Anarchie ohne Fahrplan und Adjektive – Aragorn!

Der nachfolgende Beitrag ist eines von 85 Artikeln aus dem Buch Schwarze Saat – Gesammelte Schriften zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus.

Anmerkung: Im Buch befinden sich völlig unterschiedliche, und teils widersprechende, Positionen. Es werden hier alle Beiträge veröffentlicht, auch solche, deren Positionen wir nicht teilen.

Anarchie ohne Fahrplan und Adjektive

Aragorn!

Die meisten Tendenzen innerhalb anarchistischer Kreise haben eine enge Vorstellung davon, was genau Anarchist*innen ausmacht, was ein anarchistisches Projekt ist und wie die Transformation zu einer anarchistischen Welt aussehen soll. Ob grün oder rot, kommunistisch oder individualistisch, aktivistisch oder kritisch, Anarchist*innen verbringen genauso viel Zeit damit, ihre eigenen spekulativen Positionen zu diesen komplizierten Themen zu verteidigen, wie sie lernen, was andere zu bieten haben – vor allem andere Anarchist*innen.

Als Ergebnis stellen viele fest, dass sie es vorziehen würden, ihre politischen und sozialen Projekte außerhalb von anarchistischen Kreisen zu machen. Entweder denken sie, dass ihr spezielles Projekt für Anarchist*innen uninteressant ist, aber sie glauben, dass es trotzdem wichtig ist (wie bei den meisten progressiven Aktivist*innen) oder sie genießen die Gesellschaft von Anarchist*innen und die Art von Spannung, die die Arbeit mit Anarchist*innen mit sich bringt, nicht besonders. Beide Gründe sind fast ausschließlich auf das tiefe Misstrauen zurückzuführen, das Anarchist*innen gegenüber den Programmen anderer Anarchist*innen hegen.

Es gab einmal einen anarchistischen Aufruf für einen „Anarchismus ohne Adjektive“, der sich auf eine Doktrin bezog, die die Koexistenz verschiedener Schulen des anarchistischen Denkens tolerierte. Anstatt den Anarchismus als kollektivistisch, kommunistisch oder individualistisch zu qualifizieren, weigerte sich der Anarchismus ohne Adjektive, ökonomische Lösungen für eine postrevolutionäre Zeit vorzudenken. Stattdessen argumentierte der Anarchismus ohne Adjektive, dass die Abschaffung der Autorität und nicht das Gezänk um die Zukunft von primärer Bedeutung ist.

Heute gibt es genauso viele (wenn nicht mehr) Meinungsverschiedenheiten darüber, wie die Abschaffung der Autorität aussehen soll, wie es vor hundertzwanzig Jahren Meinungsverschiedenheiten über die Frage des ökonomischen Programms für die Zeit nach der Revolution gab. Anarchistische Aktivist*innen („Organisator*innen“) glauben, dass eine Macht von unten die Autorität abschaffen wird. Klassenkämpferische Anarchist*innen glauben, dass die Arbeiter*innenklasse die Autorität der kapitalistischen Gesellschaft beenden wird. Zusammenbruchstheoretiker*innen glauben, dass die ökonomischen und ökologischen Bedingungen unweigerlich zu einer sozialen Transformation und einem Ende der Autorität führen werden.

Andererseits glauben viele Anarchist*innen nicht, dass die Abschaffung der Autorität für Anarchist*innen überhaupt von primärer Bedeutung ist. Ihre Argumente sind, dass Autorität nicht einfach verstanden werden kann (sie ist sowohl Kapitalismus als auch der Staat und keines von beiden). Dass Anarchist*innen nicht die (politische, soziale, personelle oder materielle) Macht haben, diese Abschaffung herbeizuführen, und dass Autorität sich in etwas viel Diffuseres verwandelt hat als die König*innen und Monopolist*innen des 19. Jahrhunderts. Wenn Autorität heute am besten als ein Spektakel verstanden werden kann, dann ist sie sowohl diffus als auch konzentriert. Diese Flexibilität seitens der Spektakelgesellschaft hat dazu geführt, dass das Bemühen um die Abschaffung der Autorität (und die Praxis vieler Anarchist*innen) um ihrer selbst willen als utopisch und (spektakulär) lächerlich wahrgenommen wird.

Anarchist*innen aller Couleur sind sich einig, dass die revolutionären Programme der Vergangenheit weit hinter der totalen Befreiung der Unterdrückten zurückgeblieben sind. Linke glauben, dass die Programme wahrscheinlich richtig gewesen wären, aber dass der Zeitpunkt und die Bedingungen falsch waren. Viele andere Anarchist*innen glauben, dass die Zeit der Programme vorbei ist. Diese Perspektiven sind in der Geschichte des Anarchismus vertreten und sind die Quelle endloser Auseinandersetzungen bei der Gründung von und bei Treffen von anarchistischen Gruppen.

Die Geschichte sollte genutzt werden, um den Kontext dieser unterschiedlichen Perspektiven darzustellen, wird aber stattdessen als Beweis für das eine oder andere gesehen. Anstatt zu versuchen, einander zu verstehen, zu kommunizieren, scheinen wir die Gelegenheit unseres Mangels an Erfolg zu nutzen, um unsere Positionen zu fixieren und für abnehmende Erträge zu argumentieren.

Wenn Anarchie keinen Fahrplan hat, dann sind wir (als Anarchist*innen) frei, zusammen zu arbeiten. Unsere Projekte sind vielleicht nicht von der gleichen Größenordnung wie der Generalstreik oder sogar das Anhalten des Geschäftsbetriebs in einer großen Metropole, aber sie wären anarchistische Projekte. Eine Anarchie ohne Fahrplan oder Adjektive könnte eine sein, in der der Kontext der Entscheidungen, die wir gemeinsam treffen, von uns selbst geschaffen wird, anstatt uns aufgezwungen zu werden. Es könnte eine Anarchie des Jetzt sein und nicht die Hoffnung auf ein anderes Morgen. Sie würde die Last des Vertrauensaufbaus auf diejenigen legen, die tatsächlich ein gemeinsames politisches Ziel haben (die Abschaffung des Staates und des Kapitalismus), anstatt auf diejenigen, die überhaupt kein Ziel haben oder deren Ziel im Gegensatz zu einem anarchistischen steht.

Eine Anarchie ohne Fahrplan oder Adjektive ignoriert die Differenz nicht, sondern stellt sie in den Kontext, in den sie gehört. Wenn wir mit einem Moment extremer Spannung konfrontiert werden, wenn alles, was wir wissen, dabei zu sein scheint, sich zu verändern, dann können wir verschiedene Weggabelungen wählen. Bis dahin sollten Anarchist*innen mit der gleichen Naivität aufeinander zugehen, mit der wir auf die Welt zugehen. Wenn wir glauben, dass die Welt sich verändern kann und sich in eine radikale Richtung von der, die in den letzten paar tausend Jahren gegangen ist, verändern könnte, dann sollten wir ein gewisses Vertrauen in andere haben, die dasselbe wollen.