Ausschreitungen gegen die Ausgangssperre in Montreal

Kritische Anmerkungen und Reflexion zu den jüngsten Ausschreitungen in Montreal gegen die Ausgangssperre. Ursprünglich gepostet auf Montreal Counter-Info.

Am Sonntag den 11. April, als Reaktion auf Legaults Wiedereinführung der Ausgangssperre ab 20 Uhr, gingen die Menschen in Montreal auf die Straße, um das Frühlingswetter zu genießen und ihre Wut über diese beschissene Welt auszudrücken, die uns weiterhin unser Leben stiehlt. Ohne eine erklärte politische Absicht wurde in den sozialen Medien dazu aufgerufen, sich im Alten Hafen zu versammeln, um zu feiern und der Ausgangssperre zu trotzen. Einige Anarchist_innen schlossen sich der gemischten Menge an, die hauptsächlich aus jüngeren Menschen bestand, deren größte Gemeinsamkeit die Wut darüber war, dass ihre wenigen Freiheiten von der Regierung weiter beschnitten wurden. Die Atmosphäre vor 20 Uhr war aufgeregt und rau, wobei „Fuck Legault“ der häufigste und lauteste Ruf war. Motorräder ließen ihre Motoren aufheulen, Menschen tanzten, tranken und lachten mit ihren Freund_innen, um den Frühling zu feiern und dieser beschissenen Welt zu trotzen.

Die erste Bullenkutsche, die vorbeifuhr, wurde mit Buhrufen und Mittelfingern empfangen, die zweite mit Eiern, Flaschen und Steinen. Revolte lag in der Luft und wir freuten uns, inmitten eines solchen Spektakels zu sein, besonders nach einem so langen, trostlosen Winter. Als die Ausgangssperre näher rückte, bemerkten wir, dass sich die Bereitschaftspolizei im Osten der Rue de la Commune und Rue St. Paul versammelte. Westlich der Rue de la Commune gab es nur ein paar Streifenwagen. Zu dieser Zeit hielten sie Abstand und beobachteten die Demonstration.

Etwa zur gleichen Zeit trafen „Reporter_innen“ von Rebel Media ein, einer rechtsradikalen Nachrichtenagentur mit Sitz in Toronto. Rebel Media ist bekannt dafür, dass sie Reporter_innen mit Verbindungen zu Stormfront, einer prominenten Neonazi-Webseite, beschäftigen und mit anderen rassistischen, transfeindlichen und rechtsradikalen Persönlichkeiten zusammenarbeiten, sowie einwanderungsfeindliche und COVID-leugnende Verschwörungstheorien verbreiten. Trotz Rebel Medias verzweifeltem Aufmerksamkeitsverhalten sind sie ziemlich obskure Versager, selbst als YouTube-Provokateure (Anmerkung: seit dem 14. April sind sie von YouTube gesperrt). Es war klar, dass die überwiegende Mehrheit der Anwesenden nicht wusste, wer sie sind, daher interagierten leider viele junge Menschen aufgeregt und positiv mit ihnen.

Die Geier von Rebel Media produzierten einen lächerlichen und erbärmlichen Bericht, der die „Antifa“ für die Sachbeschädigungen und Plünderungen in dieser Nacht verantwortlich machte, anstatt zu zeigen, wie ein echter Querschnitt der Menschen in Montreal mit legitimer Wut und dem Wunsch, in einer Welt gehört zu werden, die ihre Stimmen marginalisiert, reagiert.

Wir hatten das Gefühl, dass wir nicht genug Leute hatten, um mit Rebel Media umzugehen und es schien wahrscheinlich, dass die Menge sich auf ihre Seite geschlagen hätte, wenn wir eingegriffen hätten, weil niemand weiß, wer Rebel Media ist, geschweige denn, dass sie benutzt werden, um rechte Propaganda zu machen. Es war eine frustrierende Situation.

Zur gleichen Zeit wurden von kleinen Gruppen innerhalb der Demo Feuer entfacht, die aber von einer scheinbar kleinen, aber organisierten Gruppe weißer Männer gelöscht wurden, die taktische Ausrüstung trugen und Aufnäher, die mit rechten Ideen assoziiert wurden, an ihren Jacken befestigt hatten, von denen einer eine Go-Pro Kamera auf dem Kopf hatte. Man sah sie zeitweise eine Gruppendiskussion führen, bevor sie sich in und um die Demonstration bewegten, um die Menge zu überwachen. Trotz einiger unzusammenhängender Schlägereien und Durcheinander hier und da, war die Stimmung immer noch extrem positiv, die Leute feierten und sangen und feierten, dass sie zusammen auf der Straße waren.

Später fingen größere Gruppen an, noch größere Feuer auf dem Platz zu entfachen, und dieses Mal wurde nicht eingegriffen. Es gab einige Widerstände, als die Cops Tränengas einsetzten und versuchten, die Menge aufzulösen, aber die meisten Leute begannen zu rennen und sich zu zerstreuen, als die Polizei den Platz betrat. Der Westen von St. Laurant war scheinbar frei von Cops und mehrere Gruppen von Menschen begannen autonom Feuer zu legen, zu plündern und Geschäfte und anderes Eigentum zu zerstören, als sie den Platz verließen. Auch wenn wir uns wünschten, dass es länger gedauert hätte, so war es doch ermutigend zu sehen, wie die Menschen in dieser kurzen Zeit zusammenarbeiteten, um sich ein kleines Stück ihres Lebens zurückzuerobern, indem sie die Bougie-Läden im Alten Hafen plünderten und ganz allgemein Scheiße bauten. Ein Stadtbus, der für den Transport von Riot-Cops genutzt wurde, wurde ebenfalls befreit und mit Graffiti beschmiert, während andere in und um ihn herum einen kleinen Sieg feierten, wenn auch nur für eine kurze Minute.

In einem Medienkommentar bezeichnete Bürgermeister Plante die Feiernden als „dumm“ und weinte über den Schaden, der den kleinen Unternehmen zugefügt wurde, und behauptete, „wir müssen vereint bleiben und zusammenhalten“. Das ist nur das übliche, beschissene liberale Narrativ: Plötzlich „sitzen wir alle in einem Boot“, alle sind als „Bürger_innen“ gleich, wenn es darum geht, die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten. Sie beschönigen die sehr realen Spaltungen innerhalb der Gesellschaft, die durch unterdrückerische Strukturen zusammengehalten werden, durch die die wohlhabende, überwiegend weiße besitzende Klasse die Arbeiter_innenklasse, die Armen und die People of Color ausbeutet.

Gleichzeitig verurteilen linke Identitätspolitiker_innen in den sozialen Medien die Krawalle und behaupten, sie seien dafür verantwortlich, dass diejenigen, die ohnehin schon am meisten gefährdet sind, noch mehr Schaden erleiden. Andere fallen auf das Narrativ der schwer fassbaren „Agitator_innen von außen“, weiße Anarchist_innen, die friedliche Menschenmengen infiltrieren, um Gewalt zu verursachen, herein. Während wir die sehr realen Gefahren anerkennen, denen insbesondere marginalisierte Menschen durch COVID-19 ausgesetzt sind, möchten wir darauf hinweisen, dass es vor allem People of Color waren, die bei diesen Unruhen auftauchten und aus eigener Initiative handelten.

Es ist nicht die Revolte und militante Solidarität auf der Straße, die Schaden anrichtet, sondern die Institutionen und Gesetze, die die kapitalistische Zivilisation regieren. Diese sind es, die uns an beschissene Jobs ketten, bei denen wir am meisten Gefahr laufen, uns COVID-19 einzufangen, die uns schikanieren und ermorden und die ein Wirtschaftssystem schützen, das auf dem Diebstahl von indigenem Land basiert. Wir beschuldigen diese IDPOL-Einflussjagenden, den marginalisierten Menschen, die aufgetaucht sind, die Macht wegzunehmen. Wir beschuldigen sie, die Arbeit der Polizei und der Politiker_innen zu machen, indem sie versuchen, die Wut der Randalierenden zu beschwichtigen, zu entfremden und zu delegitimieren.

In den Nächten nach dem 11. April wurde weiterhin zu Demonstrationen aufgerufen. Bislang waren die zweite und dritte Demo um einiges kleiner als die erste und wurden von der Polizei stark unterdrückt. Nichtsdestotrotz, da kein wirkliches Ende der Ausgangssperre in Sicht ist, denken wir, dass es zwingend notwendig ist, den Kampf fortzusetzen. In diesem Sinne sind wir alle zusammen – wir haben eine kämpferische Solidarität mit der Jugend (und anderen), deren Zukunft auch immer düsterer wird.

Es gibt eine Reihe von taktischen Überlegungen, die wir im Lichte der Ereignisse des 11. April in Betracht ziehen möchten. Während die „Friedenspolizist_innen“ in der Lage waren, einzugreifen, als kleinere Gruppen kleinere Feuer entfachten, waren sie dazu nicht in der Lage, als größere Brände entfacht wurden. Und sobald die Menge zerstreut war, waren sie nicht bereit, sich mit Plünderungen oder Vandalismus auseinanderzusetzen. Offensichtlich sind sie relativ schwach, und klein in der Anzahl. Wir glauben aber, dass wenn Anarchist_innen und Antiautoritäre in größerer Zahl auftauchen und gemeinsam handeln würden, wir sie möglicherweise kontrollieren und sogar aus der Menge drängen könnten, wenn sie versuchen würden, die Leute zu beruhigen. Unsere Anzahl wird uns eine größere Legitimität gegenüber anderen Anwesenden verleihen und uns wahrscheinlich erlauben, kritische Gespräche mit ihnen darüber zu führen, wer diese Leute sind und warum wir bestimmte Aktionen verteidigen.

Was die Polizei angeht, so hat sie sich erst auf die Menge eingelassen, als große Feuer entzündet wurden. Wir denken, dass es möglich wäre, die Polizei zuerst anzugreifen, bevor sie eingreift, aber das schien zu diesem Zeitpunkt nicht machbar. Die Wut auf die Polizei wächst und es ist möglich, dass wir zu einem späteren Zeitpunkt zuerst eingreifen können, aber dazu müssten wir auch genügend Leute haben und die Stimmung in der Menge lesen können. Um in diesen Situationen die Straße halten zu können, müssen wir in jedem Fall auch in der Lage sein, uns gegen Dispersionstechniken zu verteidigen. Konkret bedeutet das, dass wir mit Tränengas umgehen müssen, das sich als effektiv erwiesen hat, um Menschenmengen schnell aufzulösen. Es wäre auch von Vorteil, mit Wurfgeschossen ausgerüstet zu sein oder die Möglichkeit zu haben, Pflastersteine etc. zu zerbrechen, um sie den Anwesenden zur Verfügung zu stellen. Wir müssen auch zahlenmäßig in der Lage sein, als eigenständige Gruppe zu agieren, mit Tränengas umzugehen und den Bereitschaftscops ruhig zu widerstehen. Wir glauben, dass dies Vertrauen innerhalb der Menge aufbauen würde, eine kämpferischere Auseinandersetzung mit den Riot-Cops erleichtern und zeigen würde, dass wir uns nicht einfach zurückziehen müssen.

Wir müssen weiterhin den liberalen Narrativen entgegentreten, die darauf abzielen, die Revolte zu pazifizieren, uns von der Straße zu holen und unsere Macht an die Politiker_innen und selbsternannten Expert_innen zurückzugeben. Wir können dies während Demos tun, wenn Pazifist_innen versuchen, gegen Gewalt gegen Polizei und Eigentum zu sprechen und zu handeln, und im Nachhinein, indem wir auf Medienberichten mit unserer eigenen Analyse antworten. Als Anarchist_innen und Antiautoritäre müssen wir bei diesen ungehorsamen Ereignissen präsent sein. Hier bauen wir Kompliz_innenschaft und Affinität mit Rebell_innen außerhalb unserer Kreise auf und führen, wenn möglich, kritische Gespräche mit den Anwesenden über Taktiken und Ziele. Genauso müssen wir in der Lage sein, rechte Gauner und Reaktionäre, die unsere Revolte ausnutzen wollen, zu vertreiben.

Dieser Sommer wird heiß, lasst uns Gas ins Feuer gießen und diese verdammte Gefängniswelt niederbrennen!

Solidarität mit den Randalierenden und Nachtschwärmer_innen!
Scheiß auf die Ausgangssperre!