Prognosen für Chile 2021: Wolken der Unruhe und ein Nieselregen der Hoffnung

Präsidentschaftswahlen, ein Verfassungsreformprozess und steigende soziale Spannungen: Das Jahr 2021 entwickelt sich zu einem kritischen Jahr, das Chiles Zukunft bestimmen wird.

Übersetzung eines RoarMag-Artikels

In den letzten anderthalb Jahren hat Chile weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Beginnend im Oktober 2019 fegte eine Welle historischer Aufstände durch das Land. Angefangen von Schüler:innen, die gegen eine Erhöhung der Fahrpreise in Santiago protestierten, erreichte der Zyklus des Kampfes ein Jahr später einen neuen Meilenstein mit einer überwältigenden Abstimmung, um die alte, aus der Pinochet-Ära stammende Verfassung zu ersetzen.

Die Bedeutung dieser Revolte reicht weit über die Grenzen Chiles hinaus. Das Land war in vielerlei Hinsicht ein Labor des Neoliberalismus. Nach dem Putsch von Augusto Pinochet im Jahr 1973 wurden viele der Mechanismen der Privatisierung und Ungleichheit, mit denen die Bürger:innen auf der ganzen Welt tagtäglich leben, in diesem Land eingeführt und machten es zu einem der wichtigsten lateinamerikanischen Verbündeten der Vereinigten Staaten. Die heutige Rebellion gegen dieses wirtschaftliche und politische System könnte jedoch auch das Gegenteil bewirken und ein Modell für den sozialen Kampf gegen den Neoliberalismus auf der ganzen Welt darstellen.

Jetzt, wo das Jahr 2021 beginnt, ist die chilenische Krise noch lange nicht vorbei. Ein vollgepackter Wahlkalender wird mit weit verbreiteter Wut und aufgestauter Frustration über den schlechten Umgang der Regierung mit der COVID-19-Pandemie zusammenfallen. Die wirtschaftliche Verwüstung, die während der Pandemie angerichtet wurde, wird die Pandemie selbst als die größte Quelle des Schmerzes ersetzen. Doch auch die Hoffnung der Rebellion hält an, und vielleicht mehr als jedes andere OECD-Land steht Chile heute am Rande einer Revolution.

MILLIONEN AUF DEN STRASSEN

Die Protestwelle 2019 weitete sich schnell zu allgemeinen Unruhen aus. Eine tief sitzende Wut über soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, einen repressiven Staat und hohe Lebenshaltungskosten erfasste die Bevölkerung. Nachdem am 18. Oktober mehrere Metrostationen sowie die Zentrale des internationalen Energieriesen ENEL in Brand gesteckt wurden, verhängte der rechte Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand und setzte die bürgerlichen Freiheiten außer Kraft.

Bei der darauffolgenden Repression wurden Dutzende von Demonstrierende getötet und unzählige von den Militärs verletzt. Als Reaktion darauf wurden immer größere und militantere Proteste organisiert, an denen sich mindestens 3,7 Millionen Menschen beteiligten, was etwa einem Drittel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter entspricht.

Die Regierung war gezwungen, den Ausnahmezustand bald darauf aufzuheben, aber die Normalität kehrte nie zurück. In den folgenden Monaten wurden täglich Demonstrationen organisiert, die manchmal in die Millionen gingen. Das Zentrum Santiagos glich zunehmend einem Kriegsgebiet, mit aufgerissenem Pflaster, niedergebrannten Gebäuden und überall Barrikaden und Tränengas.

Trotz der hohen Müdigkeit aufgrund der weit verbreiteten Repression und der faktischen Einführung von Haft ohne Gerichtsverfahren – viele Militante sitzen seit Oktober 2019 im Gefängnis, ohne jemals vor Gericht gestanden zu haben – gingen die Konfrontationen den ganzen chilenischen Sommer über weiter. Im Januar 2020 hieß es auf der Straße, dass der März der entscheidende Monat sein würde. Mit der Rückkehr der Schüler:innen in die Schule und zwei wichtigen Daten im revolutionären Kalender – dem Internationalen Frauentag am 8. März und dem Tag des jungen Kämpfers am 29. März – war klar, dass dies ein entscheidender Moment sein würde.

Aber wie sich herausstellte, hatte der März eine andere Überraschung auf Lager. Die schnelle Ausbreitung von COVID-19 räumte schnell die Straßen. Eine der strengsten Lockdowns der Welt wurde bald darauf angekündigt und Proteste wurden verboten. Trotz gelegentlicher Konflikte, wie die Lebensmittelunruhen im Mai, blieb die Situation relativ ruhig, wenn auch angespannt. Als die Restriktionen gelockert wurden, begannen die Menschen auf die Straßen zurückzukehren. Massive Straßenproteste gipfelten in einem historischen Sieg am 25. Oktober, als die Chilen:innen der Regierung einen Hammerschlag versetzten, indem sie die alte, aus der Pinochet-Ära stammende Verfassung in einem Referendum verwarfen.

DER PROZESS DER VERFASSUNGSREFORM

Am 25. Oktober 2020 stimmten fast 80 Prozent der Chilen:innen dafür, ihre 40 Jahre alte Verfassung zu kippen. Das Dokument, das unter Pinochets Diktatur geschrieben wurde, diente dazu, die Macht zu zentralisieren und den Neoliberalismus im Gesetz zu verankern, ohne dass es einer parlamentarischen Kontrolle unterworfen war. Trotz mehrerer Reformrunden während des „Übergangs zur Demokratie“, vor allem zwischen 1988 und 2005, blieb das System im Kern weitgehend gleich. Chile behielt eine starke Präsidentschaft, eine missbräuchliche Polizei und eine Wirtschaft, die von wilden Ungleichheiten geplagt war. Beim Referendum im Oktober wurde deutlicher denn je, dass das Volk, aufgestachelt durch die Bewegung auf den Straßen und angewidert von der Repression, einen Wandel wollte.

Doch dieses überwältigende Votum für eine neue Verfassung verdeckte tiefere soziale Spaltungen. Nuñoa zum Beispiel, im Osten Santiagos gelegen und eine der wohlhabendsten Gemeinden Chiles, stimmte entschieden für die Annahme der Initiative. Die lokale Verwaltung wird von der Nationalen Erneuerung, der Partei von Präsident Piñera, kontrolliert und das Durchschnittseinkommen liegt um ein Vielfaches über dem nationalen Durchschnitt. Auf der anderen Seite stimmte La Pintana, Chiles linke, drittärmste Gemeinde, ein Symbol für konzentrierte Armut, weniger als 20 Kilometer von Nuñoa entfernt, in die gleiche Richtung.

Wenn man dies im Hinterkopf behält, bekommt man ein Bild von der sozio-politischen Vielfalt, die unter der Oberfläche der oberflächlichen Einheit des Ja-Votums existiert, mit ärmeren Bezirken, die bedeutende soziale Reformen anstreben, während die reicheren hauptsächlich auf politische Reformen nach westeuropäischem oder amerikanischem Vorbild hoffen, die die Überreste von Pinochets formalem Autoritarismus abstreifen. Die Unterschiede in der Politik und im Lebensstandard zwischen diesen verschiedenen Wähler:innen könnten den Prozess der Verfassungsreform behindern.

Aber es gibt noch mehr. Eine zentrale Forderung der Bewegung auf der Straße, die auf Piñeras Ankündigung eines Verfassungsreferendums folgte, war die gleichberechtigte Vertretung der Geschlechter in dem daraus resultierenden Verfassungskonvent. Piñera stimmte dem geschickt zu und manipulierte den Vorschlag, das Wahlsystem für das Abkommen in ein Parteienlisten-Proporzsystem umzuwandeln, wodurch die Kontrolle der etablierten Parteien über die Delegiertenauswahl weitgehend gewährleistet wurde. Die Entscheidung, dem Abkommen eine Regel aufzuerlegen, die eine Zweidrittelmehrheit für die Zustimmung erfordert, hat die Aussichten weiter verschlechtert.

Somit haben wir es mit drei potenziellen Hindernissen für einen reibungslosen Verfassungsreformprozess zu tun: signifikante Unterschiede in den Bestrebungen, die sich aus der sozialen Schichtung ergeben, ein Wahlsystem, das darauf ausgelegt ist, parteipolitische Interessen zu verankern, und ein internes Abstimmungssystem, das eine Supermajorität erfordert, was wiederum durch das proportionale Wahlsystem erschwert wird.

In Anbetracht dieser Faktoren können ein paar Vorhersagen gemacht werden. Unabhängig von den Wünschen der Arbeitermehrheit werden die Wahlen zum Verfassungskonvent am 11. April nicht zu der notwendigen Mehrheit führen, die sich für einen bedeutenden sozialen Wandel einsetzt. Wenn man sich auf einen Text einigt, was alles andere als sicher ist, wird er wahrscheinlich kaum mehr als oberflächliche Garantien traditioneller, „negativer Freiheiten“ enthalten, die darauf abzielen, die Bevölkerung vor staatlicher Repression zu schützen, aber wenig anderes erreichen. Das Beste, was man sich erhoffen kann, sind einige allgemeine Plattitüden über soziale Gerechtigkeit, wie sie in der südafrikanischen oder indischen Verfassung zu finden sind. Im Fall dieser beiden Länder haben diese Plattitüden jedoch wenig dazu beigetragen, Gleichheit vor Ort zu schaffen.

Wie die Bewegung auf diese Sackgasse reagiert, ist entscheidend. Es wird viel Hoffnung in den Verfassungsprozess gesetzt, zumindest von der parlamentarischen, parteilichen Linken und ihren Unterstützenden. Wenn es klar wird, dass die gewünschten sozialen Reformen nicht erreicht werden, kann die Frustration schnell wachsen. Wenn sich dies in erhöhter Militanz auf der Straße niederschlägt, werden wir wahrscheinlich erleben, wie der formale Verfassungsprozess zunehmend von außerparlamentarischen Massenbewegungen verdrängt wird. Wenn diese parlamentarischen Manöver jedoch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dominieren, ist es möglich, dass ein großer Teil der politischen Energien des Landes in eine Sackgasse gelenkt werden könnte.

DER KAMPF UM DIE PRÄSIDENTSCHAFT

Auch im Jahr 2021 werden die Chilen:innen sowohl in lokalen als auch in nationalen Wahlen abstimmen. Von besonderer Bedeutung wird der Kampf um das Präsidentenamt sein. Chile hat ein starkes präsidiales System, das der Exekutive viel Macht verleiht und somit ist dies der wichtigste Wahlkampf im Land. Die Wahl von 2021 wird besonders hart umkämpft sein.

Das chilenische System der Präsidentschaftswahlen ist ähnlich wie das französische. Es gibt eine erste Runde, in der alle wählbaren Kandidat:innen antreten. In der Regel werden diese Kandidat:innen von breiten Koalitionen aus mehreren Parteien nominiert. Sollte kein:e Kandidat:in mehr als 50 Prozent erhalten, kommt es zu einer zweiten Runde. Dass dies eintritt, scheint fast sicher. Das letzte Mal, dass ein zweiter Wahlgang vermieden wurde, war 1993, erst die zweite Wahl seit der Diktatur.

Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass einer der beiden Kandidat:innen der rechten Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) – Joaquín Lavín und Evelyn Matthei – als Hauptkandidat:in der Rechten hervorgehen wird. Beide sind derzeit Bürgermeister:in, ehemalige Kabinettsmitglieder und ehemalige Präsidentschaftskandidat:innen der Partei. Außerdem waren sowohl Lavin als auch Matthei während der Pinochet-Ära regimetreue Wirtschaftsexpert:innen. Diese beiden Kandidat:innen repräsentieren die Kontinuität sowohl mit dem Erbe der Diktatur als auch mit der seichten, neoliberalen Demokratie, die sie ersetzt hat.

Die Situation auf der Linken ist viel interessanter. Die Sozialistische Partei – jahrzehntelang die größte Partei der Linken – ist so gut wie zusammengebrochen. Auch die Christdemokrat:innen und die Partei für Demokratie, beides ehemalige Anführende von Mitte/Mitte-Links-Koalitionen, sind von der Landkarte verschwunden. Und vielleicht am überraschendsten von allen ist die Breite Front, die 2017 20 Prozent der Stimmen erhielt, nachdem sie mit einer Podemos-ähnlichen Plattform der alternativen Linken in den Wahlkampf gezogen war, wurde für ihre internen Spaltungen über die Proteste und ihre teilweise Duldung von Piñeras Razzien schwer bestraft und scheint bei diesen Wahlen nicht konkurrenzfähig zu sein.

An die Stelle dieser traditionellen Kräfte der Linken sind zwei Außenseiter:innen getreten, Daniel Jadue und Pamela Jiles. Jadue repräsentiert die Kommunistische Partei und ist seit 2012 Bürgermeister von Recoleta. In dieser Zeit hat er sich einen Namen gemacht, indem er eine Reihe von gemeindeeigenen Unternehmen gegründet hat: Apotheken, Optiker:innen, Möbelhäuser, Zahnärzt:innen und Energieversorger, um nur einige zu nennen. Jiles hingegen ist eine langjährige prominente linke Journalistin. Selbst ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei, führt sie eine populistische Kampagne als Teil der Humanistischen Partei, einer linken pazifistischen Gruppierung, für die sie 2018 erfolgreich für das Parlament kandidierte.

Eine:r der beiden wird mit ziemlicher Sicherheit in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen gegen die UDI antreten. Angesichts des aktuellen politischen Klimas in Chile und der weit verbreiteten Unbeliebtheit der rechten Piñera-Regierung scheint es wahrscheinlich, dass ein:e Kandidat:in von links, wer auch immer es ist, triumphieren wird. Daher können wir vernünftigerweise vorhersagen, dass Chiles Präsident:in im nächsten Jahr um diese Zeit entweder ein Kommunist oder eine Linkspopulistin sein wird. Wir täten jedoch gut daran, unsere Erwartungen im Zaum zu halten, denn es ist unwahrscheinlich, dass die parlamentarische Arithmetik der radikalen Linken ein sauberes Mandat zum Regieren gibt. Und selbst wenn es so wäre, hat Jadue, der entschiedenere Linke von beiden, in einem kürzlichen Interview deutlich gemacht, dass er ein sozialistisches Chile als ein Projekt für die „mittlere bis lange Zukunft“ sieht.

DRUCK VON DER STRASSE

Die Wahlen zusammen mit den bestehenden Spannungen rund um das Verfassungsreferendum werden die Spannungen auf den Straßen wahrscheinlich weiter verschärfen. Wenn der Verfassungsprozess nicht zu substanziellen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen führt, ist ein weit verbreiteter Volkszorn wahrscheinlich. Ebenso wird die Möglichkeit einer Stichwahl zwischen einen der Kandidat:innen der Linken und einen der harten Rechten einen polarisierenden Effekt auf die Bevölkerung haben. Keine:r der Kandidat:innen wird wahrscheinlich eine ähnliche Mehrheit erreichen, wie die überwältigende Zustimmung zum Verfassungsreferendum, noch wird die Unterstützung so weit verbreitet sein wie bei den anfänglichen Protesten.

Stattdessen wird die Wahl wahrscheinlich entlang festgefahrener sozio-ökonomischer und politischer Linien geteilt werden, wobei progressive Arbeiterviertel sich für die Linke entscheiden und wohlhabendere oder konservativere Gegenden – sogar solche, die die Proteste oder die neue Verfassung unterstützt haben – sich der Rechten zuwenden. Die Rechten sind zwar in der Minderheit, haben sich aber im letzten Jahr durch eine Reihe von gewalttätigen Demonstrationen gegen die neue Verfassung Gehör verschafft. Es ist zu erwarten, dass diese zunehmen werden, vor allem wenn Jadue weiterhin in den Umfragen führt.

Vorerst werden die Straßen relativ ruhig bleiben, da nach der Identifizierung des neuen, ansteckenderen britischen Stammes des Coronavirus in Chile und einem weiteren Anstieg der Infektionszahlen neue Lockdown-Maßnahmen eingeführt wurden.

Es gibt jedoch ein paar Schlüsseldaten, die uns ein Gefühl für die kommenden Dinge geben. Der erste ist der 8. März, der Internationale Frauentag. In den letzten Jahren hat sich der 8. März in Chile zu einem Tag der massenhaften, militanten Mobilisierung entwickelt. Die Demonstrationen von 2020 waren eine der größten in der chilenischen Geschichte und zogen bis zu 10 Prozent der weiblichen Bevölkerung Chiles auf die Straßen von Santiago. Der jüngste Triumph der feministischen Bewegungen in Argentinien bei der Legalisierung der Abtreibung wird ihre chilenischen Schwestern wahrscheinlich weiter inspirieren.

Später im Monat, am 29. März, wird der Tag des jungen Kämpfers begangen, der an die Ermordung von drei jungen Revolutionären während Pinochets Diktatur erinnert. Die Feierlichkeiten finden traditionell in den ärmsten Vierteln Chiles statt und werden regelmäßig von Zusammenstößen zwischen jungen Kämpfer:innen und der Polizei sowie von Plünderungen und Ausschreitungen begleitet. Dieser Tag wird uns ein Gefühl für die relative Stärke und die revolutionäre Militanz der armen und arbeitenden Jugend geben, von denen viele den Kern der kritischen „Frontlinie“ der Protestierenden während der Revolte 2019-2020 bildeten.

Schließlich wird der 1. Mai uns eine Vorstellung von der Dynamik der Gewerkschaften und traditionellen sozialen Bewegungen sowie der Stärke der anarchistischen und revolutionären Gruppen und Kollektive geben. Im Falle der ersteren wird sich zeigen, ob sie bereits vom Verfassungsprojekt frustriert sind und wie zuversichtlich die Kommunist:innen in Bezug auf die kommenden Wahlen sind. Bei letzteren wird es darauf ankommen, ob sie in großer Zahl antreten können, um gegen die Polizei zu kämpfen und die autonome Bewegung von 2019-2020 ins Jahr 2021 zu tragen.

Dies wird entscheidend für die Entwicklung der Ereignisse im Jahr 2021 sein. Die Unterstützung für politische Parteien brach auf dem Höhepunkt der Revolte zusammen und ein immer größerer Teil der Chilen:innen sucht eine revolutionäre, anti-staatliche Lösung für ihre Probleme, sei es in Form von gegenseitiger Hilfe an der Basis während der Pandemie oder politischer Organisierung in Gemeindeversammlungen während der Proteste. Dies ermöglichte es autonomen Revolutionär:innen, das Tempo und die Art der Bewegung in den Jahren 2019-2020 zu diktieren und Piñeras Bemühungen zu untergraben, Friedensabkommen zu entwickeln und die radikalsten Elemente innerhalb der Bewegungen zu isolieren.

Der Vorstoß in Richtung revolutionärerer Ausgänge der politischen Krise wird es erfordern, dass sich dieser Trend fortsetzt. Das Ende der Piñera-Regierung wird weitreichende revolutionäre Unruhen auf kurze Sicht etwas unwahrscheinlicher machen. Allerdings wird die Art der kommenden Regierung von der Straße geprägt sein, besonders wenn die Linke, wie erwartet, gewinnt. Sollte diese Regierung jedoch nicht in der Lage sein, signifikante soziale, politische und wirtschaftliche Veränderungen herbeizuführen, und sollten sich die Verfassungsausführungen als Sackgasse erweisen, könnte sich der chilenische Staat wieder am Rande des Zusammenbruchs wiederfinden. Langfristige Trends scheinen in diese Richtung zu weisen.

LEKTIONEN, DIE 2021 GELERNT WERDEN MÜSSEN

Insgesamt wird das Jahr 2021 ein kritisches Jahr in der chilenischen Geschichte sein. So viel ist sicher. Es wird die Wahl des Verfassungskonvents und das umstrittenste moderne Präsidentschaftsrennen erleben. Es wird massive Demonstrationen und massive Repressionen, massive Hoffnungen und massive Ängste erleben. Vor allem wird sich zeigen, ob der Zyklus der Revolte, der offiziell 2019 begann, aber dessen Wurzeln bis ins Jahr 2006 zurückreichen, weitergeht, oder ob er mit einer Reihe von institutionellen Reformen und begrenzten Wohlfahrtsmaßnahmen seinen Höhepunkt erreicht.

Dies wird auch für Radikale überall von kritischem Interesse sein. Chile wurde vom kapitalistischen Westen lange Zeit sowohl als Brücke zu ganz Lateinamerika als auch als Petrischale verstanden. Es ist Chile, wo der neoliberale Putsch seinen Anfang nahm, wo Allende ermordet und Pinochet eingespielt wurde. Es war Chile, das als erstes Zeuge der massiven Privatisierungswellen wurde, die den Neoliberalismus definieren. Es war Chile, das noch wenige Tage vor Beginn der Revolte 2019 als „Oase“ für den Kapitalismus beschrieben wurde, ein Ort der Stabilität und Rechtschaffenheit, an dem unzählige multinationale Konzerne ihre lateinamerikanischen Zentralen hatten. Das Land wird als strukturkritisch für das kapitalistische Projekt in Lateinamerika gesehen, als sein Weg in den Kontinent und als großes Experiment, was die Zukunft dieses Kontinents beinhalten könnte. Wir sollten die gleiche, wenn auch entgegengesetzte, Perspektive einnehmen.

In ähnlicher Weise gibt es international viel von dem zu lernen, was im kommenden Jahr passiert. Welcher Wandel kann durch Wahlen entstehen? Von Verfassungsreformen? Was sind der Nutzen und die Grenzen der Straßendemonstration? Was bedeutet Antikapitalismus praktisch im 21. Jahrhundert? Wie kann er umgesetzt werden und wer sollte den Weg anführen?

Diese Fragen und mehr werden im kommenden Jahr angegangen, wenn auch nur teilweise und leise, wie es nur in Situationen radikaler und schneller Veränderungen und sozialer Instabilität vorkommen kann. 2021 ist eine solche Situation in Chile. Wir sollten alle sehr aufmerksam sein.