein Glossar mit Akronymen und kurdischen Begriffen, die in diesem Interview verwendet werden, erscheint als Anhang.

Deutsche Übersetzung des Interviews mit Tekoşîna Anarşîst von CrimethInc


-Was ist seit dem Angriff der Türkei auf Rojava im Oktober 2019 geschehen?

Garzan: Wir haben in unserem letzten Interview über die humanitäre Krise nach der türkischen Besetzung gesprochen. Seit dieser Invasion hat Rojava die längste Periode ohne aktive Frontkämpfe erlebt, die wir mitbekommen haben. Es gibt immer noch Operationen gegen die ISIS-Schläferzellen in Deir Ezzor und gelegentliche Angriffe der türkischen Armee an der Front bei Ain Issa, Manbij und Til Temir, aber die SDF (»Syrian Democratic Forces«, die Dachorganisation der Streitkräfte, die zur Verteidigung der Autonomen Selbstverwaltung Nordost-Syriens kämpfen) nimmt sich diese Zeit, um sich auf den nächsten großen türkischen Angriff vorzubereiten. Die Militärakademien bilden neue Kräfte aus; die Städte in der Nähe der Front bereiten ihre Verteidigungssysteme vor, graben Tunnel und schaffen andere Infrastrukturen zur Selbstverteidigung. Die diplomatischen Organe der Selbstverwaltung arbeiten daran, Vereinbarungen mit verschiedenen Kräften innerhalb und außerhalb Syriens zu treffen und drängen auf politische Lösungen, denn diese Revolution sucht den Frieden, weiß aber, dass wir für den Krieg bereit sein müssen.

Mazlum: Die militärische Invasion der Türkei und ihrer Proxies im Nordosten Syriens ist ein fortlaufender Prozess, der bis heute andauert. Der Angriff auf diese Region umfasst alle Bomben und Raketen, die auf die Häuser der Menschen abgeworfen wurden, alle verbrannten Ernten, alle Menschen, die getötet wurden, einschließlich unserer Genoss:innen und unzähliger Kinder, jede Kugel, die auf dieses Land geschossen wurde, jedes verlorene Haus, alle Menschen, die jetzt Flüchtlinge in ihrem eigenen Land sind. Aber all das ist nur ein Teil von dem, was geschieht. Der türkische Staat führt auch spezialisierte Kriegsführung in den Bereichen Information und Propaganda, Geheimdienst und Spionage durch – er schränkt die Freiheit der Frauen ein, blockiert den Zugang zu Wasser und anderen lebenswichtigen Ressourcen, löscht die Kultur aus, sabotiert die Wirtschaft und untergräbt die Ökologie. Sie spielen Kriegsdiplomatie im großen Stil. Zum Beispiel hat die Türkei nach der Eroberung von Serêkaniye im Jahr 2020 den SDF-Friedhof der Stadt – auf dem die Menschen, die im Kampf gegen Daesh [den Islamischen Staat] getötet wurden, begraben sind – in eine Militärbasis für die dschihadistischen Fraktionen der SNA verwandelt. Dies veranschaulicht, wie diese Kriegsführung durchgeführt wird.

Stellt euch einen intensiven Kfampf an der Front vor. Stellt euch dann das Äquivalent zu dem vor, was täglich in allen Bereichen außer dem physischen Kampf mit Waffen stattfindet. Das ist es, was seit dem Beginn der Invasion im Jahr 2018 in Afrin und nun nach der Einnahme von Serêkaniye im Jahr 2019 geschieht. Die Invasion hat nie aufgehört. Es ist ein Krieg mit geringer Intensität, in dem die Spannung konstant ist, aber Zusammenstöße kommen selten vor. Die Hauptbewegungen finden auf einer anderen Ebene statt, indem sie die geopolitischen Bedingungen in der Region festlegen und den Weg für die nächste militärische Offensive vorbereiten.

Botan: Es hat auch Probleme mit den Daesh-Gefangenen gegeben – Gefängnisaufstände und Gefängnisausbrüche. Die Selbstverwaltung bekommt wenig oder gar keine Unterstützung dafür, die Fälle der gefangenen Daesh gerichtlich zu bearbeiten, und trägt weiterhin die Last, sie unterzubringen, während sie sich auf die Verteidigung gegen weitere türkische Angriffe vorbereitet. Die Türkei hat auch Revolutionäre im Rahmen von Drohnenangriffen auf zivile Gebiete ins Visier genommen – zum Beispiel die Ermordung von drei Frauen von Kongra Star in Kobanê im Juni.

-Wie haben die türkische Invasion und COVID-19 das Leben der Menschen in Rojava beeinflusst?

Garzan: Wir haben in unserem letzten Interview auch besprochen, wie sich COVID-19 auf Nordost-Syrien ausgewirkt hat. Die erste Welle im März infizierte weniger als 50 Menschen, zum Teil dank der schnellen präventiven Reaktion der Selbstverwaltung und zum Teil wegen des Embargos und der Blockade, die es sehr schwierig machen, ein- und auszureisen. Unglücklicherweise fand im September ein zweiter Ausbruch statt, der vom Flughafen Qamişlo ausging (der vom syrischen Staat kontrolliert wird) und sich über die wichtigsten Städte im Nordosten Syriens ausbreitete. Im Moment haben wir etwa 1800 bestätigte Fälle und 70 Todesfälle, aber aufgrund des Mangels an medizinischen Einrichtungen, die Tests durchführen können, ist es möglich, dass die Zahlen höher liegen. Die Selbstverwaltung erließ zu Beginn vorbeugende Maßnahmen, verbot Reisen zwischen den Städten und ermutigte zur Verwendung von Masken. Es gab auch eine Sperrstunde für Geschäfte und andere öffentliche Orte, ausgenommen Lebensmittelgeschäfte und Apotheken, die nur einige Stunden am Morgen öffnen durften. Im Allgemeinen nahmen die Menschen das Virus in dieser zweiten Welle etwas ernster, aber nach Jahren des Krieges ist es für die Bevölkerung schwierig, eine unsichtbare Bedrohung ernst zu nehmen, und soziale Distanzierungsmaßnahmen sind in einer Gesellschaft, die so stark auf Gemeinschaft, auf dem gemeinsamen Leben basiert, schwer zu befolgen.

Eine detaillierte Diskussion von zwei internationalistischen medizinischen Freiwilligen , wie Nordost-Syrien mit der Coronavirus-Pandemie umgeht, kannst du hier auf Russisch lesen. Updates zu diesem Thema sind im Rojava Information Center erhältlich.

-Beschreibe die Unterschiede zwischen dem Kampf gegen ISIS und dem Kampf gegen das türkische Militär. Was waren die verschiedenen Herausforderungen, taktisch, politisch und auch emotional?

Garzan: Der offensichtlichste Unterschied ist die Militärtechnologie, die der Feind benutzt. ISIS kämpfte mit Gewehren und kleiner Artillerie; sie spezialisierten sich auf Autobomben, Selbstmordattentate und gut gemachte IEDs (improvisierte Sprengsätze). Der türkische Staat kämpft mit Proxy-Milizen, die über Panzer und Luftunterstützung durch Drohnen und Kampfflugzeuge verfügen. Es sind jedoch nicht viele türkische Soldaten an der Front; am Boden ist der Feind derselbe wie vorher. Es ist weithin dokumentiert, wie die ISIS-Kämpfer die schwarzen Flaggen des Islamischen Staates weggeräumt haben, um unter der roten Flagge des türkischen Staates zu kämpfen, so dass sie jetzt Luftunterstützung von einer Armee haben, die in die NATO involviert ist. Dies zwang uns, die Taktik zu ändern – wie wir uns bewegen, wie wir sowohl militärische Kräfte als auch Zivilist:innen verteidigen. Die Fronten sind nicht mehr die Schützengräben, in denen die YPJ/YPG gekämpft haben, und auch nicht die Wüsten, welche die SDF von ISIS befreit hat. Jetzt ist die Front überall dort, wo türkische Flugzeuge und Drohnen fliegen können.

Politisch ist es auch eine große Herausforderung. Als wir gegen ISIS kämpften, verstand jede:r, dass es ein Kampf für die ganze Menschheit war, um eine Form des theokratischen Faschismus zu stoppen, der mit brutale Folter und Hinrichtungen Propaganda machte. Aber jetzt, wo der türkische Staat das fortsetzt, was ISIS nicht erreichen konnte, sind die Herausforderungen viel größer. Nicht nur sind die militärischen Kräfte und die Technologie des türkischen Staates viel fortschrittlicher als die des Islamischen Staates, ihre politische und mediale Kriegsführung ist stärker, was die SDF und die Selbstverwaltung zwingt, sich sehr um diplomatische Beziehungen mit anderen Mächten zu bemühen, um das befreite Territorium zu verteidigen. Diplomatische Beziehungen aufrechtzuerhalten bedeutet auch, eine Erzählung zu entwerfen, die von anderen Kräften unterstützt werden kann, denn wenn die Selbstverwaltung offen über einen revolutionären Horizont des demokratischen Konföderalismus spricht – d.h. über die Überwindung der Nationalstaaten und den Sturz des Kapitalismus und des Patriarchats – wird es für Erdoğan einfach sein, von den Supermächten grünes Licht für die Auslöschung dieses befreiten Territoriums zu bekommen.

Şahîn: Es gibt ein erhöhtes Risiko für die Internationalen, besonders für diejenigen, die mit Waffen an der Front kämpfen. Mehrere Staaten, die nicht hinter »ihren Bürger:innen« her waren, weil sie hierher gekommen sind, um gegen ISIS zu kämpfen, haben ihre Politik geändert oder aufgehört wegzuschauen und verfolgen nun Leute, die zurückkehren viel härter. Und nicht nur Kämpfer:innen. Dies sollte die Entscheidung, hierher zu kommen, nicht beeinflussen, aber es ist wichtig, die Risiken zu verstehen und uns so zu positionieren, dass wir sie minimieren können, ohne unseren Kampfwillen zu verringern.

Ein anderer Unterschied, und für mich war das ein großer Unterschied, war ein emotionaler. Die letzten Jahre gegen Daesh waren wir in der Offensive – auf der befreienden Seite. Wie gefährlich der Feind auch war, es gab Wege, den Kampf zu führen. Im Kampf gegen die Türkei waren wir auf der verteidigenden Seite, in einer Situation, in der manchmal die Front hinter uns war und wir nicht sicher sein konnten, wie die Dinge ausgehen würden. Es ist wichtig zu glauben, dass es wieder Wege nach vorne geben wird, dass wir dieses Land verteidigen und befreien werden, was verloren ging; doch inmitten dieser Realität fordert dieser Prozess seinen Tribut. Es ist eine der härtesten mentalen Prüfungen, die man durchmachen kann. Aber wenn wir die Möglichkeit des Sieges nicht wahrnehmen können, können wir niemals gewinnen. Das bedeutet, dass wir einen starken Glauben haben und klüger sein müssen, um die Achillesferse des Feindes zu erkennen. Es mag gut versteckt sein, aber es wäre ein großer Fehler zu sagen, dass sie, nur weil sie stärker und größer sind, unschlagbar sein müssen.

Mazlum: Die emotionale Herausforderung, die mir auffällt, ist, militärische Disziplin in Situationen anwenden zu müssen, in denen das Leben von Menschen direkt auf dem Spiel stand und wir ihnen helfen konnten, aber auf Befehl der Befehlskette konnten wir nicht das tun, was wir nach unserem eigenen Urteil für notwendig erachteten. Es gab viele Situationen wie diese. Zum Beispiel erfuhren wir einmal, dass einige Kilometer weiter unten auf der Straße mehrere Genoss:innen von einem Drohnenangriff getroffen worden waren. Wir wussten, dass sie verwundet waren, aber immer noch lebten. Wir wussten auch, dass eine Drohne die Gegend umkreiste und darauf wartete, dass Leute kamen, um den Verwundeten zu helfen, damit sie wieder zuschlagen konnten. Aus diesem Grund gab es einen strikten Befehl, sich nirgendwo hin zu bewegen – und wir konnten einen solchen Befehl verstehen, nachdem wir mit eigenen Augen gesehen hatten, wie andere Genoss:innen bombardiert und getötet wurden, weil es ihnen an Disziplin mangelte und sie sich zu der Zeit bewegten, als ihnen gesagt wurde, sich unter keinen Umständen zu bewegen. Gleichzeitig wussten wir, dass unsere Genoss:innen bluteten und dass der Unterschied zwischen Leben und Tod in einem solchen Fall in Sekunden berechnet wird. Wir wussten, dass die Wahl zwischen dem fast sicheren Tod mehrerer Genoss:innen und der Entsendung eines Sanitäter:innenteams bestand, um sie zu retten, das wahrscheinlich ebenfalls bombardiert und getötet werden würde. In solchen Momenten kann man sich nur vorstellen, was in den Köpfen der verwundeten Genoss:innen vor sich geht und was man fühlen und denken würde, wenn man verbrannt und blutend am Boden liegen würde und sich bewusst wäre, dass man als Falle benutzt wird. Das ist eine spezifische psychologische und taktische Situation, mit der wir zu tun hatten. Diese Strategie wird vom türkischen Militär bewusst eingesetzt, indem es sich die psychologischen Auswirkungen von Luftangriffen, Drohnenüberwachung und Raketen zunutze macht.

SDF hatte dies bereits in den Jahren 2016-2017 bei Zusammenstößen um Al-Bab erlebt, als die Türkei Drohnen und Luftangriffe einsetzte. Im Krieg gegen Daesh konnten wir die Positionen der Dschihadisten sehen, die von Luftangriffen getroffen wurden. Jetzt sind wir die Ziele, die von den ausgebildeten Operatoren der zweitgrößten Armee der NATO kalt beobachtet werden.

-Wie hat sich das Verhältnis zwischen der Selbstverwaltung und den Vereinigten Staaten im letzten Jahr verändert? Was scheinen die aktuellen Prioritäten der Vereinigten Staaten in der Region zu sein?

Şahîn: Man konnte dem US-Militär an der Front im Kampf gegen Daesh in Feldlazaretten, Artilleriepunkten und durch Luftunterstützung begegnen. Das passiert nicht an den Fronten gegen die Türkei.

Die Türkei begann ihre Offensive ein paar Tage nachdem Trump den Rückzug der USA aus Syrien angekündigt hatte. Das war alles inszeniert; die USA würden die Ölfelder nicht so einfach verlassen – und das haben sie auch nicht. In den Monaten vor der Invasion positionierte sich die US-Armee als Vermittler und schloss verschiedene Vereinbarungen mit der Türkei und der SDF unter dem Vorwand, eine ›friedliche‹ Lösung sicherzustellen. Am Ende kooperierte die SDF zur Frustration vieler, indem sie mehrere Verteidigungspositionen aufgaben, schwere Waffen 30 Kilometer vor der Grenze zurückzog, das Personal an den militärischen Grenzpunkten verringerte und türkische bewaffnete Fahrzeuge zusammen mit US-Fahrzeugen innerhalb der befreiten Zone patrouillieren ließ.

Nichts davon war von Bedeutung. Trump traf seine rücksichtslose Entscheidung. Am Ende schwächten all diese Schritte nur die Verteidigung und erleichterten die Invasion von Erdoğan und seinen Dschihadisten-Proxies.

Nicht jede:r in Nordost-Syrien ist ein:e Revolutionär:in. Einige sahen die USA als eine positive Kraft, angesichts der Tatsache, dass sie dabei halfen, Daesh zu verjagen und auf der Seite der Heval [»Freund:innen« in Rojava] standen, die eine echte Alternative zu Kräften wie Bashar Assads Regime, ISIS oder TFSA [die von der Türkei unterstützte Freie Syrische Armee – die von der Türkei unterstützten Dschihadistengruppen bei der Besetzung Nordsyriens] darstellen. Nach diesem Verrat verstand jede:r in der Region die andere Seite des Schwertes der US-Politik. In der ganzen Gesellschaft wurden schnell Gefühle des Misstrauens deutlich.

Die SDF verstehen, dass der Bürgerkrieg in Syrien komplexe Herausforderungen mit sich bringt. Daher haben sie nicht den Weg der Vergeltung eingeschlagen, sondern versuchen, sich so zu positionieren, dass sie die Verteidigung der Bevölkerung so weit wie möglich sicherstellen. Auf dem Feld bedeutet dies, dass die Zusammenarbeit mit der US-Armee an einigen Orten weitergeht, obwohl die SDF voll und ganz versteht, dass die USA ihre Waffen nicht gegen die Türkei richten würden, um Nordost-Syrien zu verteidigen. Diese Widersprüche sind schwer zu verstehen und die SDF trägt Verantwortung gegenüber vielen verschiedenen Gruppen, die sehr schwer zu erfüllen sind.

Garzan: Was die Prioritäten der USA betrifft, können wir Henry Kissinger zitieren: »Amerika hat keine Freunde oder Feinde, nur Interessen.« Es gibt verschiedene Agenden hinter der US-Politik, und manchmal passen sie nicht einmal zueinander. Die Widersprüche zwischen dem Weißen Haus und dem Pentagon waren bei mehreren Gelegenheiten sichtbar. Als Trump erklärte, dass die US-Truppen in Syrien bleiben würden, um die Kontrolle über die Ölreserven zu behalten, und sich von den Grenzpositionen entfernten, wo die Türkei im Begriff war einzumarschieren, war das ein Hinweis auf unterschiedliche Prioritäten. Auf der einen Seite wollte das Weiße Haus Erdoğan gefallen, der Russland zu nahe kam und die Stabilität der NATO bedrohte. Auf der anderen Seite wollte das Pentagon die Ausbreitung des iranischen Einflusses des Schiitischen Halbmondes kontrollieren und die Fortschritte der schiitischen Milizen im Kampf gegen ISIS im Irak und in Syrien eindämmen. Ostsyrien verfügt über eine Reihe von Öl- und Gasvorkommen, und die US-Regierung wollte verhindern, dass die schiitischen Milizen die Kontrolle über sie erlangen und den Iran davon abhalten, einen vollständigen schiitischen Korridor zum Mittelmeer einzurichten, der den Iran, den Irak, Syrien und den Libanon verbindet.

Auf dem Boden sieht das aus, dass große gepanzerte Fahrzeuge mit US-Flaggen auf den Straßen austauschbarer Dörfer umherfahren und und Süßigkeiten an Kinder verteilen. Sie tauschten Bilder davon in sozialen Netzwerken aus und versuchten, sich von den Bildern von vor einem Jahr zu entfernen, als Kurd:innen nach dem Verrat, der zur türkischen Invasion führte, Steine und Tomaten auf ihre Autos warfen. Die Koalition [d.h. die SDF] führt Operationen gegen ISIS durch und unterstützt die Razzien der Antiterrortruppen gegen die Schläferzellen, aber sie führt auch Operationen in türkisch kontrollierten Gebieten durch, wie die, die scheinbar Abu Bakr Al-Bagdadi, den Führer des Islamischen Staates, getötet hat. Diese Operation wurde weltweit publik gemacht, wobei manchmal auch die nachrichtendienstliche Unterstützung durch die SDF erwähnt wurde.

-Rückblickend, wie sehen die Kämpfer:innen in Rojava die Beziehungen mit der US-Regierung, die zu der türkischen Invasion geführt haben?

Mazlum: Nur sechs Monate vor der türkischen Invasion, im Oktober 2019, hat die SDF Daesh in der Schlacht von Baghuz Fawqani militärisch besiegt, nach mehreren Jahren des Kampfes, der im Allgemeinen von der ›internationalen Gemeinschaft‹ unterstützt wurde. In diesem Zusammenhang gab es eine gewisse Vermutung, oder vielleicht besser gesagt eine Hoffnung, dass die internationale Gemeinschaft aus diesem Grund eine Invasion, die zum Abschlachten von Menschen im Nordosten Syriens führen würde, nicht zulassen würde. Daran hielten die Leute nicht bis zum letzten Moment fest, aber es war eine Frage, die sich jede:r stellte. Jetzt können wir zurückblicken und fragen: Was ist die internationale Gemeinschaft? Verstehen wir das als all die Menschen, Institutionen und Medien auf der ganzen Welt, die eine aktive internationale politische Haltung einnehmen und sich zu diesem Thema äußern? Oder ist es die Gruppe der Staatsoberhäupter mit ihren Ministerien und geopolitischen Interessen? Wenn letztere, dann können wir nichts anderes erwarten als die Entitäten, die heute Waffen an die Türkei verkaufen, morgen den Krieg verurteilen und übermorgen die Bedeutung und Unterstützung des NATO-Bündnisses bekräftigen, während sie gleichzeitig Wellen der Repression gegen die kurdische Befreiungsbewegung in ihren eigenen Ländern durchführen. Ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem politischen Establishment und den Staaten ist etwas, das Anarchist:innen mit vielen Menschen im Nordosten Syriens teilen. »Es gibt keine Freunde außer den Bergen« (Ji bilî çiya hevalên me tune ne), wie das kurdische Sprichwort sagt.

Und wenn wir unter der ›internationalen Gemeinschaft‹ all die Menschen, Institutionen und Medien auf der ganzen Welt verstehen, können wir uns einig sein, dass es wichtig ist, dass die Menschen über das, was geschieht, sprechen und es verbreiten. Aber ehrlich gesagt, wenn wir darauf hoffen wollen, dass die internationale Gemeinschaft die Invasion stoppt, müsste sie nicht nur gegen die Invasion protestieren, sondern vielmehr dagegen kämpfen und die türkische Kriegswirtschaft stören. Außerdem können wir sehen, dass wir als Anarchist:innen keine starke revolutionäre Bewegung haben, die stark genug ist, um ein Beispiel zu geben, dem man folgen könnte.

Die Frage an uns ist dann: wie sehr können wir uns auf den vagen Begriff ›die internationale Gemeinschaft‹ verlassen, wenn wir unsere Gesellschaften gerade jetzt verteidigen und verändern müssen? Und was ist es, das wir aufbauen und auf das wir uns verlassen können, damit wir nicht allein sind, wenn die Bomben auf unsere Köpfe fallen? Nicht nur im Hinblick darauf, dass wir in diesen Momenten physisch an der Seite unserer Genoss:innen sind, sondern vielmehr auf der Ebene des aufrichtigen Gefühls mit unseren Herzen, dass das, was wir verteidigen und wofür wir kämpfen, mit anderen Menschen und Orten auf der ganzen Welt verbunden ist?


-Wie hat sich das Verhältnis zwischen der Selbstverwaltung und Russland verändert?


Garzan: Die Beziehungen zu Russland waren schwierig seit sie Afrin 2018 an die türkische Invasion übergeben haben. Das war ein großer Verrat. Es führte dazu, dass die Selbstverwaltung sich mehr auf die USA verließ, bis sie das Gleiche taten und Serêkaniye und Gire Spi der türkischen Besatzung übergaben. Seit dem können wir beobachten, wie die Selbstverwaltung mehr Initiative in den diplomatischen Beziehungen mit der Russischen Föderation ergriff und versuchte, das Regime zu übergehen, um mit denjenigen zu verhandeln, die wirklich die Entscheidungen in Syrien treffen. Es ist wichtig, sich die große Zahl der Kurd:innen vor Augen zu halten, die in Russland leben – viel mehr als in den USA – was in Bezug auf die Diplomatie hilft.

Ihre Politik scheint immer ein Gleichgewicht zwischen den Beziehungen zu den USA und Russland zu finden. Zum Beispiel besuchte Ilham Ahmed, Vertreter des Syrischen Demokratischen Rates, Moskau einige Monate nach einer Konferenz im Weißen Haus. Nach der Vereinbarung über die Ölfelder in Deir Ezzor mit der undurchsichtigen amerikanischen Firma Delta Crescent wurden die Verhandlungen über die Gasfelder mit Gazprom, dem wichtigsten Energieunternehmen, das mit dem russischen Staat verbunden ist, eröffnet. Russland ist ein sehr pragmatischer Staat, was die Diplomatie betrifft – aber Russland konzentriert sich mehr auf die Türkei, nicht nur bei den Verhandlungen über Waffenverkäufe und andere wirtschaftliche Interessen, sondern auch, um sie von der NATO wegzubringen und die Vormachtstellung der USA zu schwächen.

-Wie ist das Machtverhältnissmomentan zwischen Assads Regierung und der Selbstverwaltung?

Şahîn: Die SAA [syrisch-arabische Armee, die militärische Kraft des syrischen Staates] ist an einigen der Fronten mit der Türkei präsent, obwohl dies eher eine Frage der Diplomatie ihrerseits ist. Es gibt einen gemeinsamen Feind, aber sehr unterschiedliche Ziele. Folglich haben sie viel weniger den Willen, gegen die Türkei zu kämpfen und ein anderes Verhältnis zu den Verbündeten.

Der Konflikt mit dem Assad-Regime ist eher politischer und wirtschaftlicher Natur. Genoss:innen verschwenden keine Energie und Ressourcen, um die SAA anzufechten und es wäre nicht die beste Wahl. Die Verhandlungen scheiterten, weil die Positionen zu unterschiedlich und zu hartnäckig waren, um einen gemeinsamen Weg zu finden. Assad versucht, die Revolution zu untergraben, indem er den Bäuer:innen bessere Preise anbietet, den Strom kappt und ähnliche Taktiken anwendet. Er hat keine Unterstützung bei der kurdischen Bevölkerung im Nordosten Syriens, aber bei der arabischen und assyrischen Bevölkerung ist es komplexer. Er versucht, das Spiel von Teilen und Herrschen zu spielen. Genoss:innen wissen das. Es ist bereits eines der Ziele der Revolution – demokratischer Konföderalismus – nicht, die neue Gesellschaft auf eine einzige nationale oder ›ethnische‹ Identität zu gründen, sondern Wege zu finden, wie verschiedene Gemeinschaften zusammenleben können, vielleicht mit semi-autonomen Gebieten auf demselben Land. Dies ist einer der Schlüsselpunkte der staatenlosen Lösung, die auf Öcalans Vorschlag basiert.

Garzan: Assads Regierung basiert auf der Logik des Nationalstaates. Sie überlebten den Krieg durch den äußeren Einfluss Russlands, aber auch durch den inneren Einfluss harter nationalistischer Fraktionen, wie der nationalen sozialistischen Partei Syriens. Dies macht es ihnen unmöglich, den Vorschlag der demokratischen Nation und das von der Selbstverwaltung vorgeschlagene konföderale Modell zu akzeptieren. Wenn die Verhandlungen nicht vorankommen, kehrt das Regime zu den Strategien zurück, die alle Staaten anwenden, um ihre Hegemonie – Gewalt und Unterdrückung – zu sichern. Im Sommer 2019 zerstörte eine Welle von Bränden die Erntefelder im Nordosten Syriens. Weizen ist eine der Hauptressourcen Nordost-Syriens, so dass dies ein harter Schlag für die Wirtschaft der Selbstverwaltung war. Anfangs vermuteten die Leute, dass Daesh dahinter steckte, aber die meisten Leute, die beim Anzünden der Feuer verhaftet wurden, stellten sich als Mitglieder der Geheimdienste des Assad-Regimes heraus. Im November, als Folge der türkischen Invasion, gab die gemeinsame Bedrohung der syrischen territorialen Integrität Anlass zu Verhandlungen, die zu einem Abkommen über einen gemeinsamen Einsatz an der türkischen Grenze führten. Beide Streitkräfte sind an vorderster Front im Kampf gegen die TFSA, aber die politischen Verhandlungen kamen nicht voran. Nun beginnt Russland einen Vermittlungsprozess und unterstützt öffentlich einige der Forderungen der Selbstverwaltung, darunter ein gewisses Maß an Autonomie, politische Vertretung im Verfassungskomitee und den Genfer Friedensgesprächen, und der Wandlung Syriens zu einem föderalen System. Das Regime ist darüber nicht sehr glücklich, aber ihre Abhängigkeit von russischer Unterstützung macht es ihnen schwer, sich den Entscheidungen Russlands zu widersetzen.

-Rückblickend auf die erste Phase der syrischen Revolution aus diesem Blickwinkel – gab es irgendwelche verpassten Gelegenheiten zu Beginn des Prozesses?

Garzan: Es ist sehr interessant, über die ersten Jahre der Revolution, den sogenannten arabischen Frühling, nachzudenken, um zu analysieren, wie die Ereignisse aufeinander folgten und uns dorthin brachten, wo wir heute sind. In dieser Zeit, vor fast zehn Jahren, haben sich viele verschiedene Kräfte gegen die Hegemonie von Assads Regime gestellt. Kurz gesagt, wir können sagen, dass die erste Welle der demokratischen Aufstände zusammenbrach, als die Situation zu einem bewaffneten Konflikt eskalierte – aber die Geschichte ist komplizierter als das. Diese Welle der demokratischen Aufstände war vielfältig und organisch, wie die in verschiedenen Städten organisierten Gemeinderäte mit einer revolutionären Perspektive. Es entstand ein Netzwerk von Gemeinderäten, beeinflusst durch das Leben und die Arbeit von Omar Aziz, einem syrischen Anarchisten, der aktiv an den Aufständen teilnahm, bis er verhaftet wurde und in den Gefängnissen von Damaskus starb. Diese Aufstände wurden von den westlichen Gesellschaften unterstützt, und das Regime wusste, wie gefährlich eine Bewegung sein kann, wenn sie die Unterstützung der westlichen öffentlichen Meinung gewinnt.

Auf der militärischen Seite markierte die Gründung der FSA (Freie Syrische Armee) in Opposition zur SAA (Syrisch-Arabische Armee) den Beginn des Bürgerkriegs. Das Assad-Regime bemühte sich, die revolutionären Kräfte zu zerschlagen und es anderen Strömungen zu ermöglichen, die Kontrolle über die Aufstände zu erlangen, was den salafistischen und anderen islamistischen Gruppen die Tür zur Machtübernahme öffnete. Sie ließen islamische Fundamentalisten aus den Gefängnissen frei, um Platz für die Aktivist:innen zu schaffen, die die Aufstände organisierten. Die militärische Eskalation schadete den demokratischen, sozialistischen und säkularen Bewegungen, während die salafistischen Gruppen eher daran gewöhnt waren, im Verborgenen und nicht als eine aufständische Kraft zu operieren. Als Daesh 2013 begann, nach Syrien einzudringen, spalteten sich mehrere islamistische Fraktionen von der FSA ab und schlossen sich ISIS an. Als al-Baghdadi 2014 das Kalifat in Mosul ausrief und ihre Truppen aus dem Irak nach Syrien zogen, begannen sie an den hinteren Linien der FSA vorzurücken. Mit dem Regime auf der einen Seite und ISIS auf der anderen wurden die Gebiete, die unter der Kontrolle der Opposition standen, unter den Flaggen des Kalifats zerschlagen.

In Rojava war die Situation anders. Die Erfahrung des langjährigen Widerstandes der kurdischen Bewegung, besonders in den letzten dreißig Jahren des Krieges gegen den türkischen Staat, hat sie gerüstet, die krampfhaften Wellen der Ereignisse zu meistern. Am Anfang gelang es der kurdischen Bewegung, die Vertreter des Assad-Regimes mit minimalem Einsatz von Gewalt zu verdrängen, indem sie einfach den Regimesoldaten zahlenmäßig überlegen waren und sie zwangen zu gehen. Die Kurd:innen nutzten die Gelegenheit in diesen konvulsiven Zeiten eine Revolution zu beginnen, aber sie hielten sich aus Misstrauen und Vorsicht von der arabischen Opposition fern. Wir sollten die Unterdrückung nicht vergessen, die die Kurd:innen als Minderheit erlebt hat – ihre Sprache wurde nicht anerkannt, ihre Nationalität in Frage gestellt und die Wahrscheinlichkeit, im Gefängnis zu landen oder in Armut zu leben war viel höher als bei den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft.

Und selbstverständlich gab es auch Spaltungen innerhalb der kurdischen Bevölkerung. Bewaffnete kurdische Milizen waren gespalten zwischen der YPJ/YPG, die der PYD [eine politische Partei, die den Ideen des demokratischen Konföderalismus verpflichtet ist] loyal ist, Milizen, die mit der PDK-Syrien verbunden sind [eine politische Partei, die mit der PDK des Irak verbunden ist, der einflussreichsten Partei in der Regionalregierung Kurdistans im Irak], und anderen Milizen ohne klare Zugehörigkeit. Kurdische Milizen waren an einigen Zusammenstößen gegen das Regime beteiligt, aber die ersten größeren Zusammenstöße fanden statt, als die YPJ/YPG begann, gegen islamistische Gruppen wie Jabhat al-Nusra, den syrischen Zweig der al-Qaida, zu kämpfen. Als die Kämpfe eskalierten und sich der Krieg verschärfte, wurden schwächere Fraktionen von stärkeren Fraktionen absorbiert oder lösten sich einfach auf. Als ISIS 2013 begann, nach Syrien einzudringen, mussten sich die oppositionellen Fraktionen für eine Seite entscheiden – für Daesh oder gegen sie. Zu dieser Zeit begann eine Koordination zwischen der YPJ/YPG und anderen revolutionären Oppositionsgruppen unter dem Namen Euphrates Volcano. ISIS gewann an Boden und Stärke und begann mit der Belagerung von Kobanê, wo es schließlich besiegt wurde. Die SDF formierte sich und begann die Offensive gegen das Kalifat. Dieses Video bietet einen vollständigen Überblick darüber, wie sich das Territorium während des Konflikts verschoben hat.

Es ist schwierig zu bestimmen, was anders hätte verlaufen können. Wir können uns verschiedene Szenarien vorstellen, aber das wäre eine rein subjektive Spekulation.

Der erste Gedanke, der uns in den Sinn kommt, ist, dass, wenn Bashar al-Assad in den ersten Monaten des Aufstandes mit der Opposition verhandelt hätte, wir uns einen Übergangsprozess vorstellen können, in dem einige Reformen im syrischen Staat begonnen hätten, einige Zugeständnisse an die Opposition gemacht worden wären und Teile der Opposition nach einer Strategie von Teilen und Herrschen in den Staat integriert worden wären. Dies hätte die Bewegungen, die auf eine radikale Transformation drängen, isoliert – auf der einen Seite die kurdische revolutionäre Bewegung und auf der anderen Seite die salafistischen Gruppen wie al-Nusra. In diesem Szenario können wir uns eine kurdische politische Opposition vorstellen, die versucht, ihre Forderungen an die Übergangsregierung zu bringen; aller Wahrscheinlichkeit nach wären ihre Forderungen abgewiesen worden. Jeder Versuch einer revolutionären Bewegung in den kurdischen Gebieten wäre von der syrisch-arabischen Armee zerschlagen worden, die in diesem Szenario nicht damit beschäftigt gewesen wäre, die großen Städte zu verteidigen. Dieses Szenario beinhaltet keine Möglichkeiten, die revolutionäre Situation zu verbessern.

Ein zweites Szenario hätte eine organischere Koordination zwischen der revolutionären Opposition und der kurdischen Bewegung beinhalten können, in der eine breitere Revolution das Regime zu Fall bringen würde, bevor es die Unterstützung aus Russland festigen hätte können. Ich glaube, dies war das Szenario, das Bashar al-Assad am meisten gefürchtet hat, und deshalb hat er sich so sehr bemüht, die Opposition zu zerschlagen, die Mobilisierungen zu bombardieren und die Islamisten aus dem Gefängnis zu entlassen, um sicherzustellen, dass die Opposition von salafistischen Gruppen kontrolliert wird. Ein weiterer Faktor, der dieses Szenario schwierig machte, war das Fehlen einer bereits existierenden organisierten revolutionären arabischen Bewegung in Syrien, die vor der Revolution organische Verbindungen mit der kurdischen revolutionären Bewegung entwickeln konnte. Sobald der erste Schuss gefallen ist, machen es die Notfälle des Krieges sehr schwierig, neue Brücken zu bauen. Der bereits erwähnte »Euphrates Volcano« war ein guter Schritt in diese Richtung. Vielleicht hätte es schon früher passieren können, aber die Opposition war ein Mosaik aus verschiedenen Gruppen und Fraktionen, was es schwierig machte, eine Koordination mit einer formellen Organisation wie der kurdischen Befreiungsbewegung herzustellen. Nun können wir der kurdischen Bewegung vorwerfen, dass sie sich nicht mehr für dieses Szenario einsetzt, aber wir müssen verstehen, dass die erste große Begegnung zwischen der YPG und der FSA in der Schlacht von Aleppo stattfand, während Al-Nusra wiederholt das kurdische Viertel von Scheich Maqssod bombardierte. Diese Zusammenstöße erschwerten die Koordination mit der Opposition. Aber in einem Szenario mit besserer Koordination wäre Bashar al-Assad gefallen.

In einem dritten möglichen Szenario, in dem die Dinge anders hätten verlaufen können, hätte Kobanê 2014 an ISIS fallen können. In diesem Fall wäre die Revolution zerschlagen worden, Erdoğan wäre erleichtert und das Kalifat wäre immer stärker und stärker geworden. Das Spiel wäre vorbei. Dies hätte erhebliche geopolitische Auswirkungen haben können. Es gibt keine revolutionären Möglichkeiten in diesem Szenario.

In einem anderen potentiellen Szenario, von dem die kurdischen Ungterstützer:innen träumten, hätten die drei Kantone entlang der türkischen Grenze, die eine beträchtliche kurdische Bevölkerung haben, miteinander verbunden werden müssen. Nach der Befreiung von Kobanê starteten die YPJ/YPG die Kampagne, die Serêkaniye und Tal Abyad befreite und die Kantone Kobanê und Cizire miteinander verband. Die Operationen zur Verbindung mit dem letzten Kanton, Afrin, begannen aus beiden Richtungen. Dies war das Szenario, das die Türkei am meisten fürchtete: eine ganze Grenze unter der Kontrolle kurdischer revolutionärer Kräfte hätte ein Alptraum für das Regime von Erdoğan sein können. Als Manbij an der Kobanê-Front befreit wurde und sich die Afrin-Front über den Tal Rifat zu verlagern begann, startete die Türkei die Operation »Euphrats Schild«, ein verzweifelter Versuch, die Einrichtung eines vollständigen Korridors unter kurdischer Kontrolle entlang der Grenze zu blockieren. Das Rennen um Al-Bab wurde zu einer verrückten Situation von großer Bedeutung. Die Zusammenarbeit zwischen dem türkischen Staat und dem Islamischen Staat spielte eine entscheidende Rolle, wobei ISIS sich zurückzog, damit die türkische Armee diese Gebiete übernehmen konnte. Als die türkischen Soldaten die Tore von Al-Bab erreichten, war der Traum, die Kantone zu verbinden, vorbei.

Zum Schluss ist noch etwas über die Gründung der SDF zu erwähnen. Die SDF war ein militärischer Schirm, der zum Teil geschaffen wurde, um es der von den USA geführten Internationalen Koalition zu ermöglichen, die kurdischen Kräfte zu unterstützen, ohne mit der Türkei zu kollidieren. Die Türkei hat den Vereinigten Staaten gedroht, dass sie aus der NATO austreten würden, wenn die USA die YPJ/YPG unterstützen würden, also haben die USA den Schirm der SDF genutzt, anstatt die YPJ/YPG direkt zu unterstützen. Für die kurdische Befreiungsbewegung war dieser Schritt notwendig um das Überleben von Rojava zu sichern, um ISIS zu bekämpfen, ohne die Türkei die Revolution zerschlagen zu lassen. Gleichzeitig schuf er eine Abhängigkeit von der globalen imperialistischen Hegemonie, mit allen Widersprüchen und Problemen, die das mit sich bringt. Hätte es damals eine starke internationale revolutionäre Bewegung gegeben, hätten die Dinge ganz anders laufen können.

Heute sind wir aufgrund dessen, was vorher passiert ist, da, wo wir sind, und wir müssen daraus lernen. Als Internationalist:innen können wir sehen, dass unsere Rolle, auch wenn sie in einigen Medien weithin bekannt gemacht wurde, kaum mehr als symbolisch war. Wir sind weit davon entfernt, so etwas wie die 50.000 Internationalist:innen mobilisieren zu können, die im spanischen Bürgerkrieg gekämpft haben, und die meisten von uns waren keine sehr erfahrenen Revolutionäre, als wir hier ankamen. Aber wir haben die Gelegenheit, aus dem Kampf in Syrien zu lernen und die Pflicht, diese Erfahrungen auf andere revolutionäre Bewegungen zu übertragen. Eine klare Lektion ist, dass revolutionäre Bewegungen Zeit und Erfahrung brauchen, um darauf vorbereitet zu sein, eine bedeutende Rolle in jedem Konflikt zu spielen, denn der einzige Weg, wie wir es tun können, ist, eine Organisation zu entwickeln und eine Massenbewegung zu werden, die mit der Gesellschaft verbunden ist.

-Welche verschiedenen Szenarien könnt ihr euch vorstellen, was als nächstes in der Region passieren könnte? Wie können Aktionen oder Entwicklungen außerhalb der Region bestimmen, welches dieser Szenarien sich ereignen wird?

Garzan: Es ist schwierig, sich positive Szenarien vorzustellen. Es gibt eine Menge äußerer Faktoren, die die Entwicklung der Situation beeinflussen werden, aber ich kann mir drei wahrscheinliche Szenarien vorstellen.

1) Erstens könnten wir eine fortschreitende Deeskalation des Konflikts und eine Stabilisierung der Region sehen. Dies würde Verhandlungen zwischen der Selbstverwaltung und dem syrischen Staat mit der Vermittlung Russlands beinhalten, um eine Art formalen Status der Autonomie zu erreichen. Dies würde wahrscheinlich dazu führen, dass die politische Oppositionspartei, die mit der MSD (Meclîsa Sûrîya Demokratîk, das Organ der auf syrisch-nationaler Ebene arbeitenden autonomen Verwaltung) verbunden ist, bei den Wahlen in Syrien kandidiert, auf eine gewisse Demokratisierung und Reformen drängt, um Kurd:innen und andere Minderheiten anzuerkennen, und ein gewisses Maß an Selbstverwaltung für Nordost-Syrien formalisiert.

2) Alternativ könnten wir die Fortsetzung der türkischen Invasion sehen. Dies könnte passieren, wenn die Türkei grünes Licht bekommt, Kobanê anzugreifen und die Stadt zu besetzen, die ISIS aufgehalten hat, oder vielleicht eine andere Grenzstadt wie Dirbesiye oder Derik. Die Selbstverwaltung kann der Türkei nicht erlauben, mehr Territorium zu besetzen, also würde dieses Szenario wahrscheinlich zu einem »All-In« letzten Widerstand gegen die Invasion führen. Dies würde auch zu einer Neuorganisation des Daesh führen, wenn die Besatzungstruppen die Gefängnisse erreichen, in denen gefangen genommene ISIS-Kämpfer festgehalten werden, was die Destabilisierung der Region vertiefen würde.

3) In einem dritten Szenario, dem von den Revolutionären am meisten erwünschten, bricht das Regime von Erdoğan zusammen. Es ist möglich, dass Kämpfe an zu vielen offenen Fronten zu einer Krise des türkischen Staates führen könnten. Im Idealfall könnte die Rojava-Revolution zum Bauplan für Revolutionen in der Türkei und im Mittleren Osten werden und die Möglichkeit einer breiteren revolutionären Bewegung eröffnen.

Die verschiedenen Konflikte und Machtdynamiken im Mittleren Osten könnten für die Selbstverwaltung Nordost-Syriens Möglichkeiten eröffnen oder schließen mit verschiedenen Akteuren in der Region zusammenzuarbeiten. Die Staaten, die eine bedeutende kurdische Bevölkerung haben – die Türkei, der Iran, der Irak und Syrien, aber auch der Libanon und Armenien – werden diese Entwicklungen ebenso beeinflussen wie die geopolitischen Mächte, die Einfluss auf Syrien haben:Russland und die USA. Die nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA könnten eine Veränderung für ihre externe Agenda bedeuten; es ist kein Geheimnis, dass Trump und Erdoğan nicht nur persönliche Beziehungen, sondern auch geschäftliche Interessen haben. Natürlich kann auch die öffentliche Meinung eine einflussreiche Rolle spielen. Der Widerstand des kurdischen Volkes hat weltweit die Aufmerksamkeit und Sympathie der Medien gewonnen.

Şahîn: Viele der oben genannten Faktoren sind Dinge, über die wir keine Kontrolle haben. Deshalb ist es sehr wichtig, darüber nachzudenken, wie wir uns in verschiedenen Szenarien positionieren würden und was dies für die heutige Organisation, Vernetzung und Vorbereitung bedeutet. Der Blick nach vorne kann uns helfen, unsere Schritte heute zu bestimmen, um gute Entscheidungen über die Dinge zu treffen, die wir kontrollieren können.

Es ist wichtig, über die Möglichkeiten dieser Region hinaus zu sehen und international zu handeln. Kein Ort auf der Welt, der es wagt, das Grundgerüst des Nationalstaates, des Kapitalismus und des Patriarchats in Frage zu stellen, kann in Isolation erfolgreich sein. Der Kampf der Menschen inRojava ist etwas, das wir in verschiedene Kontexte übersetzen müssen. Nicht kopieren und einfügen, sondern übersetzen. Unsere Şehîd – unsere Genoss:innen, die gefallen sind – sind eine große Inspiration für uns und wenn wir über dieses Thema sprechen, hallen die Worte von ş. Helîn Qaraçox (Anna Campbell) wirklich nach:

»Wenn wir siegreich sein wollen, müssen wir zugeben, dass unser Kampf heute ein Kampf um alles oder nichts ist, es ist die Zeit der Tapferkeit und der Entscheidung, die Zeit der Koordination und der Organisation, es ist die Zeit des Handelns.«

Wir wünschen uns mehr Menschen, die sagen, dass sie z.B. Rojava oder die YPJ unterstützen, um zu lernen, was das in der Tiefe bedeutet, um sich umzuschauen und ihre eigenen Kobanês anzustreben. Nicht im wörtlichen Sinne, sondern im Hinblick auf die Werte, die wir kollektiv aufbauen und die Notwendigkeit, sie zu verteidigen. Wir können ähnliche Herausforderungen in vielen Aspekten unseres Lebens finden. Wir brauchen nur den Willen zur Veränderung (The will to change – nebenbei bemerkt eines unserer Lieblingsbücher). Rojava kann nicht alleine überleben, trotz all der Unterstützung, die es bekommt. Ein starkes revolutionäres Engagement muss sich parallel auf globaler Ebene entwickeln.

-Wie hat sich die anarchistische Präsenz in Syrien im Laufe der Jahre verändert, von ihren Anfängen bis hin zur IRPGF und TA? Welche Entwicklungen oder Bedrängnisse haben diese Veränderungen verursacht?

Garzan: Die Anarchist:innen kamen nach Rojava, inspiriert von den Ideen der revolutionären Bewegung, dem Geist der internationalen Solidarität und dem Willen zur Schaffung einer staatenlosen Gesellschaft beizutragen. Am Anfang war jede:r Internationalist:in in die YPJ/YPG integriert, aber mit der Zeit wurden einige autonome Gruppen gebildet. Die IRPGF war die erste anarchistische Gruppe, die öffentlich ihre Anwesenheit in Rojava verkündete. Sie konzentrierten sich auf die militärischen Bemühungen, den Kampf gegen ISIS und auch auf die Produktion von Propagandamaterial, um die Welt wissen zu lassen, dass Anarchist:innen in Rojava kämpfen. Das war ein wichtiger Schritt, um Anarchist:innen, die an der Revolution teilnehmen, sichtbar zu machen. Doch die IRPGF war nicht in der Lage, eine solide Struktur zu entwickeln, die sie aufrechterhalten konnte und nach einem Jahr der Aktivität und einem weiteren Jahr der Inaktivität wurde sie offiziell aufgelöst.

Tekoşîna Anarşîst entstand mit der Absicht, die Revolution aus einer anarchistischen Perspektive kennen zu lernen und diese Erfahrungen auf unsere Bewegungen zu übertragen, nicht nur auf militärischer Ebene, sondern auch auf ideologischer, politischer und sozialer Ebene.

Die Interaktion mit anderen revolutionären Gruppen in Rojava zwang uns dazu, gründlicher darüber nachzudenken, was es bedeutet, eine revolutionäre Organisation zu sein, wie wir verstehen, was Engagement bedeutet, wie wir Strategie und langfristige Ziele konzipieren…

Şahîn: Viele Anarchist:innen, die hier ankommen, haben bereits Kritik am identitätsbasierendem, liberalen oder subkulturellen Charakter von Teilen des Anarchismus im Westen geübt. Aber wenn du hier bist, spielen sich diese Kritiken jeden Tag auf einer persönlichen Ebene ab. Es ist eine ganz andere Kultur und es gibt viele Menschen und Strukturen mit einer langen Erinnerung an den Kampf. Also ist unsere eher kleine Gruppe hier nicht außergewöhnlich. Wir sind gezwungen, konservativer zu sein, wie wir uns selbst führen, die lokalen sozialen und revolutionären Codes und Konventionen zu lernen, einschließlich der lokalen Sprachen, und Beziehungen aufzubauen, die auf Vertrauen und nicht auf dem Lebensstil basieren. Das ist nicht immer einfach, aber es lohnt sich. Es spielt keine Rolle, was auf deinem T-Shirt steht (da wir nicht in T-Shirts herumlaufen und die Leute kein Englisch sprechen können), sondern wie du im Alltag nach deinen Werten handelst. Das bringt eine Tiefe und Aufrichtigkeit, die wir gesucht haben, aber oft an den Orten, von denen wir kommen, nicht finden konnten. Jede Herausforderung bringt Reflexionen und neue Perspektiven mit sich, und wir gehen hier in vielerlei Hinsicht durch Veränderungen. Eine der Aufgaben der Organisation ist es, eine gemeinsame Plattform für diese Reflexionen und Erfahrungen anzubieten, damit die Lektion, die eine Person lernt, zu einer Lektion für alle werden kann, damit wir uns gemeinsam auf eine kollektivere Art und Weise entwickeln können.

Dasselbe gilt für unsere Herangehensweise an Wissen, Fähigkeiten und Analysen. Unsere Mitglieder, die mit der Frauenbewegung arbeiten, tun dies nicht, um selbst Spezialist:innen zu werden, sondern um die Entwicklung aller zu erleichtern, genau wie die Genoss:innen, die neue Erfahrungen oder fortgeschrittene Kenntnisse auf dem Gebiet der Kampfmedizin haben. Sie müssen dafür sorgen, dass das Kollektiv zumindest auf einem grundlegenden Niveau aufholen kann. Mit Ideologie, Philosophie und anderen Perspektiven im Allgemeinen versuchen wir sicherzustellen, dass jede:r Zugang hat. Bei praktischen Projekten werden die Leute in den Arbeitsgruppen unweigerlich spezialisierter, dennoch sollten wir neuen Genoss:innen gegenüber inklusiv und offen sein Bildung anzubieten.

Wir halten es für wichtig, eine Organisation zu haben, die jeden Tag mit den Einheimischen und anderen Gruppen interagiert – einige Mitglieder gehen für Monate weg, um an verschiedenen Orten zu arbeiten – und die dennoch als Basis dient, um unsere Perspektiven und zukünftigen Ziele gemeinsam festzulegen. Wir sollten auch erwähnen, dass viele Anarchist:innen nach Nordost-Syrien kommen, ohne sich der TA anzuschließen, und sich anderen Strukturen anschließen. TA vertritt nicht alle Anarchist:innen und andere revolutionäre Internationalist:innen in der Region.

Ceren: Während der gesamten Rojava-Revolution hat sich eine Sache nicht geändert: nämlich dass die Mehrheit der anarchistischen Frauen und Nichtmänner, die nach Rojava kommen, sich nicht unserer spezifisch anarchistischen Struktur anschließen, sondern stattdessen der YPJ, der Frauenbewegung, oder einem anderen Teil der Bewegung hier beitreten. Viele Genoss:innen haben die Ansätze der Frauenbewegung als sehr kompatibel mit ihrer anarchistischen Politik gesehen. Ich denke, das ist etwas, was Anarchist:innen in den Orten, aus denen wir kommen, oft übersehen – dass es hier Anarchist:innen gibt, besonders Frauen, deren anarchistische Politik sie dazu bringt, sich anders zu organisieren als wir. TA ist eine anarchistische Struktur in Rojava, aber sie repräsentiert nicht die gesamte anarchistische Präsenz in Rojava. Anarchistische Tendenzen und Genoss:innen sind in der Bewegung selbst präsent. Viele der größten Veränderungen, die wir gesehen haben, haben in uns selbst stattgefunden. Unser Kollektiv hat sehr darum gekämpft, ein tieferes Verständnis für unsere eigene Politik und auch für die Ideen und Praktiken der Bewegung hier zu entwickeln, und wir sind der Bewegung hier in einigen Punkten näher gekommen, obwohl wir immer noch Unterschiede haben. Ich glaube, die Bewegung kommt auch dazu, uns besser zu verstehen.

-Reflektiert über eure Erfahrungen mit TA als ein Experiment der anarchistischen Intervention und Solidarität.

Şahîn: Ich denke, die Art und Weise, wie wir hierher gekommen sind und hier handeln, ist ein Experiment anarchistischer Intervention und Solidarität. Unsere Kommentare weiter oben sollten den Unterschied zwischen Nächstenliebe und der Solidarität, die wir hier zu leben versuchen, verdeutlichen. Innerhalb dieser Solidarität gibt es auch Raum für kritische Standpunkte und den Raum, um nach einigen Misserfolgen voranzukommen. Ein vielleicht greifbares Beispiel ist die Annäherung an nicht-binäre, schwule und transsexuelle Genoss:innen. Wir halten es für wesentlich, dass trans- und nicht-binäre Freund:innen kommen und sich dem Kampf hier anschließen können; gleichzeitig ist es entscheidend zu verstehen, wie sensibel das Thema hier ist. Auf der Grundlage der Lehren aus der Vergangenheit versuchen wir, unterstützend zu wirken und ein integratives Umfeld zu schaffen, während wir uns mit den besonderen Bedingungen dieser Region auseinandersetzen, die manchmal sehr heikel sein können und von einigen Internationalist:innen nicht immer auf die vernünftigste Art und Weise angegangen wurden.

Botan: Wir bleiben militant in unserer Verpflichtung, uns mit Stolz als unser wahres Selbst zu zeigen, aber wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt: der beste Weg, das hier zu tun, ist der Aufbau von Beziehungen. Es ist auch wichtig, sich nicht vorzustellen, dass die westlichen LGBTQ-Leute die einzigen sind, die sich ernsthaft und in gutem Glauben mit diesen Themen beschäftigen. Jineolojî und andere Strukturen, die sich mit der Frauenbefreiung befassen, greifen auch Gender-Themen auf, die über das hinausgehen, was wir uns als ausschließlich für Frauen vorstellen können. Diese Fragen sind hier noch lange nicht geklärt. Mit diesem Aspekt unserer revolutionären Aufgabe, wie auch mit anderen, haben wir gelernt, dass die Verbindung mit unseren Genoss:innen, auch mit denen, die nicht mit uns übereinstimmen, wichtig ist. Diese Ideen existieren nicht, es sei denn, sie existieren für uns in unserem täglichen Leben.

Es gibt hier viele queere Internationalist:innen, einige nichtbinäre Menschen und sogar einige Menschen, die einen medizinischen Wandel durchgemacht haben oder sich in einem medizinischen Wandel befinden. Es ist schwierig, aber nicht unmöglich, auf diese Weise als Internationalist:in hier zu existieren. Eine sichtlich transsexuelle Person, die hierher kommt, muss in Betracht ziehen ihren Kampf innerhalb dieser Gesellschaft als Teil ihrer Militanz zu sehen Wir haben aus der Erfahrung einiger TA-Mitglieder gesehen, dass manchmal Einheimische, die einen schlechten Blick auf Transsexuelle oder Schwule haben, immer noch bereit sind, mit uns als Genoss:innen zu arbeiten und mit der Zeit ihre Ansichten zu ändern, wenn sie uns als Menschen kennen lernen und unser Engagement für unsere gemeinsame Aufgabe sehen.

Şahîn: Ein weiteres besonderes Beispiel für anarchistische Intervention und Solidarität könnte die Analyse des Bedarfs an Kampfmedizin sein. Wir haben gesehen, dass es im Kampf der Bevölkerung, aus dem wir jeden Tag lernen, eine kleine Lücke gibt, bei der wir helfen können, sie zu füllen. Wir haben dies in einem früheren Interview näher erläutert:

»Unsere Teams waren definitiv nicht die ersten und auch nicht die einzigen, die in Nordost-Syrien als Kampfmediziner:innen arbeiteten, aber vor allem am Anfang war es eher selten. Wenn wir zurückblicken, sehen wir, dass es drei Ziele innerhalb dieser Arbeit gab. Erstens, diese Arbeit tun zu können, zu lernen und bereit zu sein, wann immer es nötig ist, durch unsere Arbeit Vertrauen zu gewinnen und den verletzten Genoss:innen so schnell wie möglich Hilfe zu leisten. Zweitens, mit den lokalen Kräften auf eine Art und Weise zu kooperieren, die durch die Praxis zeigt, dass dies eine sehr wichtige Arbeit ist, und darauf zu drängen, diese Rolle in den Reihen der SDF zu entwickeln. Und drittens, um zu sehen, wie wir das Wissen und die Fähigkeiten mit einigen interessierten Genoss:innen teilen können, um diejenigen, die diese Arbeit tun, zu vermehren, indem wir die Ausbildung für andere Gruppen organisieren, um mehr Hilfe an der Front zu leisten. Wir sahen, dass es nicht genug ist, eine Gruppe von Kampfmediziner:innen zu sein, und dass jede Person in der Lage sein sollte, ihren Genoss:innen zu helfen, wenn sie verletzt sind, und auch sich selbst zu behandeln. Wir haben uns selbst und Genoss:innen von anderen internationalistischen revolutionären Strukturen ausgebildet, und erst kürzlich haben wir zum ersten Mal eine Ersthelfer:innen-Ausbildung für SDF-Kräfte gegeben, was ein sehr wichtiger Schritt und auch eine angenehme Erfahrung war. Hier ist jeder ein:e Schüler:in und ein:e Lehrer:in zur gleichen Zeit; was wir lernen, geben wir einander weiter.«

-Als Anarchist:innen, wie würdet ihr die Ziele beschreiben, die euch nach Rojava brachten? Wie meßt ihr das Ausmaß, in dem ihr diese Ziele erreicht oder nicht erreicht habt? Habt ihr in der Zeit, in der ihr dort gewesen seid, irgendeine Art von schleichender Ausweitung des Einsatzes bemerkt?

Garzan: TA setzt sich aus Anarchist:innen aus verschiedenen Teilen der Welt und mit unterschiedlichen Hintergründen zusammen, aber das Hauptziel war immer, diese Revolution zu unterstützen und von ihr zu lernen, und fähiger zu werden, revolutionäre Bewegungen an unseren eigenen Orten zu organisieren. Dieses Unterstützen und Lernen gehört zu den kurzfristigen Zielen und es ist etwas, das Tag für Tag passiert, und wir können sagen, dass wir unseren bescheidenen Beitragan dieser Revolution leisten. Die eher langfristigen Ziele müssen mit der Zeit bewertet werden. Im Moment sind wir eine gefestigtere Struktur in Rojava. Es ist hier und außerhalb bekannt, dass Anarchist:innen zusammen mit anderen revolutionären Bewegungen und Organisationen Teil dieser Revolution sind. Aber die Ideen, die diese Revolution inspiriert haben, gehen weit über Rojava hinaus und bringen all diese verschiedenen revolutionären Bewegungen zusammen, um eine gemeinsame Front gegen die kapitalistische Moderne zu bilden.

Bei all dem ist die ursprüngliche Idee des Kommens, Lernens und Zurückgehens für einige von uns die gleiche geblieben. Für andere führten die Freund:innen, die wir hier trafen, die Verbindung mit dieser Gesellschaft, mit dem revolutionären Projekt, zu einem längerfristigen Engagement für dieses Land und die Menschen. Ein Ort wie dieser, ein autonomes Territorium, in dem sich Revolutionäre aus der ganzen Welt treffen und frei diskutieren können, bietet die Möglichkeit, die Idee des Aufbaus einer revolutionären Gesellschaft – mit all den Widersprüchen, die damit verbunden sind – in die Tat umzusetzen, ein Ort, an dem wir gemeinsam lernen und die Gesellschaft entwickeln können, von der wir geträumt hatten.

Botan: Viele Internationale kommen hierher, um zu erfahren, wie eine Revolution im wirklichen Leben aussieht. Viele von uns fühlen, dass es wichtig ist, anarchistische Prinzipien zu bringen und zu erheben, von denen wir sehen, dass diese Revolution Raum für sie hat und davon profitieren kann. Viele Leute kommen hierher, weil sie den Genozid an Kurd:innen, Armenier:innen und anderen nicht aus der Ferne beobachten wollen. Und natürlich werden die Rolle der Frauen in der Revolution und der Fokus auf die soziale Ökologie weithin respektiert und ziehen Teilnehmende aus dem Westen an.

Şahîn: Mit dem Wachsen des Kollektivs, mit anderen Worten, mit all den Fehlern, die wir in den letzten drei Jahren gemacht haben, und dem Reflektieren darüber, hat sich eine Art Veränderung der Ziele vollzogen. Das kommt mit den Erfahrungen, die wir gemacht haben, und mit den Fähigkeiten und dem Vertrauen, daswir aufgebaut haben – und mit den Möglichkeiten, die es möglich machen, sich das vorzustellen. Es gibt Momente in unserer Vergangenheit, auf die wir nicht so stolz sind, aber auch Errungenschaften, die wir uns vor zwei oder drei Jahren nicht vorstellen konnten.

Wenn einige unserer Ziele eine konkretere Form annehmen, bringen sie kurzfristigere Herausforderungen mit sich. Zum Beispiel ist eines unserer Ziele als Anarchist:innen die Befreiung der Geschlechter, also ist die Befreiung der Frauen hier eines der Themen, von denen wir uns inspirieren lassen wollten. Es ist eine Sache, das zu sagen; es in die Praxis umzusetzen, ist eine ganz andere Sache. Das ist die Herausforderung, vor der wir jetzt stehen – den nicht-männlichen Teil der Organisation zahlenmäßig noch stärker zu machen, um den männlichen Teil auszugleichen (oder in der Überzahl zu haben), und um sicherzustellen, dass der »xweser« (autonome) Frauen- und nicht-männliche Teil in gewisser Weise zur treibenden Kraft der Organisation wird. Wir sprechen nicht von identitätsbasiertem Separatismus wie im Westen; vielmehr sehen wir die Integrität und Solidarität von Frauen und Nicht-Männern als ein Gegengewicht zu der Trägheit von Tausenden von Jahren toxischer Männlichkeit, die jeden Aspekt unseres Lebens und die Art und Weise, wie wir uns selbst und andere sehen, beeinflusst. Zur Überraschung vieler mag dies einer der besten Orte auf der Welt sein, um dies herauszufinden. Nicht in einer geschlossenen anarchistischen Blase, sondern im Gegenteil, im alltäglichen Leben und im Organisieren mit den Menschen hier.

Das bezieht sich auf viele unserer Diskussionen. Als Anarchist:innen sind wir gegen den Staat, den Kapitalismus, das Patriarchat, etc. Aber wir sind mehr daran interessiert zu diskutieren, wofür wir sind, wie man dorthin kommt, wie man es verteidigt, was die Selbstverteidigung der Menschen in einem tieferen und weiteren Sinne beinhaltet. Mit Zeit und Erfahrung, sowohl positiv als auch negativ, versuchen wir, gemeinsame Perspektiven und Richtungen zu destillieren. Das bedeutet, einen Fahrplan rückwärts zu erstellen – mit dem Ziel, die weit entfernten Ziele, die Utopie, anzustreben, zu sehen, wo wir uns annähern (wie auch zu lernen, wo wir uns entfernen) und aus den Erfahrungen, die wir aus unseren Hintergründen haben, gemischt mit den Lektionen aus unserem Leben hier, gemeinsame Analysen zu erstellen, um gemeinsam herauszufinden, welche näheren Meilensteine wir anstreben müssen. Das hilft uns herauszufinden, wie wir uns konzentrieren und bestimmte Strategien und Taktiken wählen können. Nicht unbedingt einen Bauplan, aber mit der Zeit kamen wir zu dem Schluss, dass es uns helfen kann, ›unsichtbare‹ informelle Hierarchien und Stagnation zu benennen und ihnen entgegenzuwirken, wenn wir einige Formalitäten und gemeinsame Prinzipien für die Art und Weise, wie wir uns organisieren, haben. Ich schätze, das ist eine ziemliche »schleichende Ausweitung des Einsatzes« von den Zielen, mit denen viele von uns angekommen sind.

-Inwieweit haben eure Bemühungen dazu beigetragen, die Horizontalität und Autonomie der Gesellschaft in Rojava zu fördern?

Garzan: Zuerst müssen wir hervorheben, dass wir eine kleine und junge Organisation sind, verglichen mit der Größe und Geschichte der kurdischen Befreiungsbewegung, und wir müssen bescheiden sein, was unsere Kapazität und unseren Einfluss auf das, was um uns herum passiert, betrifft. Außerdem hat uns unser Fokus als militärische Organisation anfangs von der Zivilgesellschaft ferngehalten, außerdem sind Streitkräfte nicht der beste Ort für Horizontalität. Mit der Zeit wurden wir mehr mit der Zivilgesellschaft verbunden, trafen Familien, Nachbar:innen und lokale Organisationen, besonders nachdem wir Kurmanci gelernt hatten.

Wir verstehen Autonomie als Selbstverwaltung, als die Fähigkeit, auf verschiedene Bedürfnisse und Probleme einzugehen, ohne sich äußeren Faktoren Abhängig zu machen. Im medizinischen Bereich arbeiten wir an der Unterstützung von Krankenhäusern und medizinischer Infrastruktur, und wir lernen die Ärzt:innen, Krankenpflegekräfte, Fahrer:innen, Köch:innen kennen. Jetzt arbeiten wir an der Ausbildung, um das zu teilen, was wir hier in den letzten Jahren gelernt haben, sowie an einem Projekt, um in Koordination mit dem Gesundheitskomitee DIY-Druckverbände serienmäßig herzustellen. Wir haben auch gelernt, dass nur sehr wenige Leute über Anarchismus Bescheid wissen, nur die politisierteren, die neugierig auf andere politische Bewegungen sind. Aber Horizontalität und Autonomie sind nicht nur im Anarchismus zu finden. Viele Freund:innen, die wir hier getroffen haben, sind diesen Werten verpflichtet.

Seit einigen Jahren erlangen wir hier eine bessere Vorstellung davon wie die Zivilgesellschaft hier funktioniert. Die patriarchale Dynamik und die Familien-Clan-Strukturen sind sehr präsent und die hierarchische Dynamik ist oft mit einem Gefühl des Respekts und der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verbunden. Gleichzeitig haben der Krieg, die Revolution und der Befreiungskampf jede:n dazu gebracht über Politik und Gesellschaft nachzudenken. Für die Kurd:innen hat die Möglichkeit, ihre eigene Identität auszudrücken, offen zu sagen, dass sie Kurd:innen sind, ihre Sprache in der Schule zu lernen, ihnen die zuvor erlebte Unterdrückung bewusster gemacht. Für andere Minderheiten können ähnliche Geschichten erzählt werden, auch wenn einige nur das Gefühl haben, dass die arabische Hegemonie nun ohne größere Veränderungen durch die kurdische Hegemonie ersetzt worden ist.

Bei den Araber:innen ist das ein sehr großes Thema, denn es gibt viele verschiedene Clans und Gruppen unter der arabischen Bevölkerung und die meisten von ihnen haben auch unter der schweren Repression des Baath-Regimes gelitten. Diejenigen, die sich aktiv an den Bemühungen und Strukturen der Selbstverwaltung beteiligen, bringen eine Menge Motivation und Hoffnung auf eine selbstorganisierte Zukunft mit, die sie sich vorher nicht vorstellen konnten. Und für sie ist es immer eine Quelle des Spaßes und der Neugierde, Internationale wie uns zu sehen. Sie fragen uns, warum wir hierher gekommen sind, warum wir nicht in unsere Heimat zurückkehren, ob Syrien netter ist als unsere Länder. Wenn wir über Politik reden, hören sie oft zu, als ob wir ihnen Geschichten aus anderen Orten erzählen würden. Manchmal frage ich mich, ob sie uns zuhören, weil sie interessiert sind oder einfach nur, weil wir exotisch aussehen. Aber mit jenen, die uns kennen und vertrauen lernen, mit denen wir langfristige Beziehungen entwickeln, können wir Freundschaften und Verbindungen aufbauen.

Ceren: Um ehrlich zu sein, sehe ich nicht, dass unsere Bemühungen der Förderung von Horizontalität und Autonomie in der gesamten Gesellschaft hier entweder geholfen oder geschadet haben. Aber ich kann sehen, wie die Gesellschaft hier unser Verständnis für diese Dinge vertieft hat. Das sind hier keineswegs neue Ideen. Die Prinzipien von Autonomie und Selbstbestimmung sind im Demokratischen Konföderalismus eingebunden, der in der Praxis jeden Tag von den Menschen entwickelt wird, die sich auf vielen verschiedenen Ebenen in der Selbstverwaltung ihrer Gemeinschaften engagiert haben.Wir lernen viel von den Methoden, die die Bewegung benutzt, um die Menschen in diesen Prozess einzubinden, und auch von den Problemen und Fehlern, die dabei auftreten. Wir haben festgestellt, dass die Praktiken, die wir hier von der Bewegung gelernt haben, wie z.B. tekmil [eine Form der kollektiven Kritik], hilfreich waren, um informelle Hierarchien bis zu einem gewissen Grad aufzubrechen und um zwanghafte Elemente von Hierarchien, die in Zeiten als sie notwendig waren entstanden sind, abzuschwächen und dafür zu sorgen, dass sie sich nicht weiter ausdehnen als nötig.

-Welche Faktoren haben dazu beigetragen, dass hierarchische Strukturen die Kontrolle behalten in Rojava? Welche Elemente der Gesellschaft waren am widerstandsfähigsten bei der Aufrechterhaltung oder Verteidigung einer echten Horizontalität?

Mahir: Einige Teile der Gesellschaft hier haben auch eine sehr feudal-patriarchale Mentalität; das bedeutet, dass die Gesellschaft auf strengen Hierarchien und Dogmatismus basiert. Der Mann ist der Unterdrücker in der Familie, während die Frau und die Kinder unter ihm stehen und sich darauf konzentrieren, seine Wünsche zu ›befriedigen‹. In den Stämmen gibt es auch eine hierarchische Struktur… Hier haben die Menschen ihr ganzes Leben unter staatlicher Unterdrückung gelebt. Sie haben viel Repression erlebt bei dem Versuch andere Organisationsformen zu etablieren.. Es war ihnen nicht erlaubt, sich zusammenzuschließen und kleine Unternehmen zu gründen, Land zu kaufen oder gar zu bebauen, oder ihre eigenen Häuser zu bauen. Es war ihnen nur erlaubt, Weizen zu ernten und an den Staat zu verkaufen. Das bedeutet also, dass die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Minderheiten daran gehindert wurden, sich kooperativ zu organisieren, was das Wesen aller Gesellschaften ist. Das schafft einige Probleme in Bezug auf die Selbstorganisation und die Zusammenarbeit.

Auf der anderen Seite, gegen diese Hierarchien, haben wir die Vorreiterinnen dieser Revolution, die Frauen. Sie sind der Hierarchien und der patriarchalen Herrschaft überdrüssig. Sie sind diejenigen, die mehr Energie haben, um die Revolution fortzusetzen und voranzutreiben, aber sie sind nicht allein. Die Arbeiterinnen und Bäuerinnen kämpfen darum, mehr Kooperativen zu gründen und die bereits existierenden zu entwickeln, um in der Lage zu sein, selbst Entscheidungen über die Ernten und den Umgang mit ihnen zu treffen. Der Wirtschaftsausschuss gründet viele Genossenschaften für Gemüse, Anti-Corona-Masken und Pharmazeutika. Das Hevserok-System (ein Co-Vorsitz-System, das voraussetzt, dass mindestens ein Mann und eine Frau jede Organisation vertreten) funktioniert in jeder Struktur der autonomen Verwaltung. Es gibt große Anstrengungen, um den Aufbau eines Machtmonopols mit einem System von unten nach oben zu vermeiden, das verschiedene Kräfte für verschiedene ›ethnische‹ Gruppen schafft, wie z.B. Sutoro [die Sicherheitskräfte der assyrischen und syrischen christlichen Gemeinden] oder HPC [zivile Selbstverteidigungseinheiten der Stadtviertel, die auf kommunaler Ebene in Koordination mit YPG und YPJ organisiert sind].

Hier ist die tekmil-Methode erwähnenswert: Kritik und Selbstkritik, die auf einem horizontalen Ansatz basiert, der von der Philosophie des ›Hevaltî‹ ausgeht. Eine revolutionäre Herangehensweise an die Verbundenheit unter Gefährt:innen, eine Art und Weise, nicht nur danach zu streben, sich selbst zu entwickeln, sondern immer die Freund:innen in ihrer Entwicklung zu unterstützen, zu glauben, dass jede:r die Fähigkeit zur Veränderung hat. Du legst Wert auf jede Kritik, die du von jedem Heval (Freund:in) erhältst, und du bist dafür verantwortlich, jeden Freund oder jede Freundin nach den gleichen Prinzipien und den gleichen Werten zu kritisieren. Du gibst niemandem mehr oder weniger Kritik, je nachdem, ob du ihn magst oder nicht. Unabhängig von der Verantwortung oder deiner Position sind im Tekmil alle gleich – wir teilen die gleichen Werte und Ziele und nutzen Kritik und Selbstkritik, um voranzukommen.

Şahîn: Der Hauptfaktor ist immer Freundschaft und Vertrauen unter den Gefährt:innen, wodurch ein gesundes Umfeld gewährleistet ist, in dem Kritik und Selbstkritik geübt werden kann, wenn sich eine hierarchische Dynamik entwickelt. Mit einem Wort: Hevaltî. Um unsere Heval unterstützen zu können, brauchen wir Einfühlungsvermögen, die Perspektive der anderen zu hören und die Gefühle der anderen zu verstehen, bereit zu sein zu lernen und Lösungen statt Hindernisse zu finden. Um diese Lösungen finden zu können, brauchen wir auch die Neugier auf das, was wir tun; wir müssen uns davon entfernen, die politische Organisation als ein Leiden zu sehen, das wir ertragen müssen, bis wir Freiheit haben. Wir sollten danach streben, das Leben zu erschaffen, das wir jetzt leben wollen. Wir müssen uns nicht nur in einem Gefühl der Selbstdisziplin engagieren, sondern auch unseren Freund:innen und dem, wofür wir kämpfen, verpflichtet sein, Verantwortung zu übernehmen und die organisatorische Integrität zu erhalten. Kollektiv zu denken und zu handeln bedeutet auch, sich der Dynamik in der Gruppe oder Organisation bewusst zu sein und nicht vor Widersprüchen zurückzuschrecken, die sich unweigerlich auftun werden, und in diesen Momenten unseren Freund:innen und ihrer Arbeit Wert zu geben und die Moral aufrechtzuerhalten, besonders in den Zeiten, in denen dies am schwierigsten ist. Wie wir uns anderen gegenüber verhalten, kann unsere Möglichkeiten verändern wie wir uns weiterbewegen.

-Heute wird in den Vereinigten Staaten viel über den drohenden Bürgerkrieg gesprochen. Was können Menschen auf der ganzen Welt von der syrischen Erfahrung des Bürgerkriegs lernen?

Botan: In den USA wird seit einigen Jahren über einen möglichen Bürgerkrieg geredet und es scheint, das ein Siedepunkt erreicht wurde. Ich denke, es ist unrealistisch, einen Kampf um Land zu erwarten, so wie du es in Syrien siehst – die Menschen in den USA haben im Allgemeinen nicht die gleiche Verbindung zu dem Land und die Faschist:innen an der Macht haben bereits die Kontrolle über das gesamte Gebiet. Es ist wahrscheinlicher, dass, wenn es in den USA zu bewaffnetem Widerstand von unten kommt, es in Bezug auf die Mehrheit der Bevölkerung eher so etwas wie die Irische Republikanische Armee in den Städten Irlands im vergangenen Jahrhundert sein wird. Die Gemeinschaften mit den stärksten Bindungen an das Land in den USA und mit starker Identität und Netzwerken sind jedoch die der Gemeinschaften der Native Americans. Sie haben eine Geschichte des Widerstandes und das revolutionäre Potential, eine wahre Transformation der Gesellschaft im sogenannten Nordamerika anzuführen.

Şahîn: Eine der wichtigsten Lektionen ist, sich nicht unnötig Feind:innen zu machen. Suche nach Punkten der Konvergenz, nicht des Konflikts, wenn du dich mit Menschen triffst und dich mit ihnen organisierst. Ich glaube, es ist ein Fehler, die eigene Politik auf das Hassen desselben Feindes zu gründen. Sei dir bewusst, was die Essenz deines politischen Ziels ist. Nicht nur aus einem strategischen Blickwinkel, sondern auch, in Ermangelung eines besseren Wortes, aus einem philosophischen. Am Ende läuft alles auf die Frage hinaus, ›wie man das Leben lebt›, und ob wir dies mit jedem teilen, mit dem wir leben und untereinander organisieren und von dem wir lernen. Wir müssen etwas mit mehr Substanz haben als »Wir sind hier zusammen, weil wir Erdoğan, Trump, Nazis, Patriarchat, Rassismus hassen…«. Die Dinge zu suchen, die uns mit den Menschen verbinden, mit denen wir unser Leben teilen, außerhalb hohler Konzepte wie ›amerikanisch‹ oder ›weiß‹, und diesen tieferen Sinn und die Freude am Leben (und am Kampf) jeden Tag zu leben, kann die Menschen dazu befähigen, zu erkennen, dass die Dinge, für die sie andere gehasst haben, nicht wichtig sind.

Immer wieder zeigt uns die Geschichte, dass wir vielleicht nie alle Karten in der Hand haben, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. Aber wir sollten ihn nicht romantisieren; wir sollten handeln, um seine Auswirkungen und die Stärke und Größe der Kräfte, gegen die wir vielleicht kämpfen müssen, zu minimieren. Es ist gut, bereit zu sein, aber unterschätze nicht die Bedeutung der sozialen Organisation und des Aufbaus von Untergrundnetzwerken – und romantisiere den Krieg auf keinen Fall.

Ceren: Krieg ist der ultimative Ausdruck des Patriarchats. Er ist ein Spiel, in dem die primäre Methode, Figuren zu bewegen, Zwang ist. Manchmal erschafft der Feind eine solche Realität, dass es notwendig ist, in den Krieg einzutreten, aber es ist nicht etwas, das wir lieben oder als Ziel sehen, es ist etwas, das manchmal auf dem Weg zu unserem Ziel, ein freies Leben aufzubauen, geschieht. Wir sind nicht ängstlich, beschämt, zögerlich oder unsicher, was die Notwendigkeit der Selbstverteidigung betrifft. Unser Hass auf den Krieg macht uns nicht weniger bereit oder willens, für die Freiheit und das Leben zu kämpfen; in der Tat schärft er unser Verständnis für das, was wir tun. Unsere Klarheit und unsere Liebe zum Leben und zur Freiheit unterscheiden uns von unserem Feind; sie sind etwas Heiliges und eine Quelle der Kraft. Abdullah Öcalan beobachtete, dass jedes Lebewesen einen Selbstverteidigungsmechanismus hat, und die Genoss:innen in den Bergen leben nahe an der Natur und achten darauf, von allem Leben um sie herum zu lernen. Viel Wissen über Selbstverteidigung kommt von Pflanzen und Tieren. Woran wir uns beteiligen, ist die Selbstverteidigung, die ein weitreichendes Konzept ist, das Teil des eigentlichen Gefüges der Gesellschaft ist.

Ein Bürgerkrieg ist notwendigerweise ein Chaos, und er ist nicht notwendigerweise eine Revolution. Ein Bürgerkrieg ist etwas, das wir kämpfen, um die Revolution zu verteidigen, aber einen Krieg zu gewinnen befreit eine Gesellschaft nicht von Kolonialisierung, Patriarchat und Kapitalismus. Diese Arbeit ist ein ständiger Kampf in uns selbst und in der Gesellschaft, und es ist eine Situation, in der alle an einem Strang ziehen. Ehrlich gesagt mache ich mir Sorgen über die Art und Weise, wie diese Revolution oft dort verstanden wird, wo ich herkomme – als eine Sache, die glorreich, gewalttätig und einzigartig ist. Eine Revolution ist ein Prozess der Heilung, etwas, das durch ständige Angriffe viel schwieriger gemacht wird. In Zeiten, in denen es einen Waffenstillstand gibt, sind die Fortschritte, die wir in der Revolution machen, massiv, und in Zeiten großer Bedrohung und Gewalt erleben wir die meisten Rückschläge und finden uns dabei wieder, einige ziemlich wichtige Dinge zu kompromittieren. Ich würde den Freund:innen empfehlen, sich über den Aufbau von Dingen, die es wert sind, verteidigt zu werden, genauso zu begeistern, wie über die Ästhetik des bewaffneten Kampfes. Die Wahrheit ist, dass der Krieg die Menschen zermürben kann, und wenn er lange genug andauert, werden die Menschen immer müder und werden Dinge akzeptieren, die sie vorher nicht akzeptiert hätten, in der Hoffnung, dass der Krieg zu Ende geht. Es gibt hier Menschen, die darüber nachdenken zu gehen, einfach weil sie wollen, dass ihre Kinder einen Teil ihrer Kindheit ohne Krieg leben. Es braucht starke soziale Bindungen und ein tiefes ethisches Fundament, damit eine Gesellschaft dem Feind gegenübersteht und sich weigert, die Herrschaft zu akzeptieren. Das ist es, was wir über den Bürgerkrieg gelernt haben.

So weit wie es realistisch ist – wir werden ein freies Leben aufbauen. Wie wir dorthin gelangen werden, ist etwas, das wir alle zusammen jeden Tag herausfinden. Es ist unrealistisch, Methoden und Herangehensweisen zu wählen, die nicht in Bezug auf das ultimative Ziel des Aufbaus eines freien Lebens formuliert sind, und dann zu erwarten, dass diese Methoden und Herangehensweisen den Kampf für ein freies Leben voranbringen. Wenn wir den Sieg wollen, müssen wir uns von unserem Ziel leiten lassen, nicht von unseren Impulsen oder von dem, was vertraut ist, aber noch nicht funktioniert hat. Das ist auch etwas, was wir von der Bewegung hier lernen. Wir müssen offen sein, neue Dinge auszuprobieren, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen. Darüber hinaus kümmere ich mich nicht darum, was realistisch oder unrealistisch ist, denn unsere Fähigkeit, diese Dinge zu verstehen, ist durch unsere Sozialisation in einem System verändert worden, das unsere Fähigkeit zerstören will, uns Möglichkeiten außerhalb davon vorzustellen und an sie zu glauben.

Ich denke, alle Revolutionäre müssen auf diese Weise ein wenig verrückt sein – wir glauben an das Unmögliche, also ändern wir das, was möglich ist.

-In den vergangenen Jahren des Kampfes: was habt ihr darüber gelernt, was man mit Waffen erreichen kann, und was Waffen nicht erreichen können? Was sind die Vor- und Nachteile der Organisation von bewaffneten Gruppen, die neben anderen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens und Kampfes eine besondere Rolle spielen?

Şahîn: Das kommt wieder auf die Frage nach den Beispielen und Lehren, die wir aus der YPG, der YPJ und der Rojava-Revolution ziehen. Es ist leicht, sich die Befreiung als etwas vorzustellen, das nur in heroischen Momenten auf dem Schlachtfeld stattfindet. Es ist wichtig sich daran zu erinnern, aber es steckt noch viel mehr dahinter. Einer der wichtigsten Aspekte des Kampfes, dem die Menschen eher wenig Aufmerksamkeit schenken, ist das soziale Gefüge, das die Grundlage für die Verteidigung jedes Aufstandes oder Befreiungskampfes bildet. Wenn wir uns nur auf die Ausbildung für den bewaffneten Konflikt konzentrieren, wenn wir Siege nur nach einer militärischen Perspektive analysieren, werden wir keine tieferen Veränderungen erreichen.

Für jede:n Kämpfer:in in der YPG und YPJ gibt es eine Familie, die bereit ist, eine Tür zu öffnen, ein Dach zu teilen, Decken, Essen, alles was sie haben, anzubieten. Für jede militärische Ausbildung gibt es auch eine ideologische Erziehung. Nicht nur in den Militärakademien, sondern auch in der Gesellschaft im Allgemeinen und in den autonomen Frauenräumen. Das kommt nicht von heute auf morgen und es ist kein Zufall. Es gibt so viel, was wir in unser Denken einbeziehen müssen, wenn wir über Freiheit und gemeinschaftliche Selbstverteidigung sprechen. Einige dieser Dinge stehen im Widerspruch zueinander, was noch mehr ein Grund dafür ist, sicherzustellen, dass wir nach Werkzeugen suchen, um toxische Männlichkeit zu verhindern, wenn wir taktische Fertigkeiten praktizieren.

Erfolg erfordert ein vollständiges und langfristiges Engagement für die Neudefinition der Kultur, was nicht in einem einzigen Training erreicht werden kann. Viele erfahrene (oder Möchtegern-) Soldat:innen von außerhalb Syriens sind hierher gekommen und haben sich über die »schlechte militärische Organisation« der SDF beschwert. Nun, niemand glaubt, dass es nichts zu verbessern gibt und vom technischen Standpunkt aus gesehen, könnten einige dieser Kritiken richtig sein. Aber dennoch sind sie nicht konstruktiv, weil sie keinen Willen zeigen, tiefer in das Verständnis zu gehen, worauf die Befreiung hier tatsächlich basiert. Sie kommen aus einer typischen kolonialen weißen ›Besserwisser-/Retter-/Mansplaining‹-Mentalität.

Wir würden jedem raten, tiefer in das einzutauchen, worauf die Rojava-Revolution und das Selbstverteidigungsparadigma basiert, besonders für Genoss:innen, die an bewaffnetem und taktischem Training oder Selbstverteidigung interessiert sind oder diese praktizieren.

Botan: Es ist wichtig für jede Person, die versucht, die Rolle der Waffen zu verstehen, zu verstehen, wie die Drohnen die Natur des Krieges hier grundlegend verändert haben. Wenn man sein Verständnis der taktischen Situation hier auf die Bilder aus der Zeit des Konflikts in Raqqa stützt, entsteht zum Beispiel der Eindruck, dass der Kampf hauptsächlich mit Handfeuerwaffen geführt wird. Tatsächlich war bis zum amerikanischen Rückzug ein großer Faktor zu unseren Gunsten die Luftdeckung. Mit dem Wechsel von den Amerikaner:innen als Verbündete und Daesh als Hauptaggressor zur Türkei als größte Bedrohung, hat sich auch die Art des physischen Kampfes hier immens verändert. Das macht Strategie, Zusammenhalt und all die Dinge, die in den vorherigen Abschnitten erwähnt wurden, umso wichtiger. Es gibt immer weniger Platz für die Figur des harten Kerls mit einer Kalaschnikow, der auf einfache, medienwirksame Art und Weise »das Böse bekämpfen« will – ein Bild, das immer eine zu starke Vereinfachung war.

Ceren: Eine Waffe kann dich nicht lehren, wie man liebt. Es ist einfacher, einem Revolutionär das Schießen beizubringen, als es für einen Mann ist, der Waffen, Krieg und Kämpfen liebt, zu lernen, wie man eine Revolution macht, unabhängig davon, ob er ein guter Schütze ist. An jedem Tag der Woche würde ich lieber mit einem Revolutionär an der Front sein, der noch nie geschossen hat, aber mit völliger Klarheit versteht, warum wir kämpfen und was wir verteidigen, als mit dem militärisch fähigsten Menschen ohne Ideologie. Waffen und die ganze militärische Ausbildung in der Welt machen die Menschen nicht bereit, das zu tun, was nötig ist, nicht wenn wir eine Revolution verteidigen. Vielleicht sind in einem imperialistischen Militär Waffen und militärische Ausbildung genug, aber wir sind kein imperialistisches Militär und wir haben nicht die Ressourcen, die sie haben – wir haben Hevaltî. Waffen bauen keine Revolution auf. Obwohl sie sicherlich nützlich sind, um bei der Verteidigung einer Revolution zu helfen, sind sie nur ein Teil der Verteidigung. Ohne die Zusammenarbeit aller Teile des Selbstverteidigungssystems würde Rojava nicht existieren.

Eine interessante Sache an einem Gewehr ist, dass es einen gewissen ausgleichenden Effekt haben kann. Die meisten Frauen können von mindestens einem Mann in unserem Leben körperlich überwältigt werden. Aber eine Frau oder ein Nicht-Mann mit einer AK-47 und dem Wissen und Selbstvertrauen, sie zu benutzen, in einem System, das sie dabei unterstützt, Selbstbestimmung zu entwickeln – nun, das ändert die Dinge. Es ist nicht genug, aber es ist etwas.

Was die Nachteile der Organisation von bewaffneten Gruppen angeht… ein Nachteil sind die Leute, die dazu neigen, aufzutauchen. Bewaffnete Gruppen ziehen im Allgemeinen andere Arten von Menschen an als andere Arten von Gruppen. Männer werden sozialisiert, um eine Beziehung zur Gewalt zu haben, die letztendlich destruktiv ist. Sie müssen dies in sich selbst umstürzen. Sogar viele anarchistische Männer haben diese Arbeit nicht getan, bevor sie bei einer bewaffneten Gruppe auftauchen. Viele Frauen und nicht-männliche Genoss:innen werden durch patriarchale Dynamiken aus diesen Gruppen herausgedrängt oder tauchen gar nicht erst auf, weil so viele andere Projekte ohne die unsichtbare Arbeit, die sie tun, auseinander fallen würden;Arbeiten, die Männer oft nicht aufnehmen, weil sie nicht sexy oder glorreichsind. Oder sie tauchen nicht auf, weil sie keinen Zugang zu einem Lernprozess im Umgang mit Waffen haben, der ihnen tatsächlich weiterhilft, anstatt sie niederzuschmettern. Aus all diesen Gründen sind autonome Strukturen unerlässlich. Für Männer ist es auch wichtig, sich ernsthaft mit den Grundlagen ihrer Politik auseinanderzusetzen. Bewaffnete linke Gruppen können nicht einfach eine ›wachere‹ Version von LARPing sein, oder eine Möglichkeit, all die gleichen Dinge zu tun, die rechte Milizmitglieder machen, aber mit einer anderen ästhetischen Fassade. Bewaffnete Aspekte der Selbstverteidigung dürfen niemals von anderen Teilen des revolutionären Kampfes getrennt werden.

Politische Bildung und Praxis, die Liebe zur Freiheit und zum Leben und ein tiefer Respekt für die Freiheit der Frauen ist für absolut jeden bewaffneten Kämpfenden unerlässlich. Was machen wir sonst hier?

Diyar: Es ist auch wichtig, die Verbindung, die die Kämpfer:innen in Rojava mit der lokalen Gesellschaft haben, so sehr dass die beiden unzertrennlich erscheinen können, mit der Situation in den ›USA‹ und in weiten Teilen des Westens gegenüber zu stellen. Viele anarchistische Räume in den ›USA‹ sind hauptsächlich weiß und mittelständisch, oft außerhalb der Schwarzen und indigenen Gemeinschaften angesiedelt, aus denen der Widerstand gegen den amerikanischen Staat organisch und historisch entstanden ist. In der Praxis verteidigen viele anarchistische ›Selbstverteidigungsprojekte‹ nichts, was über ihre Subkultur hinausgeht. Dies führt zu einer Zunahme von spezialisierten Projekten und nicht zu einem tatsächlichen Mittel der ›Gemeinschaftsverteidigung‹. Dies manifestiert sich nicht nur in ›racialisierten‹ Dynamiken – die Entwicklung spezialisierter Gruppen dient auch dazu, andere Anarchist:innen und Mitglieder dieser Gemeinschaft zu isolieren. Anstatt sich in der Taktik der Selbstverteidigung zu üben oder diese in unseren Kreisen zu einer gängigen Fähigkeit zu machen, ›schließen‹ sich viele, die sich auf diese Taktik einlassen, einer bewaffneten Organisation an oder machen dies zu ihrer primären oder einzigen Art der politischen Beteiligung.

Die Konzentration in den ›USA‹ auf den Aufbau einer ›linken Waffenkultur‹ hat nicht zu einer Kultur der Selbstverteidigung geführt, sondern zu einem weiteren Zweig des politischen Aktivismus, der oft von Männern dominiert wird. Um dies zu überwinden, ist es wichtig zu verstehen, was genau wir verteidigen. Zu welcher Gemeinschaft gehören wir? Solange wir diese Frage nicht in Theorie und Praxis beantworten, können wir keine sinnvollen Fortschritte machen. Wir dürfen nicht darauf warten, dass die Krise sich vertieft, um diese Widersprüche aufzulösen. Das soll nicht heißen: »nicht trainieren, sich nicht vorbereiten«, bis dies gelöst ist, aber wir sollten immer versuchen, die Lösung dieses Widerspruchs zu etwas zu machen, das wegen unserer Methoden der Ausbildung und Vorbereitung geschieht, nicht trotz dieser.

-Zum Abschluss, habt ihr irgendeine Anleitung für Menschen, die traumatische Ereignisse im Laufe von bewaffneten Konflikten erlebt haben und versuchen, sich wieder in ihre Gemeinschaften zu integrieren? Was habt ihr von Menschen gelernt, die sich in Rojava organisiert oder gekämpft haben und dann nach Hause zurückgekehrt sind?

Botan: Es ist wichtig, dass Freund:innen, die zurückkehren, mit Gefährt:innen in Verbindung bleiben und gegenseitig aufeinander Acht geben. Es gab Selbstmorde unter Menschen, die in den Westen zurückkehrten, nicht nur wegen der Auswirkungen der traumatischen Ereignisse, sondern auch wegen des Rückzugs aus der hier erlebten Lebensweise. Die kapitalistische Moderne ist grausam und isolierend. Die Verbindung zu anderen Menschen und den Raum zu haben, offene Fragen über die geistige Gesundheit ohne Scham zu behandeln, sind Schlüsselfaktoren, um mit diesen Themen umzugehen. Es gibt einen Mythos, dass Krieg wie ein Goldstandard ist, um andere Arten von Trauma zu messen. Dies kann eine Hierarchie des Leidens schaffen.

Ceren: Etwas, was wir von Freund:innen in der Frauenbewegung gelernt haben, ist, dass ein gesundes Leben ein freies Leben ist, und dass wir in unseren Visionen vom freien Leben Initiative ergreifen müssen. Wir finden uns oft in Situationen wieder, in denen wir reagieren müssen, eine Antwort geben müssen. Trotzdem ist es eine Verantwortung, die wir nicht vernachlässigen dürfen, proaktiv Lebensformen zu entwickeln, die nicht eine Reaktion auf das gegenwärtige System oder die Umstände sind, sondern auf Fundamenten außerhalb des hegemonialen Systems aufbauen. Wir brauchen ein tieferes Verständnis dessen, was wir zu beschreiben versuchen, wenn wir Worte wie Trauma benutzen. Wir brauchen Gemeinschaften, die mit dem revolutionären Leben kompatibel sind. Offen gesagt, Individualismus und Formen des Liberalismus entfremden die Freund:innen, die aus Rojava zurückkommen, wegen dem, was sie gelernt haben, als sie mit den Freund:innen hier lebten. Unsere Gemeinschaften müssen sich in den revolutionären Freiheitskampf integrieren. Was wir brauchen, ist nicht, dass die Freund:innen, die nach Hause zurückkehren, sich wieder in eine Gemeinschaft eingliedern, die so ist wie die, der sie angehörten, bevor sie nach Rojava kamen; was wir brauchen, ist ein Treffen dieser Gemeinschaft und der Freund:innen, wie sie jetzt sind, und eine gegenseitige Entwicklung.

Wir können uns nicht ändern, ohne die sozialen Systeme zu verändern, von denen wir ein Teil sind. Keine individuelle Lösung wird Probleme lösen, die so tiefgreifend sind wie die, mit denen wir konfrontiert sind. Es ist immer am nachhaltigsten und revolutionärsten, kollektive Lösungen aufzubauen, und der Umgang mit schweren Ereignissen ist keine Ausnahme. Hier haben wir gesehen, dass es für uns möglich ist, Dinge zu durchleben, die für uns in anderen Zusammenhängen aufgrund der Art und Weise, wie wir miteinander leben, unvorstellbar gewesen wären. Um den schwierigsten Dingen zu begegnen, brauchen wir Kraft und Widerstandskraft, und wir sind am stärksten und widerstandsfähigsten, wenn wir mit anderen verbunden sind und ein kollektives Leben teilen, das auf der Liebe zueinander und zum Freiheitskampf basiert. Ganze Bücher könnten über Hevalti, oder Freundschaft, geschrieben werden, ohne auch nur an der Oberfläche zu kratzen, was es bedeutet, die Freund:innen in den schwierigsten Momenten anzuschauen und zu wissen, dass man bis zum Ende miteinander kämpft und aneinander glaubt. Wir stellen uns allem gemeinsam – also können die Dinge manchmal etwas chaotisch sein, aber schwere Dinge werden leichter, wenn wir sie zusammen tragen.

Es gibt auch dieses Konzept des ›Sinngebens‹. Wenn Freund:innen fallen – Şehîd – ist es eine schwere Sache, ihren Verlust zu spüren, aber der Sinn, den wir ihrem Opfer und dem, wofür sie gekämpft haben, geben, treibt uns voran und gibt uns Kraft. Wir können uns niemals hilflos fühlen oder zulassen, dass wir zu Objekten werden, denen die Dinge passieren – wenn wir unser Handeln in die Hand nehmen, wenn wir uns als revolutionäre Subjekte sehen, sind wir befähigt, Dinge zu verändern, und so können wir in unserem Glauben leben. Je nachdem, welche Bedeutung du gibst, kann jede Person, die du kennst und die fällt, ein fundamentaler persönlicher Verlust sein, der die Fähigkeit zerstört, zu kämpfen und sich mit dem Leben zu verbinden, oder ein weiterer Grund sein, für die Freiheit zu kämpfen. Wenn wir an unsere gefallenen Freund:innen denken, werden wir an die Heiligkeit jedes Augenblicks mit Freund:innen erinnert, und dann können wir vielleicht ein bisschen mehr die Menschen um uns herum wahrnehmen, und unsere eigene Rolle in ihrem Leben und unsere Verantwortung ihnen und der şehîd gegenüber sehen.

Wir ehren unsere Freund:innen, indem wir ihren Kampf aufnehmen. Freude und Schmerz existieren in jedem Moment, Hoffnung und Verzweiflung, Anwesenheit und Abwesenheit – für welche dieser Dinge sensibilisieren wir uns? Was honorieren wir und wofür schaffen wir Platz? Die Herangehensweise, die wir wählen, wirkt sich auch auf unsere Freund:innen aus, denn unsere Freude und unser Schmerz werden geteilt. Wenn wir unseren Schmerz am meisten fühlen, fühlen auch unsere Freund:innen ihn, und er wird reflektiert und vervielfältigt und wird viel schwerer. Wenn wir in Panik geraten, kann er sich in Wellenform auf jede Person ausbreiten, mit der wir in Kontakt kommen. Wenn wir unsere Freude am meisten spüren, vervielfacht sich die Moral unter den Freund:innen und wir werden alle stärker.

Im Wesentlichen raten wir, dass kein:e Freund:in versuchen sollte, sich diesen Dingen allein zu stellen. Wir brauchen Liebe, wir brauchen einen Sinn, und wir brauchen ein Gemeinschaftsleben mit einem starken Fundament im Freiheitskampf. Diese Dinge geben uns eine Grundlage, um alles zu überwinden.

-Tekoşîna Anarşîst, 9. Oktober 2020


Glossar

Einige der kurdischen Akronyme und Begriffe, die in diesem Interview verwendet werden.

Daesh, ISIS, ISIL – Islamischer Staat des Irak und des Morgenlandes (ad-Dawlah al-Islāmiyah fī ‚l-ʿIrāq wa-sh-Shām)

FSA – (›Free Syrian Army/Freie Syrische Armee‹), ein Schirm für die verschiedenen Streitkräfte, die in Opposition zur SAA kämpfen.

Heval – Menschen, die gemeinsam einen revolutionären Weg gehen. Wörtlich übersetzt heißt das ›Freund:in‹, hat aber mit der Zeit eine tiefere Bedeutung entwickelt. Im Englischen ist das nahe an ›Comrade‹ – ein:e enge:r Freund:in, auf den/die man sich verlassen kann. ›Heval‹ bezeichnet (einheimische) Freund:innen in Kurdistan (besonders Nordost-Syrien), die an der Revolution teilnehmen.

Hevserok – In Kurmanji, ›Co-Vorsitz‹. Das Wort bezieht sich auf die Personen, die verantwortliche Positionen in den Organisationsstrukturen im Nordosten Syriens einnehmen. Die Regel ist, zwei Co-Vorsitzende zu haben – einen Mann und eine Frau, einen Kurden oder eine Kurdin und einen Araber oder eine Araberin und so weiter. Ein Mittel, um die Berücksichtigung der Frauenbefreiung bei der Darstellung jeglicher sozialer Fragen zu gewährleisten.

HPC – Hêzên Parastina Civakî (›Zivile Verteidigungskräfte‹). Hierbei handelt es sich um zivile Selbstverteidigungseinheiten der Stadtviertel, die auf kommunaler Ebene in Koordination mit der YPG und YPJ organisiert sind. Sie führen Nacht- und Tagwachschichten durch und intervenieren bei gewaltsamen Konflikten. HPC fungieren als Sicherheit bei öffentlichen Veranstaltungen wie Protesten und Feiertagsfeiern und bewachen öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser. Zu HPC gehört HPC Jin, eine Frauenabteilung, die hauptsächlich aus älteren Müttern und Großmüttern, aber auch aus einigen jungen Frauen besteht. HPC Jin gelten als besser geeignet für die Intervention bei häuslichen Streitigkeiten, bei denen sich eine Frau in einer sensiblen oder gefährdeten Position befinden könnte.

PDK-Syrien – Partiya Demokrat a Kurdistanê li Sûriyê (›Kurdische Demokratische Partei Syriens‹), eine politische Partei, die mit der PDK des Irak verbunden ist, der einflussreichsten Partei in der Regionalregierung Kurdistans im Irak.

PYD – Partiya Yekitiya Democratic (›Partei der Demokratischen Union‹), eine politische Partei, die den Ideen des demokratischen Konföderalismus mit einem diplomatischen Ansatz verpflichtet ist. Die YPJ/YPG gilt als ihr bewaffneter Flügel.

Şehîd – Ein oder mehrere Heval, die im Laufe des revolutionären Kampfes gestorben sind.

Sutoro – Sicherheitskräfte der assyrischen und syrischen christlichen Gemeinschaft.

SAA – Syrisch-Arabische Armee, die militärische Kraft des syrischen Staates.

SDF – (›Syrian Democratic Forces‹), die Dachstruktur für die verschiedenen Streitkräfte, die zur Verteidigung der autonomen Selbstverwaltung Nordost-Syriens kämpfen.

TFSA, SNA – von der Türkei unterstützte Freie Syrische Armee / Syrische Nationalarmee – Akronyme für die von der Türkei unterstützten Dschihadistengruppen bei der Besetzung Nordsyriens.

Xweser – Von der Kurmancî xweserî, ›Autonomie‹. Bezieht sich in der Regel auf die autonomen Frauenräume, Prozesse und Strukturen in Nordost-Syrien und die kurdische Befreiungsbewegung.

YPG, YPJ – Yekîneyên Parastina Gel (YPG, ›Volksverteidigungseinheiten‹) und Yekîneyên Parastina Jin (YPJ, ›Frauenverteidigungseinheiten‹) sind Milizen, die hauptsächlich aus Kurd:innen, aber auch aus Araber:innen und Menschen anderer ›ethnischer‹ Gruppen im Nordosten Syriens bestehen. YPJ ist eine rein weibliche Miliz. Beide sind Teil der SDF.