Nigeria und die Hoffnung der #EndSARS-Proteste

Am 3. Oktober wurde ein Video auf Social-Media-Plattformen ins Netz gestellt, das zeigt, wie die berüchtigte Spezialeinheit SARS (Special Anti-Robbery Squad) der nigerianischen Polizei einen jungen Mann erschoss, ihn am Straßenrand liegen ließ und sein Auto stahl.

Quelle: Green Left

Was folgte, waren drei Wochen lang Proteste von jungen Leuten gegen solche Polizeibrutalität und die Korruption, die den Staat ausmacht; zunächst über Social Media (#EndSARS) und später in Städten und Gemeinden in ganz Nigeria.

Während dieser Proteste benutzte der nigerianische Staat verschiedene Taktiken, um die Proteste entweder zu unterdrücken oder zu versuchen, sie durch unaufrichtige „Zugeständnisse“ zu demobilisieren. Zuerst versuchten die herrschende Klasse, der Staat und ihr Oberhaupt, Präsident Muhammadu Buhari, die Proteste durch Augenwischerei niederzuschlagen.

Der Generalinspektor der Polizei Mohammed Adamu versprach am 11. Oktober, dass die SARS-Einheit aufgelöst und angeblich durch eine neue Einheit namens SWAT (Special Weapons and Tactics) ersetzt werden würde. Dies war eine offensichtliche Lüge, da dasselbe Personal, das zu SARS gehörte, auch zum SWAT gehören würde. In den letzten Jahren hat die Regierung ähnliche Ankündigungen gemacht, die zu keiner tatsächlichen Änderung geführt haben.

Unnötig zu sagen, dass die Proteste weitergingen und sich zu den größten in der Geschichte Nigerias entwickelten. Als die Proteste zunahmen, änderte der Staat seine Taktik und reagierte auf die Eskalation mit regelrechter Gewalt. Dazu gehörte auch, dass der Staat Schlägertrupps einsetzte, um die Demonstrierenden anzugreifen und zu versuchen, die Menschen auf der Straße einzuschüchtern.

Als dies nicht zum gewünschten Ergebnis führte, setzte der Staat das Militär ein und führte in einigen Städten eine Ausgangssperre ein.

Bis zum 20. Oktober hatten sich die Proteste jedoch über ganz Nigeria ausgebreitet. Einige der Vermögenswerte der nigerianischen herrschenden Klasse waren ebenfalls Ziel dieser Proteste und die größte und lukrativste Mautstraße des Landes, Lekki in Lagos, wurde blockiert. An diesem Tag versuchte das Militär, die Proteste brutal zu beenden und erschoss 12 Menschen an der Mautstelle von Lekki.

Der nigerianische Staat hat eine lange Geschichte der Gewalt

Die Gewalt des nigerianischen Staates, die in den letzten Monaten deutlich geworden ist, ist alles andere als etwas Neues. Die meiste Zeit seines Bestehens befand sich der nigerianische Staat unter einer Diktatur.

Während Buhari durch eine sehr beschränkte Form der repräsentativen Demokratie gewählt wurde, war er in den 1980er-Jahren auch das Oberhaupt einer Militärdiktatur. Tatsächlich hat der nigerianische Staat eine berüchtigte Geschichte der brutalen Unterdrückung, um die Arbeiterklasse in Schach zu halten.

Man braucht nur daran zu denken, wie der Staat in den 1990er-Jahren das Militär auf die Menschen im Nigerdelta losgelassen hat, die sich aufgrund der Verwüstungen, die sie angerichtet haben, gegen Ölfirmen wie Shell gestellt haben. Während dieser Zeit wurden Tausende von Menschen getötet oder verschwanden.

Die SARS-Einheit ist also keine Ausnahme, sondern die Norm in Bezug auf die Gewalt der staatlichen Strukturen in Nigeria. Die Mitglieder der SARS-Einheit rauben sogar routinemäßig Menschen aus: zwischen 2017 und 2020 wurden 82 Fälle von Mitgliedern gemeldet, die in Misshandlung, Folter und Erpressung verwickelt waren.

Um zu verstehen, warum die Strukturen des nigerianischen Staates so brutal sind, muss man verstehen, wie Kapitalismus, Imperialismus und Klassenherrschaft in einem Nigeria nach der Unabhängigkeit funktioniert haben. Obwohl die unmittelbare Ursache für die Proteste von jungen Leuten (die von der Polizei ins Visier genommen werden) die SARS-Einheit ist, gibt es tiefere Gründe, die den Zorn, der die Proteste angeheizt hat, antreiben.

Klassenherrschaft und die zentrale Stellung des Staates bei der Anhäufung von Reichtum

Große Teile der nigerianischen Arbeiterklasse und der Bauernschaft – wobei die Kohleminenarbeiter:innen, Eisenbahnarbeiter:innen und Frauen, die auf Märkten arbeiten, im Mittelpunkt stehen – spielten eine Schlüsselrolle im Kampf für Nigerias Unabhängigkeit, die 1960 erreicht wurde.

Der Wandel, der sich vollzog, war jedoch begrenzt. Die Kolonialbürokrat:innen wurden entfernt, der Staat, der von der Kolonialmacht – Großbritannien – geschaffen worden war, blieb jedoch bestehen.

Obwohl mit neuen Gesichtern gefüllt, wurde die Klassenherrschaft beibehalten. Eine lokale Elite schloss sich der herrschenden Klasse an, aber die Macht der britischen und US-amerikanischen Konzerne blieb unkontrolliert, und der Kapitalismus blieb erhalten. Die wahren Gewinner:innen des Kampfes waren die nationalistischen Führenden der größten Parteien, die in den Staat eintraten, zusammen mit den Konzernen, mit denen sie verbündet waren.

Tatsächlich war nach der Unabhängigkeit einer der einzigen Wege, auf dem eine aufstrebende lokale Elite in Nigeria der herrschenden Klasse beitreten und privat Reichtum anhäufen konnte, über den Staat – aufgrund des Kolonialismus gab es 1960 nur wenige nigerianische Kapitalist:innen (dies hat sich geändert) und Konzerne aus Großbritannien dominierten hauptsächlich die lokale Wirtschaft. So wurde der Staat zu einem Vehikel, um Reichtum zu erlangen und durch den Staat, oft durch Korruption, baute die lokale nigerianische Elite ihr Kapital auf.

So bedeuteten die Geschichte des Kolonialismus und die Tatsache, dass ausländische Unternehmen die Privatwirtschaft dominierten, dass eine lokale Elite die Staatsmacht brauchte, um in den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit privaten Reichtum zu erlangen. Dadurch wurden die lokalen Kapitalist:innen größtenteils in Nigeria aufgebaut und es ist der strukturelle Grund, warum die Korruption innerhalb des nigerianischen Staates – bis hinunter zu SARS – ein bestimmendes Merkmal des Landes ist.

Es wird geschätzt, dass zwischen 1960-2005 eine lokale Elite innerhalb des Staates durch Korruption 20 Billionen US-Dollar abgezweigt hat.

Die offenkundige Korruption einer Elite innerhalb oder in der Nähe des nigerianischen Staates bedeutete auch, dass sanftere Optionen – wie Kooption – um die Einhaltung der Vorschriften durch die Arbeiterklasse und die Bauernschaft zu gewährleisten, schwerer durchzusetzen waren, da das Versagen des staatlichen Systems so eklatant war.

In diesem Zusammenhang war und ist die staatliche Gewalt eine der Hauptoptionen der herrschenden Klasse, um ihre Herrschaft zu sichern und ihren eigenen Reichtum und die Interessen der multinationalen Konzerne (insbesondere der Ölkonzerne), mit denen sie verbündet sind, zu schützen.

Dies ist der Grund, warum staatliche Gewalt, auch durch SARS, weit verbreitet ist.

Militärputsche und Diktaturen haben einen großen Teil der nigerianischen Geschichte geprägt – die Staatsmacht stellt sicher, dass private Reichtümer angehäuft werden können, und um an der Staatsmacht festzuhalten, wurde oft Gewalt angewendet.

Während der Staat in allen Ländern ein Instrument der herrschenden Klasse ist – er schützt ihren Reichtum und ihr Privateigentum -, ist er in Nigeria ein besonders wichtiger Weg, um Reichtum anzuhäufen. Wenn eine Gruppe der Elite die Staatsmacht verliert, untergräbt dies ihre Fähigkeit, Reichtum anzuhäufen, und somit wird das Festhalten an der Staatsmacht mit allen Mitteln lebenswichtig – was auch bedeutet, dass staatliche Gewalt endemisch geworden ist.

Die Proteste wurden nicht nur von SARS angetrieben

Seit den 1980er-Jahren haben die herrschende Elite und ihre multinationalen Konzernverbündeten zu ihrem eigenen Vorteil eine brutale Form des Neoliberalismus durchgesetzt.

Vor der Einführung des Neoliberalismus war die Ungleichheit bereits weit verbreitet, aber jetzt ist sie chronisch geworden.

Im Jahr 2019 stand Nigeria am Ende einer Liste von 152 Ländern, was die Maßnahmen zur Bekämpfung der Ungleichheit betrifft, wie der Schutz der Arbeitsrechte und die Einführung einer progressiven Besteuerung. Das Ergebnis ist, dass drei von fünf Nigerianer:innen in Armut leben, 40% der Menschen leben in extremer Armut und mit weniger als 1 Dollar pro Tag zum Überleben. Die fünf reichsten Personen Nigerias verfügen zusammen über einen Reichtum von 29 Milliarden US-Dollar.

Die Einführung des Neoliberalismus hat auch zu Massenarbeitslosigkeit geführt, besonders unter jungen Leuten, und 27,1% der Nigerianer:innen sind arbeitslos. Kombiniert mit Unterbeschäftigung – aufgrund des Mangels an 40-Stunden-Wochen-Arbeitsplätzen – springt diese Zahl auf über 50%. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich die Arbeitslosenquote des Landes in den letzten fünf Jahren verdreifacht hat.

Ein Teil dessen, was dazu geführt hat, dass die jungen Leute bereit waren, die Anti-SARS-Proteste zu unternehmen, sind Unzufriedenheit, Arbeitslosigkeit, Armut und Ungleichheit. Die Anti-SARS-Proteste müssen daher im Kontext einer Situation gesehen werden, in der die Arbeiterklasse und die Bauernschaft unter extremem Druck stehen und die Aktionen von SARS – und die Korruption, die sie repräsentieren – der Funke waren.

Die Stärken der Proteste

Die Tatsache, dass die Proteste die größten in der Geschichte Nigerias waren, ist vielversprechend. Die Proteste sollten zwar nicht als bewusst antikapitalistisch angesehen werden, aber nur durch den Kampf kann sich das Bewusstsein der Menschen ändern und die Proteste eröffnen diese Möglichkeit, auch wenn sie im Moment noch klein ist.

Dass die Proteste auch bewusst horizontal organisiert waren, war extrem wichtig. Dabei haben sich die Menschen mit einer besseren Organisationsform auseinandergesetzt und eine gefunden, die alle einbezieht. Das ist im Zusammenhang mit Nigeria und dem restlichen Afrika lebenswichtig.

Eine Taktik, die in der Vergangenheit auch von der herrschenden Klasse angewandt wurde, war die Nutzung der Ethnizität, um zu teilen und zu herrschen. In den 1960er-Jahren führte dies sogar zu einem brutalen Bürgerkrieg. Die Tatsache, dass sich Menschen aller ethnischen Hintergründe im Protest vereinigten, war daher lebenswichtig und eröffnete die Möglichkeit eines vereinten Widerstandes zu anderen Themen wie Ungleichheit und Armut. 

Schwächen der Proteste und ein möglicher Weg nach vorne

Eine große Schwäche war, dass die Proteste weder eine einheitliche progressive Ideologie hatten, noch gab es eine tiefgreifende Kritik an der Rolle, die der Staat, einschließlich der Polizei, im Kapitalismus spielt. Wenn SARS also wirklich aufgelöst wird, wäre dies ein Sieg, aber die Proteste könnten an diesem Punkt aufhören.

Angesichts der staatlichen Gewalt haben sich die Proteste auch verlangsamt. Das mag sich ändern, aber wenn die Proteste wieder aufflammen, müssen Taktiken entwickelt werden, wie mit der unvermeidlichen staatlichen Gewalt, die kommen wird, umzugehen ist. Dies wird keine leichte Aufgabe sein.

Ein großes Problem ist, dass ein Teil der herrschenden Klasse auch versucht hat, die Proteste zu nutzen, um sich selbst zu profilieren. In der Tat sind die Proteste ein klassenübergreifendes Bündnis und die Gefahr ist, dass ein Teil der herrschenden Klasse die Proteste zu ihrem eigenen politischen Nutzen kapern könnte. In Anbetracht der Geschichte Nigerias könnte dies ein echtes Problem sein, und Teile der Elite könnten versuchen, die Proteste zu benutzen, um in den Staat für ihre eigenen materiellen Zwecke zu gelangen; das heißt, es würde sich kaum etwas ändern.

Eine weitere Schwäche ist, dass aus den Protesten keine Strukturen der direkten Demokratie entstanden sind. Ohne diese wird es für die Proteste extrem schwierig sein zu einer Massenbewegung zu werden, die breitere Themen herausfordern kann, wie z.B. wie der Kapitalismus in Nigeria strukturiert ist und wie dies mit der endemischen strukturellen Korruption im Staat verbunden ist.

Wenn die Proteste wieder aufleben und eine radikalere Richtung einschlagen sollen, müsste eine klare Ideologie durch Debatte und Reflexion unter einem bedeutenden Teil der Protestierenden entstehen. Es müssten auch Strukturen zur Aufrechterhaltung der auf der direkten Demokratie basierenden Bewegung aufgebaut werden.

Auch wenn dies im Moment unwahrscheinlich erscheint, so eröffnet die Teilnahme am Kampf zumindest die Möglichkeit, dies in Zukunft zu tun. Das Positive ist, dass die nigerianische Arbeiterklasse und die Bauernschaft anfangen zu hinterfragen – wenn auch immer noch nur auf der Ebene von SARS – und sich zu mobilisieren. Hierin liegt die Hoffnung.