Das zweitbeste Leben: die Virtuelle Realität

Stellenweise vielleicht ein wenig plump und doch angesichts der im letzten Jahr einen Großen Sprung nach Vorn gemacht habenden Virtuellen Realität ziemlich aktuell. 2008 veröffentlicht auf Englisch in Twighlight of the Machines (John Zerzan), die deutsche Übersetzung wurde 2009 von Marco Camenisch im Zwangsarbeitslager Pöschwies, Regensdorf, Zürich angefertigt (als Teil von der Übersetzung des gesamten Buches mit dem Titel Der Niedergang der Maschinen.]

Zahllose empirische Studien und soziale Theorie von ein oder zwei Jahrhunderten haben bemerkt, dass die Moderne immer flachere und instrumentellere Beziehungen produziert. Wo einst gegenseitige, auf Bindungen von Angesicht zu Angesicht basierte Bande überlebten, neigen wir heute dazu, in einer seichten und entmaterialisierten Technokultur zu leben. Das ist die Bahn der industriellen Massengesellschaft, die sich nicht etwa selbst durch Technologie überwindet, sondern stattdessen immer vollständiger verwirklicht wird.

In diesem Kontext fällt auf, dass der ursprüngliche Gebrauch von “virtuell” die Adjektivform von “virtue/Tugend” war. Die Virtuelle Realität ist nicht bloss die Bildung einer narzisstischen Subkultur; sie stellt einen sehr viel weiter gehenden Identitäts- und Wirklichkeitsverlust dar. Ihr wesentliches Ziel ist die perfekte Intimität von Menschen und Maschine, die Vernichtung des Unterschiedes zwischen menschlicher und computergestützter Interaktion.

Zweites Leben. Wiedergeboren. Beides sind Fluchtwege aus einer sich gravierend verschlechternden Wirklichkeit. Sowohl die Hightech-, als auch die fundamentalistische Option sind passive Antworten auf die uns verschlingende aktuelle Lage. Wir sind uns körperlich und sozial schon so fern, und die invasive Virtualität drängt uns noch weiter auseinander. Wir können wählen, als frei schwebende Surrogate im neuen, abfallfreien Verweigerungs-Land der VR zu “leben”, aber nur, wenn wir das annehmen, was Zizek “den unbarmherzigen Antrieb, der unser Leben bestimmt” nennt.1

Cyberspace heisst Kollaps des Natürlichen zur Technologie, Allucquere Rosanne Stores sagt, dass wir im Begriffe sind unsere Erdung als körperliche Wesen zu verlieren.2 Die Schlüsselantwort in der öden Technowelt ist selbstverständlich mehr Technologie. Pharmatechnologie für die 70 Millionen unter Schlaflosigkeit leidenden AmerikanerInnen; für die sexuell impotenten, jetzt von Viagra, Cialis, usw. abhängigen Männer, für die Depressiven und Ängstlichen, die nicht mehr träumen oder fühlen.

Und das dieses Regime darauf hin arbeitet noch mehr direkte Erfahrung zu verflachen und zu unterdrücken, kommt die VR, sein neuester Triumph; kommt um die Leere zu füllen. Second Life, There, oder was für ein Label auch immer bieten Traumwelten an, einer Welt, die der Träume entblösst wurde. In unserer Zeit wird “virtuelles Beileid” und “Online-Trauer” dem direkten Beistand trauernder Menschen als überlegen betrachtet;3 wo Kleinkinder Videos ausgesetzt werden; wo “teledildonics” abwesenden Subjekten simulierten Sex liefern.

“Willkommen im Second Life. Wir freuen uns darauf, Sie in-world zu sehen”, lockt die Reklamewebseite. Verstrickend und interaktiv, stattet die VR den Raum gegensätzlich zu der vom Kunden abgelehnten Wirklichkeit aus. Für wenige Dollars kann dort jederman als “Avatar” existieren, der nie alternd, gelangweilt oder übergewichtig sein wird. Wade Roush von der Technology Review bezeichnet Second Life insofern als Erfolg, als dass es “weniger einsam und weniger berechenbar” als unser heutiges Leben ist.4

Diese Verkehrung der Wirklichkeit ist derselbe Trost des Übernatürlichen vieler Religionen, und hat eine ähnliche Ersatzfunktion.

Die Wirklichkeit verschwindet hinter dem Bildschirm, so wie die Trennung des Geistes vom Körper und der Natur intensiver wird. Die technischen Mittel werden ziemlich schnell perfektioniert und halten die Anfangs 1990 gemachten Versprechen ein. Damals, trotz grossem Tamtam,5 konnte die VR die Ware nicht wirklich liefern. Um die fünfzehn Jahre später fesselt die Technologie vom Second Life (z.B.) viele Users mit einem starken Ausdruck für physische Präsenz und mit anderen pseudosinnlichen Effekten. VR ist heute der definitive Ausdruck des postmodernen Zustandes, was vielleicht am besten durch die Tatsache versinnbildlicht wird, dass dort nichts Wildes existiert, sondern nur das, was dem menschlichen Konsum dient.

Foucault beschrieb die Verlagerung der Macht in der Moderne von der Souveränität zur Disziplin, und ein enorm technologisiertes tägliches Leben hat diesen Vorgang beschleunigt.6 Das zeitgenössische Leben wird in einem nie da gewesenen Mass durchgehend überwacht und kontrolliert. Aber das Gewicht und die Dichte technischer Vermittlung schaffen eine immer begrenztere Wirklichkeit und schärfere Kontrollstruktur. Wenn das Wesen der Erfahrung auf einer primären Ebene so gewaltig verändert wird, sehen wir eine grundlegende Wende – eine Wende, die in beschleunigter Gangart überall verbreitet wird.

VR versinnbildlicht diese Bewegung am besten, und ihre Simulationen und robotischen Fantasien sind eine zur Spitze gehörende Komponente der stetig voranschreitenden, unversalisierenden und standardisierenden globalen Kultur. Traurigerweise zutreffend ist Philip Zais Einschätzung, dass VR die “metaphysische Reifung der Zivilisation” ist.7 Das Ganze ist konkret, sinnlich, und das Erdbasierte korrodiert und schrumpft inmitten der technologisch vermittelten Existenz.

Natürlich gibt es Widerstandsformen gegen dieses jüngste Erblühen des Scheines. Aber eine luddistische Reaktion scheint vor der Magnitudo dessen, was sie bekämpft, immer zu verblassen. Hinter jedem neuesten technologischen Schritt steckt eine sehr lange und sedimentierte Geschichte, eine ungebrochene Kette an Zufällen. Der Sprung bei packenden neuen Techniken wird durch die graduelle Verarmung der menschlichen Wünsche und Verhaltensweise erleichtert, die von früheren Erneuerungen verursacht wurden. Das Versprechen ist immer, dass mehr Technologie Verbesserungen bringen wird – was genauer gesagt heisst, dass mehr Technologie das wettmachen wird, was in den vorangehenden “Fortschritten” verloren ging. Der einzige Ausweg ist, diese Kette zu sprengen und diesen Imperativ abzulehnen.

Heidegger griff die “Versachlichung aller Wesen” an “…, die unter die Verfügungsgewalt der Darstellung und Produktion gebracht wurden”, und führte aus, dass “die Natur überall als Objekt der Technologie erscheint”, und folgerte “Die Welt wird zum Objekt”.8 Er begriff auch, wie die Technologie unser Verhältnis zu den Dingen verändert, ein von der VR verstärktes Phänomen. “Von einer Achtung der Dinge zu sprechen, wird in einer immer technischer werdenden Welt immer unverständlicher. Sie lösen sich einfach auf…”, bemerkte Gadamer.9 Virtualität ist zweifellos diese “Auflösung”.

Aber es gab neulich doch einen wirklichen Gegenangriff zugunsten der Achtung der Dinge als solche, zugunsten ihrer Befreiung aus einem instrumentellen Status, wenigstens auf philosophischer Ebene. Titel wie Things/Dinge (2004) und The Lure of the Object/Der Reiz des Objekts (2005) sprechen dafür. Der Wunsch nach einem echten Erleben der “Dinglichkeit” (Heideggers-Begriff) ist ein scharfer Tadel am pathologischen Zustand, der als Modernität bekannt ist, ist die Realisierung, dass “die Anerkennung der Andersartigkeit der Dinge die Voraussetzung zur Anerkennung der Andersartigkeit an sich ist.”10

Das Eintauchen in die VR ist wegen dem damit verbundenen Mass an Interaktivität und Selbstdarstellung ein besonders virulentes Merkmal dieser Pathologie. Noch nie hing die künstlich hergestellte Umwelt dermassen entscheidend von unserer Teilnahme ab, und nie zuvor war diese Teilnahme dermassen potenziell totalisierend. Mit seiner Anziehungskraft als, sprichwörtlich, Second Life, ist es The Matrix – eine, für deren Reproduktion wir selbst fortdauernd büssen müssen.

Heinz Pagels Beschreibung der Symbolik im Allgemeinen passt sicher auch für die VR: Indem wir “die Unmittelbarkeit der Wirklichkeit verleugnen und einen Ersatz schaffen, haben wir einen weiteren Faden im Netz unserer grossen Illusion gesponnen.”11 Dieser Gebrauch des Cyberspace erhebt die Darstellung auf neue Ebenen der Selbst-Einschliessung und der Selbst-Abrichtung.

Spenglers Einschätzung der westlichen Zivilisation führte ihn zu dem Schluss: “Eine künstliche Welt ist im Begriffe die natürliche zu durchdringen und zu verseuchen. Die Zivilisation selbst ist zu einer Maschine geworden, die durchwegs in mechanischen Kategorien handelt oder zu handeln versucht.”12 Second Life, Google Earth, usw. mit ihren Grafikkarten und Breitbandverbindungen sind komplizierte und verführerische Notausgänge, aber es ist immer dieselbe grundlegende Maschinenorientierung. Und VR, wie David Gelernter freudestrahlend proklamierte, “ist die Art von Instrument, wonach das moderne Leben verlangt.”13

Aus der militärischen Forschung und Vergnügungsindustrie entstanden, hängt die VR für ihre vorgesehene Rolle, welche die gesamte Gesellschaft durchdringt, von uns ab. VR wird die Norm sein, wenn sie verschiedene Bereiche angesteckt haben wird, aber nur mit unserer aktiven Zustimmung. Wittgenstein erkannte, dass es “nicht absurd ist z.B. zu glauben, dass das Zeitalter der Wissenschaft und der Technologie der Beginn des Endes für die Menschheit ist.”14 Wissenschaft und Technologie sind die größten Triumphe der Zivilisation, und der Punkt ist so schrecklich klar wie nie zuvor.

1Slavoj Zizek, The Plaque of Fantasies (New York: Verso, 1997), S. 44.

2Allucquere Rosanne Stone, “Will the Real Body Please Stand Up?” in Michael Benedikt, Verlag, Cyberspace: First Steps (Cambridge, MA, MIT Press, 1991).

3Joseph Hart, “Grief Goes Online” in Utne, April 2007.

4Wade Roush, “Second Earth” in Technology Review, Juli/August 2007, S. 48.

5Dazu weit verbreitete Literatur ist u.a. Howard Rheingold, Virtual Reality (New York: Oxford Summit Books, 1991), Michael Heim, The Metaphysics of VR (New York: Oxford University Press, 1993), Rudy Rucker, R. U. Sirius, Queen Mu, Mondo 2000: A User’s Guide (New York: Harper-Collins, 1992), Nadia Magnemat Thalmann und Daniel Thalmann, Virtual Worlds and Multimedia (New York: Wiley, 1993), Benjamin Woolley, Virtual Worlds (Cambridge, MA: Blackwell, 1992), ein exzellentes Korrektiv ist Robert Markley, Verlag, Virtual Realities and Their Discontents (Baltimore: John Hopkins University Press, 1996).

6Für seine ideosynkratischen Verdrehungen dazu siehe Jean Baudrillard, Forget Foucault (New York: Semiotext, 1987).

7Philip Zai, Get Real: A Philosophical Adventure in Virtual Reality (Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 1998) S. 171.

8Martin Heidegger, “Nietzsches Wort: ‘Gott ist tot’” in seinem Off the Beaten Tracks (“Jenseits der oft begangenen Wege”?), übersetzt und herausgegeben von Julian Young und Kenneth Haynes (Cambridge: Cambridge University Press, 2002), S. 191.

9Hans-Georg Gademer, Philosophical Hermeneutics, übersetzt und herausgegeben von David E. Linge (Berkeley: University of California Press, 1976), S. 71.

10Brown, zitiertes Werk, S. 12.

11Heinz R. Pagels, The Dream of Reason: The Computer and the Rise of the Sciences of Complexity (New York: Simon and Schuster, 1988).

12Oswald Spengler, Man an Technics, übersetzt von Charles Francis Atkinson (Westport CT: Greenwood Press, 1976), S. 94.

13David Gelernter, Mirror Worlds (New York: Oxford University Press, 1991), S. 34.

14Ludwig Wittgenstein, Culture and Value, übersetzt von P. Winch (Oxford: Blackwell, 1986), S. 56.