Wir interviewen Ruymán Rodríguez, einen bekannten kanarischen Anarchisten, aufgrund des jüngsten rechtlich-polizeilichen Angriffs, dem er ausgesetzt ist. Ihm wird vorgeworfen, während einer illegalen Festnahme einen Guardia Civil [1] getreten zu haben. Ruymán wurde bei dieser Festnahme gefoltert. Ruymán ist gut gelaunt und betont im Laufe des Interviews den Fehler, die Kämpfe zu „personalisieren“, vor allem jene mit repressivem Hintergrund. Als Mitglied der Anarchistischen Föderation von Gran Canaria (FAGC) und der Mieter_innengewerkschaft von Gran Canaria (SIGC) macht die politische und engagierte Arbeit, die dieser Gefährte über mehrere Jahrzehnte entwickelt hat, ihn und andere zur direkten Zielscheibe für die Repression eines revanchistischen Staats. Eben der Staat, der Auslöser ist für die sozialen Ungerechtigkeiten in einer Gesellschaft die des Wartens überdrüssig ist.
In Anbetracht der Länge des Dokuments, dass wir sowohl als Audio als auch als Transkription zur Verfügung stellen, und im Verständnis der Geschwindigkeit, mit der Nachrichten heute konsumiert werden, halten wir es für obligatorisch, einige der gesammelten Aussagen hervorzuheben, die natürlich weder das Interview selbst erschöpfen, noch unbedingt die wichtigsten sind, die er mit diesem Medium geteilt hat.
An erster Stelle konzentrieren wir uns auf die Entstehung und Funktionsweise sowohl der FAGC als auch der SIGC. Wie Ruyman hervorhebt, entwickelte die Föderation zu Beginn und kurz nach dem Ende der Bewegung 15M [3] einen „konventionellen“ Anarchismus (zum Teil für die Überzeugten), der in kurzer Zeit die Form eines Engagements auf der Straße annahm. Dieser Anarchismus versuchte erfolgreich die eigenen Werkzeuge der libertären Bewegung den armen Gesellschaftsschichten aus ihrem Umfeld zur Verfügung stellen. Vor allem ab der Gründung der bereits erwähnten Mieter_innenGewerkschaft. Die Kanarischen Inseln, ein Land mit endemischer Arbeitslosigkeit und Prekarität, leiden unter einem chronischen Wohnungsproblem, das durch den Boom von Häusern für den Ferienmarkt sowie die Anlandung von Geierfonds noch verschärft wird. Gerade wegen dieser kämpferischen und solidarischen Arbeit erlitt der Gefährte die verhängnisvolle Verhaftung, bei der er gefoltert wurde. Ruymán hebt einige Worte hervor, die ein Polizist dabei gesagt hat: „Was macht ihr hier, ihr bringt Pöbel/Abschaum hierher. Ihr solltet doch in Las palmas Container anzünden.“ In der vagen, düsteren Vorstellung der staatlichen Sicherheitskräfte und -organe scheint es, dass dies die Arbeit ist, der sich die Anarchist_innen widmen. Ruymáns Überlegungen dazu sind klar, natürlich ist es viel unbequemer, den Enteigneten von allem (außer Mut und Not) den Zugang zu Wohnraum zu erleichtern, als das städtische Mobiliar zu beschädigen.
Wir setzen das Gespräch fort, indem wir uns mit aktuellen Themen beschäftigen. Man darf die obligatorische Erwähnung der Migrationskrise auf den Inseln nicht auslassen. Eine Krise, die auch den Rassismus injiziert hat und der radikalen Rechten auf den Kanarischen Inseln den Weg geebnet hat. Gerade dank des institutionellen Rassismus der Regierungen (sowohl der kanarischen als auch der spanischen), aber auch der Europäischen Union und, wie der Gefährte sagt, der Medien. Interessante Worte in diesem Sinne sind gerade der bekannten vierten Gewalt gewidmet: „Wenn früher Rassismus das Produkt von Fehlinformation war, ist er heute das Produkt von Informationsüberschuss.“ Dies geschieht in einem Archipel, in dem zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte mehr Inselbewohnende in der Diaspora als auf den Inseln lebten. Venezuela, die achte Insel genannt, hat Tausende von Inselbewohnende aufgenommen, die vor Hunger, Arbeitslosigkeit oder Repression geflohen sind, eine jüngere Geschichte, die es wert ist, nicht in Vergessenheit zu geraten. Auf diese Weise, und wenn es das Übermaß an Informationen ist, das die zur selben Zeit geborenen Rassist_innen auf dem Archipel teilweise verursacht, ist es auch wahr, dass die Kanarischen Inseln immer noch weitgehend mit dem Rücken zu einem Kontinent leben, der kaum fünfundneunzig Meilen entfernt ist. . Das ist der Grund, warum die Medien es schaffen, angesichts eines Naturphänomens wie der Migration eine Geschichte zu popularisieren, die sich auf Worte wie „Invasion“ oder „Welle“ konzentriert und dabei ignoriert, dass die Kanarischen Inseln jedes Jahr etwa fünfzehn Millionen hauptsächlich europäische Tourist_innen empfangen.
Die Pandemie, oder der letzte Zyklus von Mobilisierungen, der seit der Verhaftung von Pablo Hasel stattgefunden hat, sind Themen, zu denen wir Ruymán ebenfalls befragt haben. In Bezug auf das erste weist er auf die harten Auswirkungen hin, die es auf die Wirtschaft des Archipels hatte, die Vertiefung einer Krise, die mit einem Territorium, das das ärmste im „politischen Europa“ ist, grundiert wurde und natürlich die Dynamik der Gruppen, in denen teilgenommen wird und deren Arbeit nicht im Wesentlichen auf den telematischen Bereich umgelenkt werden kann, beeinflusst. Er erinnert an die Mobilisierungen, dass es nicht die Repression ist, die sich persönlich gegen einen Aktivisten richtet, die die Menschen auf den Straßen aufweckt — er besteht darauf, dass es die Not ist. Dieses Bedürfnis, das der genozidalen Logik eines dekadenten Systems auferlegt wird.
Schließlich beharrt Ruymán darauf, den Konflikt nicht zu personalisieren. Wie man in seinem Fall helfen kann? Ganz einfach, indem man sich zu Wort meldet, den Fall und Informationen darüber bekannt macht, aber vor allem, indem man sich engagiert und einbringt, sei es in der Mieter_innengewerkschaft, im antirepressiven Kampf, oder in irgendeinem der Themen, die uns betreffen. Das ist die beste Medizin und das beste Mittel, damit die Solidarität zwischen Anarchist_innen nicht nur ein leeres Wort ist.
Audio-Interview Transkription:
– Kaos Canarias: Wie geht es dir, Ruymán?
– Ruymán: Nun, im Rahmen des Möglichen mit all den Umständen, die sich ergeben, abgesehen von meinem speziellen Fall auf sozialer Ebene, ist das Überleben nicht schwerlich.
– Kaos Canarias: Bevor wir auf diesen repressiven Prozess eingehen, den du erlebst, haben wir einige der Gruppen erwähnt, in denen du bis heute für die Anarchie auf den Kanarischen Inseln gekämpft hast oder kämpfst. Wir würden gerne wissen, wie die FAGC entstanden ist, und da diese SIGC auch entstanden ist, ist es unmöglich, dass sie nicht Erinnerungen an vergangene Kämpfe auf dem Archipel mit sich bringt, wie auch andere Mietstreiks und andere Prozesse, die auch auf den Inseln stattgefunden haben.
– Ruymán: Die FAGC wurde hauptsächlich in den Unruhen des 15M geboren, da sind wir vor fast 10 Jahren mit mehreren Anarchist_innen auf die Plätze gegangen, die außer ein paar kleinen Gruppen keine Beziehung zueinander hatten. Dort haben wir festgestellt, dass wir mehr Anarchist_innen waren, als wir wirklich glaubten. Wir begannen, den Diskurs, der in einigen Fällen nicht über die Wahlrechtsreformen oder sogar die Unterstützung für die damaligen Kleinparteien, wie die UPyD, hinausging, auf den Plätzen zu radikalisieren und wollten ihn auf ein anderes Terrain bringen, nämlich das der schweren wirtschaftlichen und wohnungspolitischen Umstände, unter denen wir auf den Kanarischen Inseln leiden. Im Laufe der Zeit bemerkten wir, dass, obwohl wir eine umfassendere Vision vom Anarchismus hatten, der Anarchismus, den wir auf diesen Plätzen verteidigten, mehr dem konventionellen Anarchismus ähnelte, den wir auf der [spanischen] Halbinsel sehen konnten: Sich in Abwendungs- und Wolkenkuckucksheim-Kampagnen verlierend, die weder viel mit der kanarischen Lebenswirklichkeit zu tun hatten, noch mit dem Elend, in dem wir [hier] auf den Inseln leben. Nicht nur in jener Epoche der Krise [3], sondern das Elend, das es hier chronisch gibt: Ein völlig verarmtes reiches Land.
Dann begannen wir, den Diskurs zu verändern. Der erste Realitätsschock trat ein, als San Telmo geräumt wurde. Die Camper_innen, die zum Spaß dort waren, kehrten nach Hause zurück, aber die Camper_innen, die dort waren, weil sie keinen Platz zum Leben hatten, die tatsächlich auf der Plaza de San Telmo endeten, blieben auf der Straße. Das war unser erster Kontakt mit einer sehr harten Realität, und wir machten unser erstes Hausbesetzungsprojekt, um diesen Menschen zu helfen, und es war ein erster Kontakt, der uns dazu brachte, in eine breitere Front einsteigen zu wollen: die der Grundbedürfnisse. Damals wurde aus dem schwarzen Block, wie sie uns nannten, die Anarchistische Föderation von Gran Canaria, die Gruppen aus dem Norden und Süden der Insel vereinte. Wir hatten noch eine kleine Phase des, wie ich es nenne, konventionellen Anarchismus, der sehr viel Spaß machte. Wir bemalten die Gesichter der gelben Gewerkschaften und wir warfen Nazis aus den Demonstrationen, was sehr gut und notwendig ist. Aber das große Problem dabei ist, dass spektakuläre Aktionen keinen Weg haben, wenn es keine Basisarbeit gibt. Es nützt wenig, dass du eine große Rede gegen die gelben Gewerkschaften hältst, wenn du nicht selbst prekäre Arbeiter_innen beraten kannst. Es nützt wenig, dass du eine Rede gegen die Gentrifizierungsprozesse hältst, wenn die Familien, die durch diesen Prozess auf die Straße geworfen werden, nicht die anarchistischen Werkzeuge finden, die eine Alternative zur Lösung ihres Problems sind. Dann wurde die zweite Phase der FAGC geboren, welche die interessanteste ist, wenn wir in die Grundbedürfnisse einsteigen, in den Häusern, beim Anlegen von Selbstversorgungsgärten, bei der Schaffung eines Gesundheits- und Hilfsnetzwerks für Migrant_innen in Verfolgungssituationen, ein Netzwerk, das bis heute anhält und mit mehr als zweihundert Menschen in Kontakt steht, zehn Gemeinschaftsprojekte, die heute auf der Insel überleben, keines davon vertrieben, mit einigen mit acht Jahren Geschichte wie „La Esperanza“. Die Bewegung, die wir geschaffen haben, ist ziemlich stark.
Es gibt einen Umstand, und der ist, dass die FAGC nach eigenen Angaben immer mehr in diese Probleme hineingeriet, dass die klassischen Anarchist_innen gingen, und während dies geschah, traten immer mehr Nachbar_innen ein, die sich bei Kontakt radikalisierten, aber nicht unbedingt eine anarchistische Ideologie annehmen mussten. Es ist der Zeitpunkt, an dem wir begannen, eine breitere Organisation in Betracht zu ziehen, in der sich diese Nachbar_innen wohler fühlen konnten, und die sie zu ihren eigenen machen konnten, ohne einer anarchistischen Föderation beitreten zu müssen. Wie ihr schon erwähnt habt, blicken wir zurück auf die berühmte Teneriffa-Mieter_innenvereinigung von 1933, diese reichen Erfahrungen, die auf diesen Inseln stattfanden und von denen niemand weiß oder die von der Geschichtsschreibung sehr marginalisiert werden. So haben wir uns entschlossen, diese Mieter_innengewerkschaft zu gründen, die erste im ganzen Staat — das ist etwas, was am Rande steht, aber die erste Mieter_innengewerkschaft im ganzen Staat wird hier, auf den Kanarischen Inseln, gegründet. Die Wahrheit ist, dass es ein Erfolg war, mit Hunderten von Mitgliedern und die Leute sind sehr glücklich und sehr stolz auf ihre Gewerkschaft, und am Ende hat die FAGC die Wohnungsstreitigkeiten an die Gewerkschaft verwiesen und hat sich mehr auf den politischen Aspekt des sozialen Kampfes konzentriert sowie in anderen Aspekten wie Migration. Wir haben auch einen Beratungsraum für prekäre Arbeiter_innen, die vor allem mit vielen Kolleg_innen zu tun haben, die Prostitution ausüben und nicht wissen, wie man Themen wie eine beitragsfreie Rente oder bestimmte Arten von Dingen bearbeitet. Letzteres kommt vor, weil es hier auf der Insel keine Art von Dienstleistung dieser Art gibt, für die Prekärsten und vom System am meisten Verarschten. Wir haben also mehrere Projekte.
– Kaos Canarias: Es sind viele Erfahrungen, die man in ein paar Minuten zusammenfassen kann, aber natürlich sind sie die Frucht von vielen Jahren des Kampfes, der Überlegungen, und wir können uns nicht entziehen, dass es eine neue Realität gibt, die uns auferlegt wird: die Pandemie. In welchem Moment befinden sich die Organisationen, die du erwähnt hast, und wie sind sie mit diesem neuen Kontext umgegangen, der COVID-19 verursacht hat?
– Ruymán: Für Organisationen wie die Föderation oder die Gewerkschaft, die nicht so sehr von den telematischen Medien abhängig sind wie andere, ist es kompliziert. Die FAGC und die SIGC brauchen den direkten Kontakt, sehen ihre Mitglieder, kennen die Person, wissen über ihren Fall Bescheid — all das hat sich mit COVID-19 geändert. Das ist die klare Tatsache, dass die Krankheit existiert. Es ist unbestreitbar, dass es Hunderte Kranke und Tote gibt, aber es war auch ein Vorwand, um ein viel härteres, viel gröberes Sozialmodell durchzusetzen. Wir haben schon vor der Pandemie gewarnt, als die Anzeichen der Einschränkungen eintraten, die öffentliche Gesundheit und ihre Lebensfähigkeit in Frage gestellt wurden und Unternehmer_innen als Held_innen dargestellt werden, die Personalabbau durchführen. Wir denken auch an diejenigen, die völlig ausgeschlossen sind, an die Arbeitslosen, an all die Arbeiter_innen, die in B bezahlt werden [4], an die, die Kinder oder alte Menschen betreuen, an die abhängigen Menschen, an die Menschen, die Prostitution ausüben, die noch mehr kriminalisiert werden, und vor allem das große Problem, das wir erkannt haben — das der migrantischen Bevölkerung. COVID-19 ist der große Vorwand gewesen, um die Mobilität der Migrant_innen einzuschränken. Es wurde zuerst als Joker benutzt, um zu kriminalisieren. Es war kein Phänomen, das zuerst auf der Straße auftrat — der Rassismus wurde von den Institutionen eingeimpft. Die Medien haben nicht aufgehört, Einwanderung und Kriminalität, Migration und Krankheit in Verbindung zu bringen. Beziehungen, die viele Menschen dazu gebracht haben, den Diskurs der reaktionärsten Rechten anzunehmen. Es ist merkwürdig, denn früher war es Rassismus aufgrund von Fehlinformation, heute ist es aufgrund von Überinformation.
All das ist etwas, was wir bei der FAGC schon hautnah erlebt hatten. Wir hatten vor Jahren ein Projekt namens „Las masías“. Es hat diesen anschaulichen Namen der katalanischen Häuser, weil die Kolleg_innen von CNT-Sabadell uns zu einem bestimmten Zeitpunkt finanziell geholfen haben und mit diesem Geld konnten wir das Aufnahmeprojekt für Migrant_innen organisieren. Seit COVID-19 sind nicht mehr Menschen angekommen, aber sie haben eine prekärere Situation, also haben wir ein anderes Projekt geschaffen, das wir „El Refugio“ (Die Zuflucht) nennen. Früher kamen sie mit ihrem Pass und setzten ihre Reise fort, jetzt ist das nicht mehr so. Dieses Europa der Angst und des Terrors will sie nicht in ihrem weißen Kontinent, sondern will, dass sie auf den Kanarischen Inseln bleiben, die zum größten Gefängnis des Staates geworden sind. Wenn es hieß, dass die Konzentrationslager nach 1945 nicht zurückkehren werden, stellte sich heraus, dass wir sie auf den Kanarischen Inseln haben, mit unterernährten und misshandelten Menschen. Es gibt ernstzunehmende Aussagen, die dies zeigen, wie die des Richters, der neulich im Fernsehen bestätigte, wie er hörte, dass die Polizei den Migrant_innen damit drohte, ihre Köpfe zu zerplatzen, wenn sie die für sie festgelegten Orte verlassen. Wir lassen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Menschen nur wegen ihrer Hautfarbe zu, was im internationalen Recht als Genozid bezeichnet wird, aber niemand wird jemals dafür belangt werden, denn hier ist es weniger wert als zwölftausend Menschen, die in Schandlagern leben, oder die in den Schluchten ausgesetzt werden, Kinder eingeschlossen, als ein angeblicher Tritt gegen einen zivilen Wachmann. Hier ist das zweite viel strafender als das erste.
– Kaos Canarias: Es scheint, dass immer wieder bewiesen wird, dass ihre Gerechtigkeit nicht die unsere ist. Im Einklang mit dem, was du kommentierst, gibt es viele interessante Fragen, aber eine bemerkenswerte ist vielleicht das Wachstum der radikalen Rechten, etwas, das man auf den Inseln nicht kennt. Hier war die Anwesenheit von spanischen Flaggen sehr ungewöhnlich, etwas, das auf dem Vormarsch ist, aber es scheint, dass dieses Übermaß an Informationen, auf das du hinweist, auf dem Weg ist, auch diese Hassbotschaften zu normalisieren. Glaubst du, dass es auf den Kanarischen Inseln eine Ausbreitung der radikalen Rechten gibt und dass dies den Interessen einiger Eliten entspricht?
– Ruymán: Ich glaube, dass es eine Ausbreitung der radikalen Rechten im ganzen Land gibt, und dass sie vor allem auf den Kanarischen Inseln Einzug hält, gerade weil die ideologische Nische der Reaktion gegen die Einwanderung gesucht wurde. Aber darüber müssen wir uns im Klaren sein, es handelt sich hier um eine historische Reise, die analysiert werden muss. In allen Stadien der Menschheit gibt es einen Moment der Krise, wie es zum Beispiel 1922 in Italien auch der Fall war. Sie besetzen Fabriken, es gibt viel Arbeitslosigkeit und Hunger, die Bourgeoisie hat Angst und greift am Ende zu paramilitärischen Kräften, die am Ende zum Faschismus werden. Es ist der Moment des faschistischen Marsches auf Rom und sie übernehmen die Macht, denn wenn das Kapital spürt, dass es in Gefahr ist, läuft es in die Hände der radikalen Rechten. Dasselbe gilt für Deutschland. Es gibt eine Situation der Arbeitslosigkeit und der Krise, die durch die Niederlage des Weltkriegs verursacht wurde und was die Eliten tun, ist, Zuflucht in der Nationalsozialistischen Partei zu suchen. Sie suchen einen Sündenbock und damals waren es die Juden*Jüdinnen. Sie generieren Antisemitismus basierend auf einer fiktiven internationalen jüdischen Verschwörung. Das Gleiche passiert im spanischen Staat, während der Zeit der Zweiten Republik. Diese erfüllt nicht, was versprochen wurde, es gibt keine Agrarreform, die Arbeitslosigkeit geht weiter hoch, die Arbeiter_innen werden unterdrückt, der Fall Casas Viejas 1933, die Deportation von Anarchist_innen in die Kolonien, auf die Kanarischen Inseln und Villacisneros, und als Folge davon gibt es mehrere Bestrebungen und revolutionäre Versuche von Seiten der Arbeiter_innenbewegung. Das ist es, was zu dieser Stärkung rechter Positionen führt, die sich mutig genug fühlen, einen Putsch zu wagen und uns eine vierzig- oder siebzigjährige Diktatur aufzuerlegen, denn ich denke, wir müssen sagen, was wir getan haben. Das ist das, was reproduziert wird — es ist keine Verschwörungstheorie, es heißt Geschichte. Wir leben in einem Moment der systemischen Krise, verschärft durch dieses Problem von Covid. Die Kinder, die in den Zweitausendern oder auch in den Neunzigern geboren wurden, haben nur Krise gekannt. Wir hatten die Finanzkrise, die Covid-Krise und die Krise, die darauf folgen wird. Wir sprechen über die Mehrheit der jungen Menschen zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren, die sich nicht emanzipieren können. Wir sprechen auch über vierzig Prozent Arbeitslosigkeit, die höchste in Europa. Wir haben die niedrigsten Gehälter im Staat, konkurrierend mit Extremadura, aber mit dem großen Unterschied, dass wir hier eine der höchsten Mieten haben, der vierthöchste Anstieg ist hier. Wir sprechen auch von einer absolut tertiären Wirtschaft, die vom Tourismus abhängig ist. Wenn so etwas wie diese Pandemie passiert, finden wir uns mit einem gescheiterten Wirtschaftsmodell wieder, das von etwas so Unbeständigem wie dem Tourismus abhängig ist. Es führt uns zu einer sehr schnellen Beschleunigung der Verarmung. Wir wissen, dass es seit Beginn der Pandemie 800.000 ärmere Menschen gibt, während die Reichen 26 Milliarden Euro reicher sind als vorher. Sie sind von der Pandemie nicht betroffen. All diese Zusammenhänge können nur zu einem führen: Proteste auf den Straßen. Der Fall von Pablo Hasél war ein Auslöser, aber nicht die Ursache.
Die Menschen wehren sich gegen die strukturelle Gewalt und das System muss die Situation polarisieren und auf die radikale Rechte bringen. So setzen sie der Volksmacht, der von unten geborenen Wut, eine von oben geborene Macht und Wut entgegen. Die Medien nehmen jede Falschmeldung von Twitter und verkaufen es als Gegeninformation. Ein Beispiel dafür sind die Migrant_innen, die beim Herumtollen in Hotelpools gezeigt wurden, von denen es keine Bilder gibt, wie viele von ihnen am Ende abgeschoben wurden oder jetzt am Abgrund leben. Die Institutionen, ob links oder rechts, die progressivste Regierung in der Geschichte und auch die lokale Regierung, die keine Absicht haben, die Knebelgesetze, die Arbeitsreform oder das Einwanderungsgesetz aufzuheben, haben eine wirklich faschistische Politik geschaffen. . Diese besteht darin, dass Menschen inhaftiert werden, ohne ein anderes Verbrechen begangen zu haben, als in Afrika geboren und Schwarz zu sein. Wenn Informationen auf diese Weise von den Medien verwaltet werden, reproduzieren die Menschen diese Botschaft. Der Straßenrassismus ist ein Spiegelbild des institutionellen Rassismus, und all die Menschen, die ihn reproduzieren, werden de facto von der Politik unterstützt. Wenn wir eine Demonstration gegen Rassismus machen, sei versichert, dass wenn wir die Subdelegation der Regierung nicht in ein paar Minuten benachrichtigen, kommt die IPU und räumt uns mit Stöcken. Doch wenn die Leute rauskommen, um gegen Migration zu demonstrieren, was hat die Polizei dann getan? Sich bei den Demonstrierenden eingeschmeichelt, ihnen die Hand auf die Schultern gelegt und sind wieder ruhig gegangen.
– Kaos Canarias: Es ist ein entmutigender Ausblick, trotzdem kämpfen wir weiter. Wir möchten dich nun genau zu dem Fall befragen, der dir bevorsteht. Wie und wann fand diese illegale Verhaftung statt, bei der du beschuldigt wurdest, einen Wachmann getreten zu haben?
– Ruymán: Zu dieser Zeit war ich an der Unterstützung der Gemeinschaft La Esperanza beteiligt, das ist das größte Hausbesetzungsprojekt im ganzen Bundesstaat und es wird in der Gemeinde Santa María Guía entwickelt. Dort leben 76 Familien, etwa 200 Menschen. Es war 2015 und die Umsiedlung aller Familien stand kurz vor dem Abschluss, verschiedene Fragen wurden geklärt, aber die staatlichen Sicherheitskräfte und -organe fühlten sich mit unserer Anwesenheit nicht wohl. Es war ein Tag, an dem ich auf dem Weg zu meiner Arbeit war. Ich hielt ein Auto an, von dem sie sagten, es seien Zivilgardisten, obwohl sie sich nicht auswiesen. Sie verlangten meine DNI, ich gab sie ihnen und nach ihnen stimmte mein Gesicht nicht mit dem auf dem Dokument überein. In diesem Moment sagten sie mir, dass sie mich zur Polizeiwache bringen müssen, um meine Identifikation zu bestätigen und dort angekommen fand die erbärmlichste Show statt, die ich in meinem Leben gesehen habe. Sie fangen an zu skandieren „Ruymán ist schon gefallen“ und applaudieren, was ich zuerst als Witz wahrgenommen habe, weil es erbärmlich scheint, dass erwachsene Menschen so etwas tun. Sie nehmen meine Arbeitstasche, öffnen sie und werfen sie weg, machen ständige Provokationen, die eine Reaktion von mir zu suchen scheinen. Einige der Dinge, die sie mir sagen, sind: Weißt du, was Intxaurrondo [5] ist? Nun, hier wirst du erfahren, was Intxaurrondo ist. Jetzt werden wir dich Liegestütze machen lassen. Du wirst dir vor Angst in die Hosen scheißen, du Scheiß-Roter [6]. Scheiß Anarchist. Das waren alles homofeindliche, machohafte Beleidigungen und in der Verhandlung werde ich sie wiederholen müssen, aber hier spare ich sie mir. Ich bleibe kalt, denn ich verstehe, wie sie arbeiten, und ich nenne sie faschistisch. Bei all dem gibt es einige Dinge, die bei mir hängen geblieben sind, weil sie sehr interessant sind, eines davon ist: Was zur Hölle mache ich hier in Guía, um Menschen zu helfen und Familien umzusiedeln, wenn ich in Las Palmas sein sollte, um Geldautomaten und Container anzuzünden — das ist es, was Anarchist_innen zu tun haben. Das hat mir zu verstehen gegeben, dass sie sich viel mehr Sorgen machen, dass wir Anarchist_innen Familien helfen und Zwangsräumungen stoppen anstatt alles andere. Sie sagen mir auch, dass ich Guia mit all dem Pöbel fülle, den sie nicht in Jinamar oder Geria haben wollen. Die letzten beiden sind zwei Arbeiter_innenviertel, die sehr marginalisiert sind. Guia, für diejenigen, die nicht von der Insel sind und es nicht kennen, ist ein sehr altes Viertel, mit einigen Nachbar_innen mit starker Kaufkraft, und wo sie stolz darauf sind, die Guardia Civil und die Judicial Party in der Gegend zu haben. La Esperanza scheint mit den „Werten“ des Ortes zu kollidieren. Da meine Ohren schon heiß waren, gab ich ihnen eine sehr einfache Antwort: Der Mob sind nicht die Leute, die ich verteidigte und denen ich half, umzusiedeln — der Mob sind die Politiker_innen und Geschäftsleute, deren Interessen ihr verteidigt.
Die Antwort gefiel ihnen nicht und sie verpassten mir die erste Ohrfeige. Gleich darauf legten sie mir Handschellen an und drückten mich auf den Tisch. Sie schlugen mir auf den Rücken und dann begannen sie mich zu würgen. Sie würgten mich mehrere Male und beim letzten Mal fing ich an, Blut zu erbrechen und da hörten sie auf. Nach dem Würgen ist das erste, was ich sage, als ich wieder zu Atem komme, dass ich Habeas Corpus [Rechtsakt, um die Freilassung einer Person aus rechtswidriger Haft zu erreichen] will, dass ich zu einem Arzt*einer Ärztin gebracht werde und dass dieser Anwalt gerufen wird. Das hat sie gebrochen, denn sie dachten, sie hätten jemanden verhaftet, der keine Ahnung hat, wie das Verfahren bei einer Verhaftung abläuft. Von da an hörten die Beleidigungen und Kommentare nicht auf, aber die Aggressionen hörten auf. Am nächsten Tag erschien ich vor dem Richter und dieser stellte fest, dass es sich nicht um ein Verbrechen des Angriffs auf die Autorität handelte, sondern um Ungehorsam. Sie legten Berufung ein (etwas Ungewöhnliches) und baten mich in den Knast. Während dieses sehr langen Prozesses von sechs Jahren wurden sie am Ende von Amts wegen wegen Folter und illegaler Inhaftierung angeklagt. Was ist da los? Dass wir den Brief von der Staatsanwaltschaft erhalten haben und sie einen Freispruch für sie beantragen, weil ich keine Zeug_innen oder anschaulichen Beweise vorlegen kann, dass ich auf der Polizeiwache gefoltert wurde. Das ist das, was normalerweise passiert, wenn man auf der Polizeistation gefoltert wird und dass man sein Handy nicht rausholen kann und keine Freund_innen dort hat, um ihnen zu sagen: Hey, schau mal, was sie mit mir machen. Also, ich werde verurteilt und sie werden versuchen, mich damit für ein paar Jahre ruhig zu halten (damit das Urteil nicht vollstreckt wird) und damit diese anarchistische Bewegung und die Hausprojekte, die hier entstanden sind, zu bestrafen.
– Kaos Canarias: Diese neue Inszenierung gegen deine Person wird inmitten einer Dynamik von Mobilisierungen zugunsten der Meinungsfreiheit veröffentlicht, die, wie du schon gesagt hast, eine Reihe von Problemen umfasst, die zum Teil das Ergebnis der Pandemie sind, die aber größtenteils auf Widersprüche reagieren, die strukturell sind und dem System selbst innewohnen. Was ist deine Meinung zu diesem neuen Zyklus? Befinden wir uns in einer Dynamik, welche die 15M stilllegt, das mehrere Generationen betroffen hat?
– Ruymán: Ich würde mir wünschen, dass eine Dynamik wie die 15M reproduziert werden könnte, aber ohne die Fehler zu wiederholen — diese rote Linie eines missverstandenen Pazifismus, in der eine Straßensperre als Gewalt angesehen wurde und dass, wenn die Polizei angriff, die Leute applaudierten und denen Vorwürfe machten, die dagegen Widerstand leisteten. Es scheint mir keine Erfahrung zu sein, die man wiederholen sollte. Aber alles andere, die Unzufriedenheit, die Übernahme des öffentlichen Raums, jetzt, wo es aufgrund von Covid-19 schwierig ist… Wenn ich möchte, dass es reproduziert wird, sollte diese Unzufriedenheit als etwas Organisierteres aufrechterhalten werden. Das Problem ist, dass meiner Meinung nach ein Programm, ein Projekt fehlt, von dem, was wir wollen und was wir fordern. Und ich denke, und meine Meinung ist in diesem Sinne nicht sehr populär in der FAGC, dass es ein Problem ist, dass wir repressive Probleme (Hasél, Ruymán, wer auch immer) personalisieren. Ich sage das, weil der Personalismus alles andere überschattet. Hier protestieren die Leute nicht für den einen oder anderen, sie tun es, weil es chronisches Elend gibt, und weil es genügend Gründe gibt, auf die Straße zu gehen, um zu protestieren. Das Problem ist, dass, wenn sich alles auf eine Person konzentriert und fokussiert, gäbe es dann keinen Grund mehr für Unzufriedenheit, wenn Hasél morgen begnadigt wird und gehen wir nach Hause? Wenn ich morgen freigesprochen werde (was nicht passieren wird), gibt es dann keinen Grund mehr, weiter zu fordern? Es gibt Gründe — hier gibt es immer noch ein Strafgesetzbuch, das Blasphemie unter Strafe stellt, es gibt immer noch ein Strafgesetzbuch, das festlegt, dass es ein Verbrechen ist, den König, die Krone, die autonomen Gemeinschaften zu beleidigen. Wenn ich hier sage: „Ich scheiße auf La Rioja“, bei aller Zuneigung zu den Menschen in La Rioja, kann mich ein Mann anzeigen und ein Richter wird mich fragen: Hast du in einem Interview mit KaosenlaRed gesagt, dass du in so eine autonome Gemeinschaft geschissen hast? Ich meine, so verrückt ist dieses System.
Kaos Canarias: Du hast gesagt, dass sich die Realität auf der Insel in vielen Punkten von der des restlichen spanischen Staates unterscheidet. Die Migrationskrise, der institutionelle Rassismus, der die Viertel erreicht hat und dort eindringt, oder das Problem der Arbeitslosigkeit, das fast ein weiterer geschützter Endemismus zu sein scheint, sowie die Arbeitsplatzunsicherheit, der Missbrauch von Arbeitgebenden, das Wohnungsproblem, etc. Denkst du, dass es eine Möglichkeit gibt, dass die Demonstrationen, die wir auf der Halbinsel gesehen haben, die Kanarischen Inseln erreichen? Oder steht vielleicht dieser neue Zyklus, über den wir gesprochen haben, der eher insularer Natur ist und der auf diese Probleme oder andere, die während des Interviews nicht aufgetaucht sind, antwortet, noch aus?
– Ruymán: Ich glaube, dass es möglich und wünschenswert ist, aber ich weiß nicht, ob es passieren wird. Die Sache ist, dass wir auf den Kanarischen Inseln, ohne auf spezifische Fälle einzugehen, sehr charakteristische und sehr spezifische Umstände haben. Wir sind das Territorium des ärmsten politischen Europas, wir haben eine Bevölkerung, die komplett in dem Sinne erzogen und aufgewachsen ist, dass dies nicht Afrika ist, und wir wissen kaum, was auf einem Kontinent passiert, der fünfundneunzig Kilometer entfernt ist, und doch sind wir über jedes Problem, das in Europa passiert, voll informiert. Wir leben mit dem Rücken zu unserer Realität, und das gibt uns das Gefühl, Europäer_innen zweiter Klasse zu sein, wenn es hier verheerende wirtschaftliche und soziale Zustände gibt. Mit anderen Worten, die mittleren Viertel auf den Kanarischen Inseln befinden sich in einer viel ärmeren Lage als vielleicht die großen Armutssümpfe, die es in vielen Gebieten der Halbinsel geben mag. Das ist unsere Realität, und es gibt Gründe, auf die Straße zu gehen. Wenn man über den Anstieg der Arbeitslosigkeit oder der Jugendarbeitslosigkeit in Spanien spricht, sind es hier normale Werte. Diese Realität, dass wir hier den Quadratmeter Miete mit zehn Euro bezahlen, oder sogar fünfzehn, wie willst du das bezahlen, wenn du ein Einkommen von vierhundertdreißig Euro hast? Das ist das, was die Leute als Taschengeld haben. Darüber wird nicht gesprochen. Wir haben eine Bevölkerung, von der bekannt ist, dass sie objektive Kriterien hat, um die Stadt in Brand zu setzen, und die Art und Weise, wie das System dies verhindern musste, ist die Nabelschnur der Subventionen aufrechtzuerhalten, denn ohne diese gäbe es keine Möglichkeit, den sozialen Frieden zu erhalten. Wir haben eine Bevölkerung, in Vierteln, die bis zu siebzig Prozent Arbeitslosigkeit erreichen, die von diesen Subventionen leben soll. Es ist aber nicht so, sie leben von der Schattenwirtschaft. Das mit COVID-19 ist ein enormer Schlag für die Wirtschaft der Familien gewesen. Das Problem ist, dass man alles in eine größere Kampagne einbeziehen muss und nicht alles isoliert sehen darf.
Es ist wahr, hier gibt es ein Problem der Meinungsfreiheit, ein veraltetes Strafgesetzbuch, aber wir müssen auch auf die Straße gehen, um das Einwanderungsgesetz zu beseitigen, denn wenn wir nicht Kompliz_innen dieser Gewalt sind, müssen wir hier rausgehen, denn es gibt vier Aristokraten, die das Land besitzen und das fast seit der Eroberung tun. Hier muss man auf die Straße gehen, weil wir genug davon haben, dass das Land der Hotellobby gehört. Hier muss man rausgehen, weil es beliebte Viertel (wie de San Cristóbal) gibt, die durch Ferienwohnungen gentrifiziert werden, und am Ende werden die Armen ins Meer geworfen. Das Problem, und das muss die kanarische Bevölkerung sehr gut kennen, haben wir nicht mit unseren Nachbar_innen, mit den Migrant_innen, wir haben es mit denen oben. Es ist eine parasitäre Klasse, es ist eine Hotellobby, die die Politik der Regierung nach Belieben steuert, ein Finanzkapitalismus, vertreten durch die Geierfonds, die bereits auf den Inseln gelandet sind, und 138.000 Häuser auf den Kanarischen Inseln halten. Leerstehend, um den Marktpreis zu erhöhen.
– Kaos Canarias: Glaubst du, dass dieser Prozess, mit dem du konfrontiert bist, eine Antwort auf eine Art von Schaden oder Rache ist, die gewisse lokale Mächte gegen dich haben könnten, gerade wegen dieser aktivistischen Arbeit? Glaubst du, dass wir am Rande einer neuen Repressionswelle stehen, welche mit verschiedenen Gefährt_innen beginnt, aber dass das tiefe Meer neue Prozesse bringt, die darauf abzielen, den sogenannten sozialen Frieden zu erhalten?
– Ruymán: Durchaus. Hier gibt es durch 15M Bürger_innenschutzgesetze, da muss man wissen, dass Ungehorsam ein Verbrechen ist. Ordnungswidrigkeiten, kleine oder schwere, sind verschwunden, Verbrechen werden mit viel höheren Gefängnisstrafen bezahlt. Zum Glück hat es mich erwischt, bevor das Knebelgesetz angewendet wurde, denn sonst wäre es eine viel höhere Strafe. All das liegt daran, dass die Regierung jedes Mal, wenn es soziale Unzufriedenheit gibt, so reagiert, wie sie reagiert, indem sie die Repression verschärft, damit die Leute Angst haben und nicht auf die Straße gehen. Wie auch immer, ich denke, dass sie es vielleicht auf eine sehr ungeschickte Art und Weise machen, denn wenn eine Person merkt, dass sie eine 6000 Euro Geldstrafe bekommen kann, weil sie nichts getan hat, dass ich ins Gefängnis gehen kann, weil ich nichts getan habe, dann stellt sich die Person vielleicht vor: da ich für das Nichtstun verarscht werde, werde ich etwas tun. Die Repression ist sehr ungeschickt und verursacht das, was auf der Straße passiert. Wenn ich sage, wenn du dich nicht auf die Menschen konzentrierst, wenn du Macht hast, ist es töricht und eine spießige Mentalität, die es erlaubt hat, lange Zeit zu funktionieren und dass das der Grund ist, warum du glaubst, dass alle Bewegungen von Führenden abhängen. Die Bewegung auf Gran Canaria hat keinen Anführende. Wenn ein_e Sprecher_in krank wird, kommen zwei, drei neue. Ich bin nicht essentiell. Die Idee, dass sie mit der Anklage gegen mich die Bewegung beenden würden, war eine absurde Idee, aber es erklärt, warum sie das getan haben, und dass es eine Eskalation der Repression gibt. Es ist kein Zufall, dass sie die acht Kolleg_innen in Katalonien mit diesem neuen absurden Fall der „Bic“-Feuerzeuge verhaftet haben. Diesbezüglich wird auf den Tisch gelegt, dass ein Indiz für ein Verbrechen darin besteht, dass die acht Gefährt_innen den gleichen Typ von Feuerzeug haben. Das ist etwas, was ein Anwalt schreibt und dann eine Zeitung veröffentlicht. Dann die zwei Gefährt_innen in Granada, weil sie für die Freiheit von Pablo Hasel demonstriert haben oder die fünf Gefährt_innen in Euskal Herria, über die nicht so viel gesprochen wird wie über andere Fälle. Es tut mir weh, dass sich unter den Inhaftierten Hierarchien bilden, dass einige von uns die Möglichkeit haben, über unsere Situation zu sprechen und andere, deren Name nicht einmal bekannt ist, nun allein im Gefängnis sind und sich verlassen fühlen. Das betrifft uns alle. Was passieren kann ist, dass ich morgen entlassen werde, für den unbegründeten Tritt gegen einen Wachmann, und morgen nehmen sie euch ins Visier für das mit mir geführte Interview. Das ist eine Kettenreaktion. Sie werden es bei jeder Person mit einer dissidenten Mentalität durchziehen. Wo ist das Problem? Dass sie gegen Anarchist_innen hetzen, wie es historisch geschehen ist, denn abgesehen davon, dass wir einen Diskurs haben, der, wenn er in die Bevölkerung eindringt, diese radikalisieren kann, gibt es ein weiteres Problem und das ist, dass wir sehr wenig soziale Unterstützung haben. Für die acht Gefährt_innen, die in Katalonien inhaftiert sind, gab es keine Mobilisierungen wie die, die wir gesehen haben und für die in Granada hat diese Dynamik auch nicht stattgefunden. Sie wissen, dass es nicht zu sozialen Protesten kommen wird, wenn sie uns treffen.
– Kaos Canarias: Vor ein paar Wochen haben wir die Solidaritätskampagne gesehen, die sich um deinen Fall dreht. Glaubst du, dass es auf Gran Canaria ein unterstützendes Umfeld gibt, das in der Lage ist, diese Art von Problem anzunehmen? Sagen wir mal, das Management der Repression durch Gefährt_innen. Und international? Ich meine, wie werden wir diesen klassischen, libertären Slogan in die Realität umsetzen, der ausdrückt, dass Solidarität nicht nur ein geschriebenes Wort sein sollte.
– Ruymán: Das ist eine sehr gute Frage. Das Problem dabei ist, dass antirepressive Kämpfe alle Ressourcen und Kräfte in einer Sache absorbieren. Es sind Kämpfe, die der Staat beginnt, weil er weiß, dass es Zermürbungsprozesse sind. Eine Person wird verhaftet, eine andere geht auf die Straße, um zur Unterstützung zu demonstrieren und wird ebenfalls verhaftet, und so tragen sie zu diesem Teufelskreis bei, der die Bezahlung von Anwält_innen und Bußgeldern nach sich zieht, und am Ende sogar Menschen ihrer Freiheit beraubt werden. Am Ende nutzt sich die antirepressive Front sehr ab, und deshalb wollen sie uns in diese Dynamik bringen. Aber ich bin sehr optimistisch, ich sehe die Gefährt_innen der Gewerkschaft und der FAGC, die die Insel tapezieren — das ist etwas, was mich sehr erregt, ich sehe Graffiti in Barcelona, auf Katalanisch, die meine Freiheit fordern, ich bin bewegt von der Tatsache, Gefährt_innen aus Deutschland zu sehen, Kolleg_innen, die das auf Englisch verbreiten und in der ganzen Welt einen Kurs geben. Ich denke, dass wir nicht die Massenbewegung sind, die wir vielleicht vor achtzig Jahren waren, aber, die besten Menschen, die ich kenne, sind in der anarchistischen Bewegung, und sie sind unter denen, die sich Anarchist_innen nennen und alles geben, damit sich ein_e Partner_in nicht alleine fühlt, und sie geben alles. Wir können nicht naiv sein und denken, dass Solidarität die Schläge aufhalten wird, aber es macht uns viel besser, wenn es darum geht, sie zu empfangen. Heute bin ich sehr stolz auf die Bewegung, auf die innerhalb des spanischen Staates wie auch des internationalen Raumes. Wenn sie das alles für einen wie mich, jemand der arm dran ist, tun können, ist es klar, dass sie das Gleiche für jede Person tun werden, wenn die Repression hier auf den Inseln schlimmer wird.
– Kaos Canarias: Wir sind am Ende des Interviews angelangt, und gerade weil wir hoffen, dass sich diese Solidarität weiter ausbreitet, stellen wir dir die letzte Frage: Wie können sich andere Gefährt_innen mit dir solidarisieren, oder sogar von anderen Gefährt_innen wissen, die einen ähnlichen Prozess durchmachen und auch diese Betreuung und gegenseitige Unterstützung brauchen, die so oft notwendig ist?
– Ruyman: Im Moment ist das, was wir am meisten brauchen, die Stimme, vor allem um das Wort zu verbreiten. Es gibt viele Kolleg_innen, die uns kontaktiert haben, um herauszufinden, ob Geld benötigt wird, da die Rechtskosten abgedeckt sind. Wir wussten, was auf uns zukommen würde und glücklicherweise ist dieser Aspekt abgedeckt. Wir brauchen diese Stimme, dass Menschen sich engagieren und dass sie sich nicht nur für diese spezielle Sache, sondern für die Unterdrückung im Allgemeinen einsetzen, dass sie mobilisieren, dass sie sich bewegen. Wir brauchen jede Person, die empört ist über das, was sie mir antun wollen und sich sagt: verdammt, was für Bastarde sind diese Leute und was kann ich tun. Nun, tritt der Mieter_innenvereinigung von Gran Canaria bei. Auch wenn du kein Wohnungsproblem hast, kannst du uns sehr helfen, wenn du dir die Webseite der Gewerkschaft anschaust, das Telefon siehst und anrufst und sagst, ich will beitreten. Das gleiche mit der FAGC, Wir haben kein öffentliches Telefon (wir werden es dem Innenministerium nicht so einfach machen), aber sie können uns über die Gewerkschaft finden.
Die beste Medizin gegen die Repression ist es den Sprecher*die Sprecherin zu machen, also den Fall und Informationen darüber bekannt zu machen, sich den Gruppen anzuschließen, die angegriffen werden und dem System zu zeigen, dass das, was sie tun, erbärmlich ist. Dass das Einsperren einer Person ins Gefängnis den Hunger nicht beenden wird, die Arbeitslosigkeit nicht beenden wird, dass selbst wenn eine Person für hundert Jahre eingesperrt würde, das Elend auf diesem Boden weitergehen wird. Nichts davon wird diese Situation, die wir erleben, beenden. Es gibt einen Satz, den ich sehr mag, weil er zutiefst real ist: Das Gesetz ist stark, aber noch viel stärker ist das Bedürfnis. Und dieses Bedürfnis bringt man nicht zum Schweigen mit Gitterstäben, noch mit Stöcken, noch mit Gummiknüppeln, noch mit Foltern. Dieses Bedürfnis kann man einzig und allein dadurch stillen, indem man auf der Straße kämpft, bis man erreicht, dass sich unsere Lebensumstände verändern.
Interview von Miguel Delgado für Kaos Canarias
Erklärungen:
[1] Die Guardia Civil ist eine spanische Polizeieinheit, die sowohl militärische als auch zivile Funktionen wahrnimmt.
[2] Die Bewegung entstand am 15. Mai 2011. In zahlreichen Städten in ganz Spanien besetzten Menschen die zentralen Plätze ihrer Städte. Wie einige Monate zuvor der Tahrir-Platz in Ägypten und einige Monate später, von USA ausgehend, weltweit „Occupy Wall Street“. Benannt ist die Bewegung der „Empörten“ – wie sie auch genannt wurden – nach dem Twitter-Hashtag bzw. Datum, #15m = 15. Mai. Siehe auch [3]
[3] gemeint ist die Immobilienkrise, die in Spanien auf die globalen Finanz/Bankenkrise folgte und die 2011 quasi dort die Initialzündung war für die massive Bewegung und Sozialproteste „Der Empörten“, oder 15M, wie sie auch genannt wurde. Siehe auch [2]
[4] „Arbeit in B“ ist im spanischen Kontext jegliche nicht-angemeldet Arbeit. Sei es weil es ohne Arbeitsvertrag ist, weil es eine inoffizielle/irreguläre Tätigkeit ist, weil keine Steuern abgeführt werden (Haushaltshilfen, Alten- und Kinderpfleger_innen, Kellner_innen. Es gibt viele Kellner_innen, die keinen Arbeitsvertrag haben oder einen mit viel weniger Stunden, als sie tatsächlich arbeiten), Tagelöhner_innen auf dem Feld, Erntehelfer_innen. Das sind in der Regel prekäre Menschen, die solche Arten von „Arbeit in B“ annehmen müssen. Es gibt somit also auch keine Ansprüche auf Arbeitslosengeld, Sozialversicherung usw.
[5] Intxaurrondo ist ein berüchtige Kaserne der Guardia Civil im Baskenland. Es gibt auch deutschsprachige Artikel zum Thema:
https://www.jungewelt.de/artikel/397062.staatsterrorismus-folter-als-g%C3%A4ngige-praxis.html
https://jungle.world/artikel/2000/01/alles-fuer-das-vaterland
https://www.heise.de/tp/features/Manche-Moerder-sind-gleicher-3424041.html
[6] „Rojo“, Roter, nennen die spanischen Faschist_innen im Grund genommen, alles was links von ihnen ist (also alles). Eine Differenzierung zwischen Kommunist_innen und Anarchist_innen ist von diesen Reaktionären auch nicht zu erwarten.