Katastrophismus, Desasterverwaltung und nachhaltige Knechtschaft

Übersetzung des Textes Catastrophisme, administration du désastre et soumission durable von Hostis Editionen.  Ein Text von 2008, der heute, in Zeiten der „Notständen“, Anarchist_innen potenziell etwas Orientierung geben kann.

Die Realität der sich anbahnenden Katastrophe, oder zumindest der kommenden Risiken und Gefahren, wird nicht mehr nur als Lippenbekenntnis akzeptiert, sondern von der staatlichen und medialen Propaganda ständig im Einzelnen dargelegt. Was uns betrifft – die wir so oft der apokalyptischen Selbstgefälligkeit beschuldigt wurden, weil wir diese Phänomene ernst genommen haben oder des „Ewiggestrigen“ bezichtigt wurden, weil wir die Unmöglichkeit der Wahl zwischen der Realität und dem Versprechen der industriellen Massengesellschaft festgestellt haben – kündigen hiermit an, dass wir von diesem Moment an nichts mehr zu den abscheulichen Szenen der totalen ökologischen Krise hinzufügen werden.

Wir“, das sind René Riesel und Jaime Semprun, die versuchten – u.a. mit dem Projekt einer „Enzyklopädie der Schädlichkeiten“ – die Zerstörung der Umwelt im Detail beschrieben. Die anbahnende Katastrophe wurden jedoch von der Macht rekuperiert und dient ihr als Alibi die industrielle Gesellschaft aufrechtzuerhalten und ihre Herrschaft zu restrukturieren. Der staatliche Umweltschutz, mit seinen Akteuren, Experten und Aktivisten, offenbart sich als Versuch einer Expansion der Macht – und greift dabei auf eine Propaganda von Angst, Resignation und Massenkonformismus zurück. Die Maßnahmen von Regierungen und NGOs enthüllen sich als Befehl, um „die Individuen dazu zu bringen, sich dem Kollektiv vollständiger zu unterwerfen.

Während sich der folgende Text einerseits gegen die falschen Kritiker der Katastrophe wendet, richtet er sich andererseits an die „Individuen, die schon jetzt resistent gegen den wachsenden Kollektivismus der Massengesellschaft sind und die Möglichkeit eines gemeinsamen Kampfes gegen diese Übersozialisierung nicht grundsätzlich ausschließen. Auf diese Weise glauben wir, dass wir den authentischsten Qualitäten der Gesellschaftskritik, in deren Kontext wir vor vierzig Jahren erwachsen wurden, treu bleiben, unserer Meinung nach mehr, als wenn wir ihre Rhetorik oder ihren konzeptionellen Rahmen vorgeblich verewigt hätten. […] Um den unheilvollen Lauf der Dinge zum Besseren zu verändern, werden wir nur auf das angewiesen sein, was der Einzelne selbst aus freien Stücken tut – und vielleicht vor allem, was er nicht tun wird.“

Die Broschüre kann hier als PDF heruntergeladen werden.


Vorwort zur deutschen Übersetzung:

Die subversive Kraft von Theorien und Hypothesen sollte daran gemessen werden, inwieweit sie eine Analyse der gesellschaftlichen Realität darstellen und ob diese in der Lage ist, Angriffspunkte zu identifizieren – Stellen, an denen man die Macht angreifen kann, um alle Verhältnisse umzuwerfen. Riesel und Semprun legen dar, wie drohende Katastrophen, hier v.a. die des ökologischen Kollaps, dazu dienen, die industrielle Gesellschaft zu erhalten und eine Reglementierung (und Moralisierung) von Oben durchzusetzen, welche die staatliche Macht ausbaut. Der Text Catastrophisme, administra-tion du désastre et soumission durable erschien 2008, im Jahr der Finanzkrise, aber vor Fukushima und der jüngsten Klimabewegung. Und dennoch, oder gerade deshalb, ist dieser Text aktuell, da sich alle (staatlichen) Maßnahmen zur Bewältigung der drohenden Katastrophen immer stärker als Befehle offenbaren. Es ist eine Kritik an den staatlichen und aktivistischen Verwaltern der ökologischen Katastrophe, die einen (moralischen) Massenkonformismus propagieren. Es ist aber auch ein Text – und daher entstammt auch eine große Motivation diesen Text auf deutsch zu übersetzten –, der sich in der Zeit von Covid-19, den staatlichen Maßnahmen zur Einschränkung von Viren, dem Konkretisieren eines Green New Deal (ein Begriff der 2007 das erste mal verwendet) und anderen autoritären Methoden des Ausnahmezustands äußerst interessant liest. Dabei sind die folgenden Seiten besonders relevant, da die beiden Autoren und ihre Gefährten seit Jahrzehnten versuchten die Zerstörung der Erde als soziale Frage zu behandeln. Ihre Gesellschaftskritik formulierte sich aus einer Praxis in Frankreich seit den 1960er Jahren – einer situationistischen Vergangenheit und Weiterentwicklung von Ideen und Theorien. In den 1980er gründet sich die, wenn man so möchte, post-situationistische, aber v.a. anti-industrielle Gruppe Encyclopédie des Nuisances (EdN) [Enzyklopädie der Schädlichkeiten] und 1991 gründet u.a. Semprun die Éditions de l‘Encyclopédie des Nuisances. Der Fokus liegt auf einer Kritik an der industriellen Gesellschaft und ihren falschen Kritikern (den Linken, Bürgerbewegungen und dem staatlichen Umweltaktivismus). Sie begannen im Jahr 1984 damit ein Wörterbuch der Schädlichkeiten zu erarbeiten, dabei kamen sie nie über den Buchstaben A hinaus und legten das Projekt 1992 nieder. Der folgende Text über den Katastrophismus kann auch so verstanden werden, dass die Rekuperierung des Themas der Naturzerstörung durch die Macht, ihr eigenes Projekt eines Wörterbuchs überflüssig machte – sie somit ihre eigene kritisches Projekt angreifen, um ihre Kritik auf die bestehenden Verhältnisse zu beziehen. Mit der Analyse des (staalichen) Katastrophismus beziehen sie sich direkt auf die zeitgenössischen falschen Kritiker und sind nicht sparsam mit (latenter) Kritik. Nach einer spanischen und englischen Übersetzung wird dieser Text hier das erste mal auf deutsch publiziert. Die Herrschaft von Staat und Kapital zeigte nicht nur in den letzten Jahrzehnten immer wieder „krisenhafte“ Schübe in der sie ihre Macht verteidigen und ausweiten konnte, sondern die Katastrophen wurden für die Herrschaft verwaltbar – und man muss erkennen, dass die Prophezeiung einer Katastrophe für die Herrschaft elementar wurde, um immer wieder aufs Neue einen Ausnahmezustand zu legitimieren. Die Katastrophe kann die drohende Klimaerwärmung sein, aber auch ein drohender Faschismus, oder eben ein Virus – dabei sollte sich von selbst verstehen, dass eine Kritik am staatlichen Katastrophismus nicht gleich bedeutend mit einer Negierung der Existenz von Katastrophe ist. Durch die Bürokratisierung der Katastrophe werden die Ursachen losgelöst von den gesellschaftlichen Verhältnissen behandelt. Eine potenziell radikale Kritik bspw. an der Umweltzerstörung wird lediglich zu einer Verfeinerung der Ausbeutung (weil sie der Macht hilft Auswege zu finden, wenn man sie nicht komplett negiert). Aber vor allem wird ein „staatlicher“ Kollektivismus genährt, welcher jeden zumindest suspekt, wenn nicht gefährlich macht, der nicht seinen Lebensstil und sein Handeln unterordnet. Der Staat und seine Befürworter propagieren eine Massenkonformität und Massenhaftigkeit, welche das Individuum eliminieren soll und die Herrschaft stabilisiert. Die Unkontrollierbaren, Unvernünftigen oder wie auch immer sie genannt werden, die sich nicht einer Masse einverleiben lassen, müssen eingeordnet und in Zaum gehalten werden. Die Linke spielt hier die Rolle für die Herrschaft und eine Massenhaftigkeit der Durchsetzung der Macht, indem sie radikale Abweichungen zumindest anprangert, wenn nicht sogar die Befehle aktiv durchsetzt. Heute zeigt sich diese Massenhaftigkeit (oder auch Massenpsychose) zugespitz als „sanitäres Diktat“, in der die Norm von Oben, auch mit Hilfe der Linken durchgesetzt wird. Das Fehlen einer revolutionären Perspektive, einer revolutionären Antwort auf die Zerstörung und das Elend, verleitet Viele dazu, ihren Beitrag zu leisten, dass die Gesellschaft zu einem „Waldbrand“ oder „Krankenhaus“ wird, in der die Verwaltung von Oben nach Unten – ein permanenter staatlicher Ausnahmezustand – stattfindet: von einem Notstand in den Anderen. Der folgende Text kann dabei helfen eine revolutionäre Kritik an den Zuständen zu formulieren, oder zumindest kann er dabei helfen sich in wirren Zeiten etwas besser zu orientieren.