Der nachfolgende Beitrag ist eines von 85 Artikeln aus dem Buch Schwarze Saat – Gesammelte Schriften zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus.
Anmerkung: Im Buch befinden sich völlig unterschiedliche, und teils widersprechende, Positionen. Es werden hier alle Beiträge veröffentlicht, auch solche, deren Positionen wir nicht teilen.
Warum ich ein Anarchist bin
Benjamin Zephaniah
Ich wurde politisch, nachdem ich im Alter von sieben Jahren meinen ersten rassistischen Angriff erlebte. Ich verstand keine politische Theorie, ich wusste nur, dass mir Unrecht getan worden war, und ich wusste, dass es einen anderen Weg gab. Ein paar Jahre später, als ich fünfzehn war, hielt ein gekennzeichnetes Polizeiauto vor mir, als ich in den frühen Morgenstunden in Birmingham spazieren ging. Drei Cops stiegen aus dem Auto. Se drängten mich in einen Ladeneingang, dann schlugen sie mich zusammen. Sie stiegen wieder in ihr Auto und fuhren davon, als ob nichts passiert wäre. Ich hatte nichts über Polizeiarbeit gelesen, oder irgendetwas über das sogenannte Recht und Ordnung, ich wusste nur, dass mir Unrecht geschehen war. Als ich meinen ersten Job als Maler bekam, hatte ich nichts über die Theorie der Kämpfe der Arbeiter*innenklasse gelesen oder darüber, wie die Reichen die Armen ausbeuten, aber als mein Chef jeden zweiten Tag in einem anderen Superauto auftauchte und wir unser Leben auf Leitern riskierten und giftige Dämpfe einatmeten, wusste ich einfach, dass mir Unrecht getan worden war.
Ich wuchs (wie die meisten Leute um mich herum) in dem Glauben auf, dass Anarchismus bedeutet, dass jede*r einfach verrückt wird und das Ende von allem ist. Ich bin Legastheniker und muss oft die Rechtschreibprüfung oder ein Wörterbuch benutzen, um sicher zu gehen, dass ich die Wörter richtig geschrieben habe. Ich hörte die ganze Zeit Wörter wie Sozialismus und Kommunismus, aber selbst die Sozialist*innen und Kommunist*innen, denen ich begegnete, neigten dazu, Anarchist*innen entweder als eine Randgruppe abzutun, die sie immer beschuldigten, wenn es auf Demonstrationen Ärger gab, oder als Träumende. Selbst jetzt habe ich gerade eine Rechtschreibprüfung überprüft und sie beschreibt Anarchismus als Chaos, Gesetzlosigkeit, Durcheinander und Unordnung. Ich mag die Sache mit der Unordnung, aber für die „durchschnittliche“ Person bedeutet Unordnung tatsächlich Chaos, Gesetzlosigkeit und Durcheinander. Das sind genau die Dinge, die sie am meisten fürchten sollen.
Das Größte, was ich je für mich getan habe, ist zu lernen, selbst zu denken. Ich habe schon früh damit begonnen, aber es ist wirklich schwierig, das zu tun, wenn es ständig Dinge um dich herum gibt, die dir sagen, wie du denken sollst. Der Kapitalismus ist verführerisch. Er schränkt deine Vorstellungskraft ein und sagt dir dann, dass du dich frei fühlen sollst, weil du Wahlmöglichkeiten hast, aber deine Wahlmöglichkeiten sind auf die Produkte beschränkt, die sie dir vorsetzen, oder auf die Grenzen deiner nun begrenzten Vorstellungskraft. Ich erinnere mich an einen Besuch in São Paulo vor vielen Jahren, als dort das Gesetz für eine saubere Stadt eingeführt wurde. Der Bürgermeister wurde nicht plötzlich zum Anarchisten, aber er erkannte, dass das ständige und allgegenwärtige Marketing, dem die Menschen ausgesetzt waren, nicht nur hässlich war, sondern die Menschen auch von sich selbst ablenkte. Also wurden mehr als 15000 Marketing-Plakate abmontiert. Busse, Taxis, Neon- und Papierplakatwerbung wurden alle verboten. Zuerst sah es ein wenig seltsam aus, aber anstatt die Werbetafeln entweder anzuschauen oder zu versuchen, sie nicht anzuschauen, ging ich, und während ich ging, schaute ich mich um. Ich fand heraus, dass ich nur das kaufte, was ich wirklich brauchte, nicht das, was mir gesagt wurde, dass ich es bräuchte. Und was am meisten auffiel, war, dass ich jeden Tag neue Menschen traf und mit ihnen sprach. Diese Gespräche neigten dazu, relevant, politisch und bedeutungsvoll zu sein. Der Kapitalismus hält uns in Konkurrenz zueinander, und die Leute, die den Kapitalismus leiten, wollen nicht wirklich, dass wir miteinander reden, nicht auf eine sinnvolle Weise.
Ich werde nicht weiter auf den Kapitalismus, Sozialismus oder Kommunismus eingehen, aber es ist klar, dass eine Sache, die sie alle gemeinsam haben, ihr Bedürfnis nach Macht ist. Um ihr Streben nach Macht zu untermauern, haben sie alle Theorien — Theorien darüber, wie sie die Macht ergreifen und was sie mit der Macht machen wollen, aber genau da liegt das Problem. Theorien und Macht. Ich wurde ein Anarchist, als ich mich entschied, die Theorien fallen zu lassen und aufzuhören, nach Macht zu streben. Als ich aufhörte, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen, erkannte ich, dass wahre Anarchie meine Natur ist. Sie ist unsere Natur. Es ist das, was wir taten, bevor die Theorien kamen, es ist das, was wir taten, bevor wir aufgefordert wurden, miteinander zu konkurrieren. Es sind einige großartige Dinge über den Anarchismus geschrieben worden, und ich schätze, das ist anarchistische Theorie, aber wenn ich versuche, meine Freund*innen dazu zu bringen, diese Dinge zu lesen (ich rede von großen Büchern mit großen Worten), bekommen sie Kopfschmerzen und wenden sich ab. Also, dann schalte ich die Werbung (den Fernseher etc.) aus und setze mich mit ihnen zusammen und erinnere sie daran, was sie selbst tun können. Ich gebe ihnen Beispiele von Menschen, die ohne Regierungen leben, Menschen, die sich selbst organisieren, Menschen, die ihre eigene spirituelle Identität zurückerobert haben — und dann macht alles Sinn.
Wenn wir ständig über Theorien sprechen, dann können wir nur mit Menschen sprechen, die sich dieser Theorien bewusst sind oder eigene Theorien haben, und wenn wir ständig in der Runde über Theorien sprechen, schließen wir eine Menge Menschen aus. Genau die Menschen, die wir erreichen müssen, genau die Menschen, die sich von den Fesseln der modernen, kapitalistischen Sklaverei befreien müssen. Die Geschichte von Carne Ross ist inspirierend, nicht weil er etwas geschrieben hat, sondern weil er es gelebt hat. Ich liebe die Arbeit von Noam Chomsky und ich liebe die Art und Weise, wie Stuart Christies Oma ihn zu einem Anarchisten gemacht hat, aber ich bin hier, weil ich verstehe, dass die rassistische Polizei, die mich geschlagen hat, den Staat hinter sich hat und der Staat selbst rassistisch ist. Ich bin hier, weil ich jetzt verstehe, dass der Boss, der mich ausgebeutet hat, um reich zu werden, sich nicht um mich gekümmert hat. Ich bin hier, weil ich weiß, wie sich die Marrons in Jamaika befreit haben und allen versklavten Menschen bewiesen haben, dass sie (die Marrons), sich selbst verwalten können. Versteh mich nicht falsch, ich liebe Bücher (ich bin übrigens Schriftsteller), und ich weiß, dass wir Menschen brauchen, die tiefgründig denken — wir sollten alle tiefgründig denken. Aber meine größten Inspirationen kommen von alltäglichen Menschen, die aufhören, die Macht für sich selbst zu suchen oder die Mächtigen zu suchen, um sie zu retten, und die ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Ich habe Menschen getroffen, die Anarchismus in Indien, Kenia, Jamaika, Äthiopien und in Papua-Neuguinea leben, aber wenn ich ihnen erzähle, dass sie Anarchist*innen sind, werden mir die meisten sagen, dass sie noch nie von einem solchen Wort gehört haben und dass das, was sie tun, natürlich und unkompliziert ist. Ich bin ein Anarchist, weil mir Unrecht getan wurde und ich alles andere scheitern sah.
Ich habe in den späten Siebzigern und den Achtzigern in London mit vielen ANC-Aktivist*innen im Exil gelebt — nach einem langen Kampf wurde Nelson Mandela befreit und die Exilant*innen kehrten nach Hause zurück. Ich erinnere mich, wie ich ein Foto der ersten demokratisch gewählten Regierung Südafrikas sah und mir klar wurde, dass ich zwei Drittel von ihnen kannte. Ich erinnere mich auch, wie ich ein Foto der neu gewählten Blair (New Labour) Regierung sah und mir klar wurde, dass ich ein Viertel von ihnen kannte, und bei beiden Gelegenheiten erinnere ich mich, wie ich mit Hoffnung erfüllt war. Aber in beiden Fällen dauerte es nicht lange, bis ich sah, wie die Macht so viele Mitglieder dieser Regierungen korrumpierte. Das waren Leute, die ich anrief und sagte: „Hey, was machst du da?“, und die Antwort war immer so etwas wie: „Benjamin, du verstehst nicht, wie es funktioniert, Macht zu haben“. Nun, ich verstehe es schon. Scheiß auf die Macht — lasst uns einfach auf uns gegenseitig aufpassen.
Die meisten Menschen wissen, dass die Politik versagt. Das ist keine Theorie oder mein Standpunkt. Sie können es sehen, sie können es fühlen. Das Problem ist, dass sie sich einfach keine Alternative vorstellen können. Es fehlt ihnen das Vertrauen. Ich habe einfach die ganze Werbung ausgeblendet, ich habe den ‚tell-lie-vision‘ ausgeschaltet und ich habe angefangen, selbst zu denken. Dann habe ich angefangen, Menschen zu treffen — und glaub mir, es gibt nichts Schöneres, als Menschen zu treffen, die ihr Leben in den Griff bekommen, die Farmen, Schulen, Läden und sogar Wirtschaften betreiben, in Gemeinschaften, in denen niemand die Macht hat.
Deshalb bin ich ein Anarchist.