Was die Aufstände in Südeuropa uns über die Pandemie und den Staat erzählen
Deutsche Übersetzung eines Artikels von CrimethInc
In den Vereinigten Staaten zentrierte sich die liberale Opposition gegen Donald Trumps Kandidatur zur Wiederwahl um seine Antwort auf die COVID-19-Pandemie, wobei Millionenbeklagten, dass seine Regierung nicht genug getan hat, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Doch in Europa, wo die Regierungen einen praktischeren Ansatz gewählt haben, haben ihre Bemühungen auch Unruhen in der Bevölkerung hervorgerufen, da sich die große Mehrheit ihrer Interventionen darauf konzentriert hat, die Macht der Polizei auszuweiten und nicht die Ressourcen auf diejenigen umzuverteilen, die darum kämpfen, das Virus und die Wirtschaftskrise zu überleben. Im Hinblick auf eine Biden-Präsidentschaft sollten wir uns erneut die Frage stellen, ob wir einer Regierung vertrauen können, dass sie Menschenleben Vorrang vor dem Kapitalismus einräumt, und wie wir reagieren können, wenn die Regierung den Vorwand, unser Leben zu schützen, benutzt, um die soziale Kontrolle zu verstärken.
In Südeuropa gab es im vergangenen Juli in Serbien als Reaktion auf ungleiche Präventivmaßnahmen und die Einführung einer neuen Ausgangssperre weit verbreitete Unruhen. Aufstände brachen am 23. Oktober in Neapel aus, als Antwort auf eine neue Welle von COVID-19-Infektionen und einen von der Regierung angeordneten Lockdown. Diese verbreiteten sich in ganz Italien und lösten am 5. November ähnliche Unruhen in Spanien und auch in Slowenien aus.
Während in den Vereinigten Staaten (und Deutschland) Demonstrationen, die zur Wiedereröffnung der Wirtschaft aufriefen, lediglich ein Vehikel für die extreme Rechte, Verschwörungsideolog:innen und Wissenschaftsverweigerer:innen waren, um die kapitalistische Agenda voranzubringen, ist die Geschichte in Europa komplizierter. Wie die Gilets-Jaunes-Bewegung in Frankreich bestehen die meisten Proteste in Südeuropa aus einer widersprüchlichen Mischung aus unpolitischen, verärgerten Armen, Faschist:innen, Linken und Anarchist:innen – einige wetteifern darum, die Form zukünftiger Protestbewegungen zu bestimmen, andere reagieren einfach auf die Gewalt des Virus, der Wirtschaft und der Polizei, ohne jegliche langfristige Strategie oder Bestrebungen.
In den Vereinigten Staaten, wo fast 250.000 Menschen an den Folgen der grauenhaft zynischen Politik der Regierung gestorben sind, war es einfach genug, eine Dichotomie zwischen Selbstorganisation, Protest und Leben auf der einen Seite und Regierung, Kapitalismus und Tod auf der anderen Seite herzustellen. In Europa war dies viel komplizierter, da die Regierungen der Mitte versuchen, eine andere Dichotomie darzustellen, indem sie Strenge, Gehorsam und Leben mit Widerspenstigkeit, Protest und Tod gegenüberstellen – und Freiheit mit Verantwortungslosigkeit verbinden, selbst wenn sie das Leben für die Armen fast unmöglich machen, und Präzedenzfälle schaffen, um weitreichende und invasive neue Formen der staatlichen Kontrolle zu legitimieren. Dies wirft heikle Fragen auf, mit denen die Menschen auch in den Vereinigten Staaten bald konfrontiert werden könnten.
In der folgenden Sammlung berichten Anarchist:innen, die rund um das Mittelmeer positioniert sind – aus Spanien, Süd- und Norditalien, Slowenien und Griechenland – darüber, wie sich die Politik als Reaktion auf die Pandemie auf ihre Gemeinschaften ausgewirkt hat und beschreiben, wie die Menschen darauf reagiert haben.
Spanien
Aufgrund der Abhängigkeit vom Tourismus war Spanien eines der ersten europäischen Länder, in dem COVID-19 außer Kontrolle geriet. Die Reaktion des spanischen Staates auf die Pandemie, die Mitte März begann, war gekennzeichnet durch zentralisierte Kontrollmaßnahmen und starke staatliche Interventionen, einschließlich einer strengen Abriegelung, die die Menschen in ihren Häusern einschloss. Der Lockdown wurde rigoros durchgesetzt; die Polizei verhängte Hunderttausende hohe Geldstrafen und führte Tausende Verhaftungen durch. Die Zahl der Infektionen ging schnell zurück – aber es waren bereits dreißigtausend Menschen gestorben, hauptsächlich wegen der überfüllten Wohnungen und der schlechten Qualität des spanischen öffentlichen Gesundheitssystems, das durch jahrelange Sparmaßnahmen ausgeweidet wurde.
Spanien als postfaschistischer Staat steht in krassem Gegensatz zu den USA. In den USA war die Bundesregierung weitgehend untätig; die Antwort des Staates auf die Pandemie war eine Art nekropolitische Intervention der strukturellen Vernachlässigung, die eine riesige Anzahl von armen und racialisierten Menschen tötete. In Spanien nahm die Regierung die Pandemie zum Anlass, die zentralisierte Macht zu vergrößern. Mindestens einen Monat lang war Spanien ein Polizeistaat im üblichen Sinne des Wortes: Man konnte nicht ins Freie gehen, wenn man keine Erlaubnispapiere hatte oder mit einem Hund in der Nähe seines Zuhauses spazieren ging oder Lebensmittel einkaufte.
Die Herangehensweise der spanischen Regierung an die Pandemie änderte sich im Mai und Juni dramatisch, nachdem die Zahl der Todesopfer in den USA auf über 100.000 angestiegen war. Die US-Politik senkte die Messlatte für andere Länder, desensibilisierte die Öffentlichkeit für die massiven Todesfälle und definierte neu, was eine akzeptable Reaktion in Bezug auf die öffentliche Gesundheit darstellt. In Spanien, mit der Linken in der Regierung und der Rechten, die ihren Zorn gegen die Eindämmung gerichtet haben, gab es wenig Möglichkeiten für eine Mainstream-Diskussion über die Priorisierung der Gesundheitsversorgung, da die Sozialist:innen an den Sparmaßnahmen mitschuldig waren und die derzeitige Regierungskoalition aus Sozialist:innen plus Podemos nicht viel Platz in ihrer Agenda für die Gesundheitsversorgung vorgesehen hatte.
Folglich begann die Regierung im Mai und Juni eine schnelle, verfrühte und fast vollständige ›Wiedereröffnung‹ zu fördern, wobei eine der einzigen Präventivmaßnahmen, die beibehalten wurde, die Maskenpflicht war. Einer der Hauptgründe dafür war der dringende Wunsch, die Wirtschaft rechtzeitig zu den Spitzenmonaten der jetzt ganzjährigen Tourismussaison Spaniens wieder anzukurbeln. Der Tourismus macht einen höheren Anteil des spanischen BIP (12%) aus als in fast jedem anderen Land der Europäischen Union – fast fünfmal so viel wie in den USA.
Im August, nachdem die Sterblichkeitsrate fast auf Null gesunken war, begannen die Infektionen wieder anzusteigen, was durch die Rückkehr in die Schulen noch verschlimmert wurde. Wir befinden uns jetzt inmitten einer ausgewachsenen zweiten Welle mit einigen der höchsten Übertragungsraten der Welt. Die Todesfälle sind immer noch niedrig, aber an manchen Orten sind die Intensivstationen in den Krankenhäusern fast überfüllt.
Madrid war das Epizentrum der zweiten Welle. Bevor die Zentralregierung einschritt, führte die rechte Regierung der Stadt einen selektiven Lockdown durch, der auf ärmere Stadtviertel abzielte; wie bei dem ersten Lockdown wurde das Militär auf die Straße geschickt, um bei der Durchsetzung zu helfen. Damit wurde ein ominöser Präzedenzfall für selektiv (auf der Grundlage von Klasse) durchgesetzte Maßnahmen geschaffen.
Ende Oktober erklärte die Zentralregierung den Ausnahmezustand für bis Mai 2021 verlängerbar, mit nächtlichen Ausgangssperren, strengen Beschränkungen für Versammlungen, Bar- und Restaurantschließungen und, in einigen Regionen, dem Verbot von Reisen zwischen den Gemeinden, entweder am Wochenende oder während der ganzen Woche.
Gleichzeitig sind die Sozialhilfemaßnahmen schwach ausgeprägt. Die Arbeitgeber:innen können die Pandemie als Vorwand benutzen, um Arbeiter:innen zu kündigen, während die Regierung die Rechnung für die Arbeitslosenunterstützung übernimmt, aber die Regierung hat nicht die Mittel zur Verfügung gestellt, um den Anstieg der Arbeitslosenansprüche zu bewältigen – so haben viele der Entlassenen monatelang gewartet, ohne auch nur einen Cent zu sehen. In der Zwischenzeit haben die Arbeitgeber:innen dieses Programm genutzt, um Leute zu entlassen, die sich für die Organisation von Arbeitsplätzen eingesetzt haben.
Die Rechte hat sich mobilisiert, um migrantische Landarbeiter:innen für Virusausbrüche verantwortlich zu machen, und es gab Fälle, in denen die Lager der Landarbeiter:innen in Brand gesteckt wurden. Die Zwangsräumungen von Wohnungen gehen unvermindert weiter, in einigen Großstädten kommt es jeden Monat zu Hunderten.
Der Ausnahmezustand und die Zwangsräumungen waren der Auslöser für einige kleine Unruhen Ende Oktober in Barcelona, Madrid, Burgos und einigen anderen Städten, bei denen einige große Geschäfte geplündert wurden. Rechtsradikale waren bei einigen dieser Proteste anwesend und haben vielleicht einige von ihnen organisiert, was zu der nicht enden wollenden Debatte darüber geführt hat, ob wir, wann immer wir Grund dazu haben, auf die Straße gehen und unser Bestes tun sollten, die Rechtsradikalen zu vertreiben, oder ob wir die Straßen den Rechtsradikalen überlassen sollten, weil sie zuerst da waren.
Über allem herrscht immer noch sozialer Frieden, aber es gibt eine Menge aufgestaute Wut und Verzweiflung direkt unter der Oberfläche.
Italien: Ein Blickwinkel aus dem Süden
»Nein, wir sind nicht über Nacht ‚Agambenianer:innen‘ geworden (1), wir glauben immer noch – umso mehr, wenn man bedenkt, was passiert ist – dass es sich nicht um eine einfache Grippe handelt, und dass die erste Aufgabe, der wir uns stellen müssen, darin besteht, für uns selbst und andere zu sorgen, damit sich die Infektion nicht ausbreitet… Es ist an der Zeit zu bekräftigen, dass die Gesundheit selbst ein soziales Problem ist und dass Rebellion das Symptom ist, das die Notwendigkeit der Veränderung zeigt.«
An unsere Gefährt:innen, eine partielle Einführung
Am 23. Oktober 2020 brachen in Neapel Demonstrationen aus, als Reaktion auf die erwarteten wirtschaftlichen Schließungen und teilweisen Lockdowns, die angesichts der steigenden COVID-19-Fälle drohten (sowie einer Ausgangssperre).
Laut Noi Non Abbiamo Patria folgten die Demonstrationen früheren Anti-Lockdown-Aktionen in einem kleinen Vorort im Norden der Stadt. Seitdem hat das Land nationale Ausgangssperren und Schließungen auf einer abgestuften Skala eingeführt, die wenig Sinn machen; diese sind weitreichender als die Ausgangssperren vom letzten Frühjahr.
Am 23. Oktober war die Zusammensetzung der Menschen auf den Straßen, gelinde gesagt, sehr heterogen. Wie bei anderen Ausbrüchen anti-neoliberaler Energie in letzter Zeit, wie zum Beispiel den ›gelben Westen‹ in Frankreich (2), hat es den kommerziellen Medien und der Regierung ermöglicht, die Menschen auf der Straße zu diffamieren. Es ist bezeichnend, dass in den Ländern, in denen der Euro-Kommunismus abgestürzt und verbrannt ist – oder eher vor der Staatsmacht und der Hierarchie kapituliert hat – eine große Anzahl von politischen Subjekten und Arbeiter:innen, die nicht notwendigerweise irgendeiner Parteiideologie verpflichtet sind, von den Eliten und den Medien in eine Schublade gesteckt werden.
Nach dieser intensiven Nacht der Unruhen und Zusammenstöße mit der Polizei breiteten sich weitere Unruhen in vielen Städten Italiens aus. In den meisten Fällen, wie auch in Florenz, war die Zusammensetzung der Demonstrierenden wieder heterogen. Überall im Land versuchen die Faschist:innen diesen Moment zu nutzen, um ihre Sichtbarkeit zu erhöhen. In Rom und Catania (zwei historische faschistische Schlachtfelder) besetzten die Faschist:innen gewaltsam die Plätze, wurden aber von einer Vielzahl von Antifaschist:innen vertrieben, darunter radikale Linke (am zahlreichsten von der nationalen Partei Potere al Popolo), Anarchist:innen, Kommunist:innen und die Gemeindemitglieder der Plätze, wie Laden- und Cafébesitzer:innen. Diese Plätze, die typischerweise zentral gelegen sind, sind zu den wichtigsten Schauplätzen von Konflikten in diesem Moment der Revolte gegen die Regierung geworden. Während die Faschist:innen in die Auseinandersetzung eintreten, um den ›Hooliganismus‹ zu fördern oder sich selbst sichtbarer zu machen, protestiert die überwiegende Mehrheit der Demonstrierenden auf den Straßen in dieser Nacht und seitdem gegen Austerität, Neoliberalismus und staatliche Gewalt.
Angesichts der komplizierten Natur der Ereignisse und der Erfolge, die die Faschist:innen in der Medienberichterstattung erlebt haben, wollen wir ein Kommuniqué über die Situation herausgeben, um die Menschen in anderen Teilen der Welt auf das aufmerksam zu machen, was sich wahrscheinlich anderswo entwickeln wird, wenn sich die COVID-19-Pandemie verschlimmert und die Sparmaßnahmen des Pandemie-Labels ›Ausnahmezustand‹ weitergehen. In vielen Fällen wird dies ein fruchtbares Gebiet für den rechten Flügel sein, um aus den bröckelnden liberalen Systemen Kapital zu schlagen. Wie wir in Italien in der Vergangenheit gesehen haben, schaffen politische Gewalt und Überwachung, Sparmaßnahmen und innereuropäische ›Kolonisierung‹ ein günstiges Terrain für Faschist:innen, um Territorium und Unterstützende zu erwerben – wie der Aufstieg von Casa Pound und Forza Nuova zeigt.(2)
Unsere Absicht mit diesem Bericht ist zweifältig. Erstens wollen wir zeigen, dass die historischen, materiellen Bedingungen der zügellosen Austerität und der gewaltsam unterdrückten revolutionären Aktivität die Katalysatoren für die Unruhen sind, die in diesem Moment ausgebrochen sind. Zweitens argumentieren wir, dass wir nicht zulassen dürfen, dass Faschist:innen weiterhin institutionelle Legitimität und die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen, während sie versuchen, die Proteste gegen den Lockdown zu ihrem Vorteil zu nutzen. In Bezug auf den letzten Punkt betonen wir, dass der größte Teil der Demonstrierenden auf den Straßen die sogenannten ›Qualunquista‹ (›unentschlossene‹ oder besser gesagt noch nicht radikalisierte Proletarier:innen) sind. Dies ist das Ergebnis einer historischen Bedeutungsentleerung von Begriffen wie ›kommunistisch‹ und ›sozialistisch‹ nach jahrzehntelangen Versöhnungen der institutionellen Linken mit den herrschenden Machtstrukturen. Dies folgt auch auf fast zwei Jahrzehnte einer raschen ›Proletarisierung‹ vieler Arbeiter:innen, die sich seit der Wirtschaftskrise von 2008 noch verschärft hat, vor allem in Süditalien, wo hinter der touristenfreundlichen Fassaden ein riesiger Arbeitskräfteüberschuss (3) brodelt.
COVID-19 in Italien
Nach zermürbenden Monaten, in denen im letzten Frühjahr Särge die Straßen verschiedener Städte im Norden füllten, war der Sommer in Italien weniger offensichtlich gewalttätig – epidemiologisch, wenn nicht sogar wirtschaftlich. Die Schließungen wurden praktisch aufgehoben; die Clubs waren geöffnet, auch die Restaurants. Die Zahl der Fälle war gering – aber es gab wenig ausländischen Tourismus, eine verheerende Realität für einige Städte, die in den letzten Jahrzehnten von neoliberalen Verwaltungen in Freizeitparks unter freiem Himmel verwandelt wurden.
Während des Sommers wurde keine soziale Infrastruktur eingerichtet, um die Menschen vor dem Virus und seinen verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen zu schützen. Die Kontaktverfolgung war knapp und ineffizient; das Gesundheitssystem erhielt nicht die wirtschaftliche und logistische Unterstützung, die die Politiker:innen versprochen hatten. Die Schulen waren nicht ausreichend vorbereitet, um wieder zu öffnen, dennoch blieben sie teilweise für Unterricht in persona geöffnet.
Die regionale und nationale Verwaltung investierte Mittel nur, um den Tourismus aufrechtzuerhalten: Den Menschen wurde Urlaubsgeld angeboten, um in den Urlaub zu fahren. Aber als der September kam, war niemand bereit, sich den Risiken einer erwarteten zweiten Welle von COVID-19 zu stellen. Mitte Oktober war die Zahl der Fälle wieder angestiegen. Die Gesundheitskrise überwältigte das System und die Behörden kündigten die Schließung der Wirtschaft an. In weniger als zwei Wochen wurde den Menschen befohlen, sich wieder einzusperren. Der häusliche Raum wurde in eine Pflegeeinrichtung/ein Krankenhaus umgewandelt, in dem die Familienmitglieder ihre kranken Angehörigen ohne gesundheitliche Richtlinien oder Schutz pflegen mussten. Der soziale Raum wurde zu einem Raum der Ansteckung. Nur Arbeit war erlaubt.
Jetzt stehen die Menschen vor der Wahl zwischen Arbeit-Konsum-und-leise-zuhause-sterben oder dem Tod durch COVID-19-Unterdrückung und Hungertod draußen. Die Armutsraten schießen in die Höhe. Zu den am meisten gefährdeten sozialen Gruppen, die von der durch die Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise betroffen sind, gehören Arbeiter:innen ohne Papiere, Menschen mit Behinderungen, Migrant:innen, alleinerziehende Mütter (da die inhaftierte männliche Bevölkerung in den letzten zehn Jahren in die Höhe geschossen ist) und Familien, die ihr Einkommen verloren haben. Dies sind die Menschen, die sich jetzt den Protesten in ganz Italien anschließen und die Umverteilung des Reichtums fordern.
Heute, während wir dieses Kommuniqué aufbereiten, verzeichnet Italien höhere Infektionszahlen als im Frühling. Am 5. November meldete Italien 445 neue Todesfälle, die höchsten seit dem 23. April, während sich die Menschen trotz der regionalen Abriegelungen und der landesweiten Ausgangssperre auf eine neue Protestwelle vorbereiten.
Die Reaktion der kommerziellen Medien und des politischen Establishments
Nach den Demonstrationen gingen die Medien und das politische Establishment schnell dazu über, die Menschen auf der Straße in den Augen der Öffentlichkeit zu delegitimieren, indem sie sie als Faschist:innen, Kriminelle oder, im Fall von Neapel, sogar als Mitglieder der Camorra-Mafia bezeichneten.
Dies ähnelt der Art und Weise, wie Politiker:innen und liberale Medien während der Rebellion nach dem Mord an George Floyd durch die Polizei in den so genannten Vereinigten Staaten Mythen über ›Agitator:innen von außen‹ verbreiteten und dies dazu nutzten, die Gewalt gegen Demonstrierende zu eskalieren. Dies setzt sich nun bis in die Zeit nach den Wahlen fort, da die Expert:innen Unsinn verbreiten und die Polizei in verschiedenen Städten Polizeiaufstände und Massenverhaftungen inszeniert, während die Presse Angst vor der ›Antifa‹ verbreitet. All dies ist darauf berechnet, Spaltungen und Misstrauen zu säen.
Anstatt die Demonstrierenden in Italien auf ihre Partei- oder Ideologiezugehörigkeit zu reduzieren, beschreibt ein Interview in Dinamo Press ihre zentrale Besorgnis in Neapel am 23. Oktober so:
»Viele, die gestern Abend auf die Straße gingen, gaben der nationalen und lokalen Verwaltung die Schuld für die Lage. Anstatt zu sagen ›das Virus existiert nicht‹, sagten viele: ›Was zum Teufel habt ihr diesen Sommer gemacht‹ … Viele haben das Geld, das ihnen versprochen wurde, nie gesehen. Napoli hat sein epidemiologisches Gedächtnis: Im letzten Frühjahr verschwanden sogar Hustler von den Straßen. Aber jetzt sind die Menschen erschöpft, die Pandemie in Neapel traf in einem zerbrechlichen Kontext, sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht. Außerdem wurde die zweite Welle angekündigt, aber sie haben unser Gesundheitssystem nicht vorbereitet, sie haben keine Maßnahmen zur sozialen Sicherheit getroffen, und jetzt scheinen wir alle überrascht zu sein.«
Während lokale und nationale Beamt:innen weiterhin Debatten über soziale versus wirtschaftliche Gesundheit führen, wobei sie die beiden gegeneinander ausspielen und über die Notwendigkeit von ›Opfern‹ im Namen der Arbeiter:innen sprechen, die nichts mehr zu geben haben, ist es offensichtlich, dass wirtschaftliche und gesundheitliche Sicherheit gemeinsam angegangen werden müssen. Um noch einmal diejenigen zu zitieren, die in Infoaut schreiben:
»Wir wissen sehr gut, dass wir es sind, die ganz unten stehen, die in dieser Krise, die durch die globalisierte Wirtschaft, die Privatisierungen, die Umweltzerstörung und die Umwandlung der Gesundheit in eine Ware verursacht wird, am meisten bezahlen. Aber sich um uns selbst und um andere zu kümmern, bedeutet, diejenigen, die in dieser Krise ihre Arbeit verloren haben und diejenigen, die in Gefahr sind, ihr Zuhause und ihre Lieben zu verlieren, nicht mit einer egoistischen Geste zu ignorieren. Es bedeutet, an ihrer Seite zu kämpfen, denn solange die Bewältigung der Krise allein in den Händen der Politiker:innen liegt, solange die Konzerne die einzigen sind, die eine starke Stimme haben, werden wir diejenigen sein, die die Toten und Kranken in unseren Reihen zählen werden, ob es nun COVID oder Hunger ist.«
Faschistische Besetzungen der Piazzas und antifaschistischer Widerstand
In Rom versammelten sich die Faschist:innen in der Woche vom 26. Oktober in drei verschiedenen Fällen auf zwei verschiedenen Plätzen, auf der Piazza del Popolo und auf dem Campo de Fiori. Sie waren zahlenmäßig klein, aber extrem gewalttätig. Die Polizei stellte sich ihnen entgegen und verhaftete einige von ihnen. In Catania (Sizilien) und noch sichtbarer in Florenz versuchten Faschist:innen, die Piazza zu infiltrieren, aber es ist schwer zu sagen, wie viele von der Menge sie waren. In Neapel ist das keine Frage: Die Faschist:innen waren nicht die dominierende Kraft, nicht einmal eine sichtbare Präsenz.
Man kann gar nicht genug betonen, wie zentral die Piazza für das bürgerliche (und damit politische) Leben Italiens ist. Jede Piazza in jedem Viertel fungiert als Puffer zwischen privatem und öffentlichem Leben; in Städten wie Neapel funktioniert die Piazza immer noch so, dass sie diese beiden Unterscheidungen bis zu einem gewissen Grad aushöhlt. Wie Walter Benjamin schon vor langer Zeit in Neapel festgestellt hat, »Wie die Stube auf der Straße wiederkehrt, mit Stühlen, Herd und Altar, so, nur viel lauter, wandert die Straße in die Stube hinein.« In den letzten Wochen, als die Restriktionen die kleinen Unternehmen betrafen, die in den meisten Städten des Südens überwiegend Arbeiter:innen ohne Papiere oder unter der Hand bezahlte Arbeiter:innen beschäftigen, kamen zwei wesentliche Elemente der Piazza ins Spiel: ihre Zusammensetzung (einschließlich Arbeiter:innen, Bewohner:innen und diejenigen, die sich dort aufhalten) und ihre spezifische Geschichte. Undokumentierte Arbeiter:innen, ›Flex‹-Arbeiter:innen, Angestellte, Barkeeper:innen, kleine Einzelhändler:innen, Kleinunternehmer:innen, Migrant:innen, Gewerkschaften, Militante von links und rechts kamen auf die Straße, um für soziale Schutzmaßnahmen zu kämpfen.
In Neapel haben die Demonstrationen weiterhin verschiedene Teilnehmende einbezogen: prekäre junge Leute (einige demonstrierten mit Transparenten von Extinction Rebellion), Arbeiter:innen ohne Papiere, Organisator:innen von Potere al Popolo, Frauen (die gegen geschlechtsspezifische Diskriminierung am Arbeitsplatz demonstrierten), Familien, Migrant:innen und Einzelhändler:innen. Der Druck auf die lokale Verwaltung ist hoch.
In Rom ist am Samstag, den 31. Oktober, eine Bewegung verschiedener linker Kräfte auf den Straßen erschienen: autonome Militante, Migrant:innen, kurdische Immigrant:innen, Jugendliche. Die Polizeipräsenz war sehr hoch, aber die Demonstrierenden haben die Gewalt nicht eskalieren lassen – es scheint ein Versuch zu sein, das auszugleichen, was viele erwarten würden, nämlich eine weitere Delegitimierung durch die Medien. Trotz der erstickenden Provokation durch die militarisierte Polizei und die Medienpropaganda zeigte die Aktion in Rom eine Fähigkeit, fließend zu bleiben: in einem Moment die aufständische Energie zu nutzen und im nächsten Moment Zurückhaltung zu üben. Wir schreiben dies nicht, um den ›friedlichen Protest‹ zu verunglimpfen, noch um ihn zu fordern, sondern um darauf zu bestehen, dass die Frage, welche Taktik anzuwenden ist, immer eine kontextuelle Frage ist, die im Moment von den beteiligten Demonstrierenden entschieden werden muss.
Auf Gedeih und Verderb war die Medienberichterstattung über die Demonstration vom 31. Oktober am nächsten Morgen bestenfalls minimal.
Die kommenden Schlachten
Weitere Proteste, Versammlungen und Aktionen sind für die nächsten paar Wochen geplant, da sich die Lockdowns über die ganze Halbinsel ausbreiten. Es ist schwer vorherzusagen, was passieren wird, aber eines ist klar: angesichts der Geschwindigkeit der Ereignisse wird das, was passieren wird, nicht (nur) von organisierten politischen Institutionen bestimmt werden, noch entlang strenger ideologischer Linien. Es wird weiterhin heterogen und autonom sein, mit allen Vor- und Nachteilen, die diese mit sich bringen.
Die Notwendigkeit, die Ausbreitung des Virus einzudämmen – der, wie alle kapitalistischen Krisen, eine bereits verletzliche Undercommons weiterhin unverhältnismäßig stark beeinträchtigen und brutalisieren wird – muss mit dem Klassenkampf in Einklang gebracht werden. Die Machthabenden werden weiterhin diejenigen dämonisieren, die auf die Straße gehen, und ihnen gleichzeitig eine angemessene Gesundheitsversorgung oder Formen des Überlebens verweigern. Diese Situation in Neapel – wie auch in Italien und im Rest der Welt – ist kompliziert und dynamisch. Die Kämpfe werden weitergehen und sich mit dem Herannahen des Winters verschärfen; es wird unerlässlich sein, diese Demonstrationen weiterhin durch die Linse des antikapitalistischen Kampfes zu betrachten, auch wenn nicht alle Teilnehmenden explizit antikapitalistisch oder antistaatlich sind. Aus diesem Grund haben wir diese kurze Notiz herausgegeben, um einen Kontext zu schaffen, der mit dem Mythos aufräumt, dass die Menschen auf der Straße reine ›Negationist:innen‹ sind (der Begriff, mit dem COVID-19-Skeptiker:innen in Italien bezeichnet werden). Es sind diejenigen, die um ihr Leben und ihren Lebensunterhalt kämpfen.
Italien: Eine Auffassung aus dem Norden
Neapel, 23. Oktober. Ein Schrei, eine Revolte, ein Wendepunkt: eine Nacht der Zusammenstöße, die die Ausgangssperre verletzen und verkünden, dass die bedingungslose Akzeptanz der Anti-COVID-Schließungen vorbei ist. Dies hat in den letzten Wochen in jeder anderen italienischen Großstadt Widerhall gefunden, manchmal wie eine einzige Episode, manchmal mehr wie ein Zeichen der Dinge, die noch kommen werden.
Die wichtigsten Anti-COVID-Maßnahmen, die der Staat im Frühling eingeführt hat, waren Zwangsmaßnahmen: der Lockdown, Bewegungseinschränkungen, Anklagen, Geldstrafen, mehr Macht für die Polizei, um Leute festzunehmen, und ähnliches. Die Bevölkerung akzeptierte all dies als eine kollektive Anstrengung zum Wohle aller, so hart es auch war. Die einzige Ausnahme war eine Woche gewalttätiger Revolten, die im März die Gefängnisse des ganzen Landes erschütterte, während der 14 Häftlinge unter unklaren Umständen starben. Nach dem ersten richtigen Versuch einer Enteignung in Sizilien hat die Regierung tatsächlich Boni zur Unterstützung der Arbeiter:innen und der wegen des Lockdowns geschlossenen Geschäfte vergeben, und die Leute warteten einfach darauf, dass alles ein Ende hat. Aber dieser Notfallansatz konnte nur lindernd wirken.
Es wurde keine strukturelle Intervention durchgeführt, um die Pandemie zu bekämpfen; jeder Bonus wurde über Schulden finanziert. Sowohl der Genesungsfonds der Europäischen Union als auch die Ausgaben mit hohem Defizit sind vorübergehende Lösungen, die auf lange Sicht innerhalb des kapitalistischen Systems unerträglich sein werden. Das Ziel ist, wie auch anderswo, eindeutig die Rettung des sozioökonomischen Organismus und nicht die Rettung von Leben. Ein Paradigma der Aufopferung.
Während die zweite COVID-19-Welle in Italien hart zuschlägt, wird klar, dass es nicht möglich sein wird, sowohl Leben als auch die Wirtschaft zu retten. Eine massive Krise klopft an die Tür: Das Einzige, was der Regierung möglich ist, ist, ihre Auswirkungen mit einer Mischung aus Notfall-Unterstützungsmaßnahmen und vorgetäuschten ›weichen‹ Lockdowns hinauszuzögern, da sie keine wirkliche Lösung hat. Das Ergebnis ist eine politische Strategie des Pustens, um einen Sturm zu vertreiben: naiv oder verzweifelt.
Das erklärt, warum die Menschen den Glauben an die Maßnahmen des Staates verloren haben und gezwungen sind, sich zwischen der Rettung ihrer Gesundheit und der Versorgung ihrer materiellen Grundbedürfnisse zu entscheiden. Es wird klar, dass es unter diesen Bedingungen nicht möglich ist, beides zu sichern.
In Neapel von kleinen Ladenbesitzer:innen initiiert, haben spontane Wutausbrüche gegen die Ausgangssperre in jeder Stadt eine andere Form angenommen, mit bemerkenswerten Ähnlichkeiten im Norden. In Mailand und Turin am 26. Oktober und in Florenz am 30. Oktober gab es zweideutige Aufrufe zur Aufhebung der Ausgangssperre, eine starke nicht-ideologische Präsenz in den Straßen und Demonstrationen gemischter Zusammensetzung. In Turin plünderten einige Jugendliche ein paar Luxusläden; das zerbrochene Fenster bei Gucci wurde zur Ikone. In Mailand waren die meisten Verhafteten minderjährig. In Florenz wurde auf einer Mauer in Großbuchstaben »Gebt uns eine Zukunft« gefordert. In all diesen Städten führten die Unruhen zu stundenlangen Zusammenstößen mit der Polizei, die instinktiv als Hauptziel verstanden wird.
Es ist viel über die Jugend der Vorstädte gesprochen worden (4), den Schlüsselfiguren in diesen Nächten der Wut. Diese jungen Banden waren die energischsten und dreistesten Gegner:innen der Polizei, es waren aber auch viele Genoss:innen, Gruppen von Ultras und wahrscheinlich auch Faschist:innen auf der Straße, obwohl sie als Gruppe keine aktive Rolle spielten und implizit durch die echte multiethnische Zusammensetzung der neuen Generationen auf den Straßen an den Rand gedrängt wurden. Wenn die Rechten ihre Versammlungen abhielten, mieden diese Jugendbanden sie einfach und isolierten sie. Hier im Norden waren die Ladenbesitzer:innen und die Interessengruppen der Wirtschaftssektoren, die von der Ausgangssperre betroffen sind, nicht so einflussreich.
In den Städten des Nordens scheint es, dass wir einen Vorgeschmack auf die kommende Krise erlebt haben, aber diese Ausbrüche sind Episoden ohne Folge geblieben. Dies könnte an der weit verbreiteten Entideologisierung der Menschen liegen, oder an der Desorganisation und dem Mangel an tiefen und kontinuierlichen Beziehungen zwischen den sozialen Bewegungen und den Vorstädten, oder an den massiven präventiven Polizeimaßnahmen bei den folgenden Demonstrationen.
Doch diese Aufrufe vermehren sich immer noch, und wir wissen nicht, woher sie kommen, wir können nicht vorhersehen, wie jeder einzelne von ihnen enden wird. Es ist aufschlussreich, dass die klassischen militanten Aufrufe, die sich in den Straßen ansammeln, im Moment keine große Anziehungskraft haben; sie sind manchmal nur selbstreferenziell und selbstbewahrend.
Einige Leute glauben, dass der gegenwärtige Kontext den Faschist:innen eine Gelegenheit bietet, sich zu bewegen, indem sie sich auf diese Bedrohung des Risikos des Exzesses konzentrieren. Wenn man die Situation aus einer anderen Perspektive betrachtet, könnte man auch argumentieren, dass das derzeitige Szenario einen fruchtbaren Boden bietet: Die Menschen reagieren gegen die Wirtschaftsdebatten, sie schätzen die menschlichen Beziehungen nach Monaten der Abstinenz mehr, sie zeigen ein großes Interesse daran, den öffentlichen Raum als politische Arena zu nutzen. Die sozialen Bewegungen sollten aus ihren Komfortzonen heraustreten, um sich den seltsamen Herausforderungen dieser Zeit zu stellen, indem sie Fachwissen statt fester Lösungen anbieten.
Slowenien
Die slowenische Regierung hat die Pandemie am 12. März 2020 offiziell anerkannt und damit die rechtliche Grundlage für die erste Phase des Lockdowns geschaffen. Einen Tag später wurde die neue rechte Regierung vereidigt. Eine ihrer ersten Aktionen war die Einführung autoritärer Maßnahmen zur Kontrolle der Bevölkerung, getarnt als Bemühungen zur Kontrolle von COVID-19. Dazu gehörten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zwischen den Gemeinden, ein Verbot von Protesten, das Verbot von Versammlungen außerhalb der unmittelbaren Familieneinheiten und erweiterte Befugnisse für die Polizei.
Die anarchistische und antiautoritäre Bewegung reagierte schnell. Überall in der Hauptstadt Ljubljana brachen Kleingruppenaktionen aus. Dieser Schwung gipfelte am 24. April, als die ersten Demonstrationen stattfanden. Zu dieser Zeit war der größte Teil der nördlichen Hemisphäre tief eingeschlossen; Ljubljana war einer der ersten Orte, an dem während der COVID-19-Ära massive Demonstrationen stattfanden. Sechs turbulente Monate mit wöchentlichen Protesten und Aktionen folgten – die längste kontinuierliche antiautoritäre Mobilisierung in der Geschichte Sloweniens.
Seit dem 24. April fanden jede Woche Proteste statt, zusammen mit mehreren wöchentlichen Aktionen, die sich mit einer Vielzahl verschiedener Themen befassten, darunter Umweltkämpfe, prekäre Kulturarbeit und die Pro-Choice-Bewegung. Zuerst fanden diese Demonstrationen in Form von großen Fahrradfahrten statt; als die Polizei immer mehr bereit war, darauf zu reagieren, nahmen die Demonstrationen andere Formen an. Wie in vielen anderen Teilen der Welt wurde der Kampf gegen die Polizei nach heftiger Repression für eine Weile zum zentralen Thema der Proteste.
Anarchist:innen hatten die Initiative ergriffen, die Erzählung um diese Proteste herum zu formen und sie in den Koordinaten von Antikapitalismus, Antifaschismus, Antistaatlichkeit, gegenseitiger Hilfe und Solidarität zu positionieren, wobei wenig Raum für Verschwörungsideolog:innen und rechtsradikale Provokateure blieb, um die Aktionen auf den Straßen anzuführen. Gleichzeitig stoppte die Frühlingswelle der Proteste auch erfolgreich den anfänglichen autoritären Vorstoß der neuen Regierung und lehnte die soziale Klaustrophobie ab, die sie geschaffen hatte. Eine der wertvollsten Errungenschaften der Proteste war die Ablehnung der aufgezwungenen Isolation durch die Quarantäne. Durch diese Proteste wurden wieder neue Formen der Kollektivität möglich.
Nach einer Periode relativer Leichtigkeit während der Sommermonate, begann sich die epidemiologische Situation im September und Oktober wieder zu verschlechtern. Nach Jahrzehnten der neoliberalen Privatisierung war das öffentliche Gesundheitssystem nicht auf die Herausforderungen der neuen Welle von COVID-19 vorbereitet.
Am 20. Oktober verhängte die slowenische Regierung zwischen 21 Uhr und 6 Uhr morgens eine allgemeine Ausgangssperre. Dies war die erste polizeiliche Ausgangssperre, seit die Faschist:innen während des Zweiten Weltkriegs eine Ausgangssperre in den besetzten Gebieten Sloweniens (damals Jugoslawien) verkündet hatten.
Slowenien ist keine Ausnahme: In fast allen Gebieten der Europäischen Union wurden Ausgangssperren eingeführt. Es ist nicht überraschend, dass wir sie vor allem dort sehen, wo autoritäre staatliche Maßnahmen traditionell heftigen Widerstand provozieren – Frankreich, Spanien, Italien und Belgien. Während die europäischen Länder die zweite Epidemiewelle zusammen mit dem Verfall, der Privatisierung und dem Zusammenbruch des öffentlichen Gesundheitssystems erleben, sehen sie sich auch mit den ersten offensichtlichen Anzeichen einer wirtschaftlichen und sozialen Krise konfrontiert. Die Menschen beginnen massiv ihre Arbeit, ihr Zuhause und ihre Würde zu verlieren. Als Antwort darauf führen die Regierungen immer mehr Maßnahmen ein, um die totale Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben – als ob sie bereits die Revolten vorwegnehmen würden, die erst noch geboren werden.
Die Ausgangssperre in Slowenien wurde von mehreren anderen restriktiven Maßnahmen begleitet. Dazu gehören ein Verbot, von einer Gemeinde, Region oder einem Land in eine andere zu reisen; der Versuch, der Armee mehr Autorität zu verleihen; Beschränkungen für öffentliche Versammlungen und schwere Strafen für jede Art von Protestaktivitäten; und die Einführung des Handy-Trackings der Infizierten. Der Staat übt nicht nur seine eigene Kontrolle über die Menschen aus, sondern wie in jedem anderen totalitären Regime ermutigt er uns auch dazu, unsere Freund:innen und Nachbar:innen zu überwachen und gleichzeitig diejenigen zu stigmatisieren, die nicht gesund sind. Viele dieser Maßnahmen haben nichts mit der Bekämpfung des Virus zu tun; sie sind dazu gedacht, das Virus des Widerstandes zu bekämpfen und die Wirtschaft am Laufen zu halten.
Seit der Einführung der Ausgangssperre sind die Städte nachts wieder lebendig geworden, mit allem Möglichen, von brennenden Mülleimern und Graffiti bis hin zu Feuerwerk, Sprechchören und kleineren Versammlungen und Protesten. Der Kampf, den wir seit mehr als sechs Monaten erleben, hat mit den neuen autoritären Maßnahmen eine neue Wendung genommen.
Am 5. November brachen in Ljubljana Unruhen aus. Ursprünglich hatte die Onlinegruppe Anonymous für dieses Datum zu einer Art Demonstration aufgerufen; rechte Medien betrieben Angstmacherei, was dazu führte, dass jede formelle Organisation sich von dem Ereignis distanzierte, aber anscheinend Neugierde bei den Unruhigen und Unzufriedenen weckte. Die Zusammensetzung der Menge, die sich versammelte, war divers, aber zum größten Teil bestand sie aus Leuten, die wahrscheinlich nicht an den vorherigen Protesten beteiligt waren. Dieses Mal kamen Arbeiter:innen und wütende Jugendliche heraus, und die allgemeine Atmosphäre der Nacht war Hass gegen die Polizei. Die Kämpfe dauerten mehrere Stunden. Da es in Slowenien nicht oft zu Ausschreitungen kommt – davor hat die Polizei ihre Wasserwerfer zum letzten Mal 2012 eingesetzt, während eines Aufstandes, der die Regierung zum Rücktritt zwang – haben nur Anarchist:innen ihre Stimme erhoben, um diese Ausschreitungen als echten Ausdruck der Wut der Bevölkerung zu bejahen. Andere Gruppen, die die früheren Proteste unterstützt haben, distanzieren sich nun von der Gewalt auf den Straßen.
Die Aufstände fanden in einer Situation statt, in der die Mobilisierung praktisch beendet war. Anstatt zu versuchen, sie von den Toten auferstehen zu lassen, in der Hoffnung, eine Art linearen Weg für soziale Unruhen zu schaffen, scheint es sinnvoller zu sein, herauszufinden, wie man die rohe Wut, die wir in den Unruhen sahen, mit den Kämpfen anderer Menschen, die wir in den letzten Monaten auf den Straßen sahen, verbinden kann, um ein Terrain des gemeinsamen Kampfes zu schaffen.
Eine anarchistische Analyse der Unruhen von Ljubljana könnt ihr hier lesen.
Griechenland: November im Lockdown
Eine Stellungnahme von Radio Fragmata.
Griechenland befindet sich derzeit in einem vollständigen Lockdown. Dies beinhaltet keine Bewegungsfreiheit. Es gibt nur sechs legitime Gründe, das Haus zu verlassen. Du musst eine SMS an den Staat schicken, um die Erlaubnis zu erhalten, nach draußen zu gehen, und die SMS-Bestätigung der Polizei zeigen, wenn sie dich anhalten. Die Schulen bleiben jedoch geöffnet, was der angeblichen Rechtfertigung für die Abriegelung widerspricht.
Während des ersten Lockdowns im März und April lagen die Fälle im Durchschnitt bei 150 bis 200 pro Tag; jetzt schwanken die Zahlen zwischen 2000 und 2500 pro Tag, wobei sich die Betten auf der Intensivstation schnell füllen. Die Schuld für die Infektionsraten kann einer Wirtschaftselite angelastet werden, die im August die Öffnung der Grenzen für den Tourismus forderte, obwohl dies bei einer globalen Pandemie offensichtlich nicht viele Tourist:innen anziehen würde. Es gab einen 90-prozentigen Rückgang des Tourismus, aber die wenigen wohlhabenden Tourist:innen, die auftauchten, verbreiteten das Virus noch weiter auf dem griechischen Festland und den Inseln.
Das Regime der Nea Demokratia hat weiterhin die Budgets der Krankenhäuser und des medizinischen Personals gekürzt, die Mittel auf dekorative Stadterneuerungsprojekte, Polizei- und Gefängnispersonal umgelenkt und das Militärbudget angesichts der Spannungen mit der Türkei erhöht. Während sie Springbrunnen und Topfpflanzen benutzen, um Viertel zu dekorieren, in denen Obdachlosigkeit und Drogenkonsum grassieren, wurden die öffentlichen Verkehrsmittel nicht angepasst, um soziale Distanzierung zu ermöglichen; U-Bahnen und Busse sind nach wie vor vollgestopft mit Menschen, die wahrscheinlich das Virus verbreiten. Dies betrifft vor allem diejenigen, die es sich nicht leisten können, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren. Die Prioritäten der Regierung liegen zwar auf der Hand, aber sie beharrt darauf, dass die Verantwortung für die Pandemie bei den Personen liegt, die das Virus untereinander weitergeben – dass wir allein schuld sind an den alarmierenden Infektionsraten.
Viele Gefangene haben Hunger- und sogar Durststreiks initiiert und fordern eine bessere Hygienepolitik und Schutz vor COVID-19. Während die Gelder in die Gefängnisse geflossen sind, wurde fast alles für die Erweiterung des Personals und die Verbesserung ihrer Bezahlung verwendet.
Obdachlose müssen weiterhin mit Geldstrafen, Verhaftungen und Vertreibungen rechnen. Der Staat setzt das Virus ein, um Versammlungen jeglicher Art zu verbieten; die Polizei hat kürzlich Einzelpersonen in einem Sozialzentrum in Patras angegriffen, weil sie Lebensmittel gesammelt hatten, um sie an Menschen zu verteilen, die in dieser Zeit zu kämpfen haben. Der derzeitige Lockdown dauert bis zum 17. November – einem Jahrestag des Widerstands gegen die Militärjunta – und wird sich wahrscheinlich über den 6. Dezember hinaus erstrecken, der seit der Ermordung von Alexandros Grigoropoulos im Jahr 2008 als ein Tag des Widerstands gilt. Die Regierung hält daran fest, dass ihre Priorität darin besteht, vor Weihnachten zu öffnen, damit die Menschen frei einkaufen können – die einzige Freiheit, die sie gutheißt.
Wie an vielen Orten auf der Welt schlagen Wissenschaftler:innen Schließungen vor, ohne die Notlage derer zu berücksichtigen, die im Kapitalismus prekär leben. Da alles geschlossen ist, kämpfen die beurlaubten Arbeiter:innen ums Überleben. Und diejenigen, die für unentbehrlich gehalten werden, wie Lieferarbeiter:innen, Lehrkräfte und Angestellte von Lebensmittelgeschäften, arbeiten ohne Lohnerhöhung und sind gezwungen, ihre eigene Schutzausrüstung zu kaufen, während sie sich wünschen, in einer Industrie zu arbeiten, die als ›nicht-essentiell‹ gilt, um ein kleines Gehalt zu erhalten, ohne den ganzen Tag ihre Gesundheit für ein paar Peanuts riskieren zu müssen.
Wir warten darauf, dass die Gesellschaft platzt. Wir warten darauf, dass die Menschen genug haben. Wir erkennen die Gefahren von COVID-19 an, aber wir weigern uns, die opportunistische ›law and order‹-Politik des derzeitigen Staates zu akzeptieren, die nicht wirklich darauf abzielt, das Virus zu bekämpfen.
Ein Gefühl der Depression ist hier. Die Tage sind kürzer, das Wetter ist kälter, die Zukunft ist düster. Aber wenn es einen Silberstreifen an diesem Virus und der damit einhergehenden Abriegelung gibt, dann ist es der, dass die Menschen anfangen zu sehen, wie dieses System tötet – und wie es sterben könnte.
Der Staat kann uns nicht schützen, aber er kann uns töten.
(1) Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat eine Kontroverse ausgelöst, indem er eine von vielen als abschlägig empfundene Haltung gegenüber dem Virus eingenommen hat. Siehe zum Beispiel »Die Erfindung einer Epidemie«.
(2) Siehe »Italien – Wir Partisanen – Widerstand gegen die Welle des Faschismus, Frühling 2018«.
(3) Um mehr über das Konzept der Undercommons zu erfahren, beginne mit dem Buch von Stefano Harney und Fred Moten.
(4) Das Verhältnis zwischen Zentrum und Vorstadt in Europa ist das Gegenteil von dem, was bis vor kurzem in den Vereinigten Staaten üblich war: historische Stadtzentren sind teuer und von den Reichen bevölkert, während die Vororte alte Pendlergebiete sind, die hauptsächlich arm sind und denen es an Dienstleistungen und Infrastruktur mangelt.