„Die Polizei ist wie eine Mafia“: Ein Interview zur Situation in Thailand

Im letzten Monat ist inmitten der thailändischen Protestbewegung eine neue radikale Arbeiter_innenfraktion aufgetaucht. Die Gruppe, die sich Thalugaz nennt, ist wesentlich mutiger, gewalttätiger und entschiedener gegen den Staat eingestellt als der Rest der bisherigen Bewegung. Gabriel Ernst gibt einen Überblick über die aktuelle Situation in Bangkok und spricht mit einem führenden Koordinator von Thalugaz.

Via Freedom News

Seit einem Jahr wird Thailand von Straßenprotesten erschüttert, vor allem in der Hauptstadt Bangkok. Die Bewegung wurde durch den Drei-Finger-Gruß gekennzeichnet, der drei Forderungen symbolisiert: den Rücktritt des Premierministers, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und die Reformierung/Abschaffung der Monarchie. Die Proteste wurden größtenteils von Universitätsstudent_innen oder Hochschulabsolvent_innen aus der Mittelschicht organisiert.

Der thailändische Staat, der von dem quasi-militärischen Diktator Prayut Chan-o-cha und dem König Vajiralongkorn gemeinsam regiert wird, hat den Demonstrierenden bisher keine Zugeständnisse gemacht und ist mit Tränengas, Räumpanzern, Gummigeschossen und neuerdings auch mit scharfer Munition gewaltsam gegen sie vorgegangen.

In den letzten Wochen kam es im Bangkoker Stadtteil Din Daeng immer wieder zu gewalttätigen Protesten. Din Daeng ist ein extrem benachteiligtes Viertel der Hauptstadt, vor allem, nachdem in der letzten Welle der Covid-Pandemie ein strenger Lockdown ohne jegliche wirtschaftliche Unterstützung durchgeführt wurde. Seit Mitte August bekämpfen überwiegend lokale Jugendliche aus der Arbeiter_innenklasse die Polizei mit improvisierten Waffen wie Feuerwerkskörpern, kleinen selbstgebauten Bomben, Steinschleudern und Molotowcocktails. Diese Runde der Kämpfe unterscheidet sich deutlich von früheren Protesten in der thailändischen Bewegung, denn sie sind deutlich gewalttätiger und nehmen an Häufigkeit zu.

Bis vor kurzem fanden die Proteste statt, ohne dass es eine klare Gruppe gab, die sie organisierte. Liberale Hauptakteure wie Thammasat, die ländliche anarchistische Gruppe DaoDin und die bekennenden Marxist_innen von FreeYouth sind in der Gegend nicht vertreten. Allerdings ist eine neue Gruppe, Thalugaz, aufgetaucht, die diese lokale Bewegung repräsentiert und versucht, sie zu formalisieren. Die sozialen Medien von Thalugaz haben einen eindeutig anarchistischen/antikapitalistischen Ton und behaupten, für die unterrepräsentierte Arbeiter_innenklasse Bangkoks zu sprechen.

Wir haben mit dem Admin der Social-Medien-Seiten von Thalugaz gesprochen.

Interview

Wer bist du und was tust du?

Ich bin der Admin der Thalugaz-Social-Media-Seiten, ich bin eine Art Organisator für Thalugaz, ein Sprecher und ein Koordinator. Ich komme auch aus der Gegend von Din Daeng. Die Demonstrierenden in Din Daeng haben viele Organisationsteams vor Ort, und wenn sie mit der Öffentlichkeit kommunizieren wollen, wenden sie sich an mich.

Was ist Thalugaz?

Es entstand, weil sich einige der Protestierenden in Bangkok, Menschen aus der Arbeiter_innenklasse, von den etablierten Protestgruppen ausgeschlossen fühlten, die immer gewaltfreie Mittel des Widerstands propagieren. Wir können nicht länger auf die Konfrontation mit dem Staat warten, wir müssen jetzt etwas tun, das sich vom Mainstream unterscheidet. Also gründeten wir diese neue Gruppe, diese neue Bewegung, die Thalugaz heißt.

Wer steht hinter Thalugaz?

Zuerst bildeten wir Einsatzteams im Viertel Din Daeng. Die Leute sprachen miteinander und organisierten sich, und dann begann ich, die öffentliche Seite zu verwalten. Wir haben diese Seite eingerichtet, weil wir unsere Aktionen vor der Bevölkerung rechtfertigen müssen. Wir haben auch begonnen, mit anderen Menschen in der Gegend persönlich zu sprechen, denn wir brauchen ihre Unterstützung und ihr Vertrauen, damit sie unsere Aktionen verstehen. Es ist wichtig, dass wir wissen, wie die Menschen in der Region über uns denken und dass wir eine starke Beziehung aufrechterhalten. Die Einsatzteams schickten mir also Berichte und ich habe sie weitergegeben. Das tun wir immer noch. Aber viele Menschen in der Nachbarschaft haben schon früher mit der Regierung gekämpft und viele sind ehemalige Rothemden. Sie gehören zur Arbeiter_innenklasse und sind eng mit den Protesten verbunden.

Um das klarzustellen: das ist die neue Generation. Einige wissen nicht wirklich etwas über die Rothemden, sie sind zu jung, einige wollen nur raus, um Spaß im Kampf gegen die Polizei zu haben, aber es sind auch ältere Leute dabei. Die Jungen lernen von den Alten.

Wie hat die lokale Bevölkerung auf die Proteste reagiert?

Um ehrlich zu sein gefällt es ihnen nicht, dass die Proteste in ihrer Gegend stattfinden, aber sie wissen, dass es so sein muss und respektieren es. Sie geben uns keine Schuld und verstehen, warum wir das tun.

Wie ist das Leben in Din Daeng?

Es ist ein Slum, es ist schrecklich. Wir sind unterdrückte Menschen. Die Polizei ist wie eine Mafia, unter der wir leben müssen. Sie nehmen uns alles, was wir haben, sie beherrschen uns und wir müssen ihnen absolut gehorchen. Sie sind das Hauptproblem in der Gegend. Alle hassen sie. Es ist, als würden wir hier in einem total korrupten, von der Mafia geführten Polizeistaat leben.

Eure Seite hat einen eindeutig anarchistischen Ton, warum ist das so?

Um ehrlich zu sein kommt das zum großen Teil von mir. Ich habe viele anarchistische Bücher gelesen. Mein Lieblingsbuch ist Gegenseitige Hilfe von Kropotkin, aber das verbindet sich mit unserer Bewegung, mit den Menschen.

Wie sind die Menschen in Din Daeng politisiert?

Vielen Menschen ist es egal wer der Premierminister ist, solange sich ihr Leben verbessert, also sind viele Menschen politisch sehr flüchtig, wie Wasser, sie ziehen viel umher. Wie ich schon sagte, sind viele von ihnen ehemalige Rothemden. Viele ältere Menschen unterstützen Thaksin, weil ihr Leben unter Thaksin oder der Thai Rak Thai (Partei) zweifellos besser war. Die meisten Menschen haben jedoch keine Zeit, über Politik nachzudenken oder zu lesen. Sie arbeiten immer, kämpfen ums Überleben, aber sie hassen Prayut (den Premierminister) und die Polizei.

Wie knüpft ihr Kontakte zur breiten Arbeiter_innenschaft in Thailand?

Es ist immer ein Kampf, denn wie ich schon sagte, haben die Leute keine Zeit, Theorie über so etwas zu lesen. Wir versuchen unsere Beiträge kurz und verständlich zu halten, damit sie sich von den Mainstream-Nachrichten unterscheiden, und das gelingt uns auch, aber natürlich ist es schwierig.

Inwiefern werdet ihr von anderen Protestgruppen nicht vertreten?

Sie sind Intellektuelle aus der Mittelschicht. Wir sind keine Intellektuellen. Wir gehören zur Arbeiter_innenklasse, da gibt es eine Kluft. Sie haben diese Vorstellung vom Kampf gegen die Polizei, dass sie warten, bis die Polizei zuerst zuschlägt und dann reagieren. Wir sind unser ganzes Leben lang von der Polizei angegriffen worden, sie haben immer zuerst zugeschlagen, sie behandeln uns wie Scheiße — das ist unsere Rechtfertigung. Die gesamte Struktur der Polizei und des Staates ist übergriffig. Wie kannst du sagen, dass wir darauf warten müssen, dass sie uns zuerst verletzen? Sie haben uns unser ganzes Leben lang angegriffen und niemand kümmert sich darum oder hört zu. Für uns ist das die einzige Möglichkeit, uns auszudrücken und uns Gehör zu verschaffen. Wir wurden von der Gesellschaft komplett ausgegrenzt, aber die Leute müssen wissen, dass es uns gibt. Für uns ist das Klassenkampf. Es gibt keinen anderen Weg.

Jede_r ist willkommen sich uns anzuschließen. Wir sind völlig offen, aber andere Protestgruppen zögern, sich uns anzuschließen. Es ist nicht so, dass sie uns feindlich gesinnt wären, aber sie sagen immer wieder: „Warten wir es ab.“ Ich glaube, ich weiß, warum das so ist — es ist eine Klassenthematik. Ehrlich gesagt können viele Menschen aus der Mittelschicht uns nicht verstehen, sie können sich nicht in uns hineinversetzen.

Gibt es einen Plan, wie es jetzt weitergehen soll?

Der kurzfristige Plan ist zu wachsen und uns auszudrücken, einen linken Raum für Leute wie uns in den Protesten zu schaffen. Wir benutzen nicht die drei Finger, sondern die geballte Faust. Darüber hinaus müssen wir reden, Treffen veranstalten und uns stärker organisieren. Im Moment sammeln wir Daten und fangen an, Pläne zu machen, aber es ist noch sehr früh und wir brauchen mehr Unterstützung.

Weitere aktuelle Informationen und Analysen über die thailändische Protestbewegung findest du unter www.dindeng.com. Oder folge ihnen auf Twitter: @dindength