Wenn der Konsum die soziale Eingliederung bestimmt, ist Plünderung eine Form der direkten Aktion gegen ein System, das vielen Menschen die Möglichkeiten zur sozialen Integration verweigert.
Deutsche Übersetzung eines RoarMag-Artikels
Anfang Juni besetzte eine Gruppe von Aktivist:innen aus Minneapolis ein Sheraton-Hotel und verwandelte es in Zusammenarbeit mit den Besitzer:innen in eine Herberge für Obdachlose. Leider dauerte dieses Experiment präfigurativer Politik – das Neue im Alten zu bauen – nur wenige Wochen, wie es in einem Umfeld zu erwarten war, in dem solidarisches Handeln oft zur leichten Zielscheibe sowohl für opportunistische Raubtiere als auch für absichtliche Repression werden kann.
Die Geschichte des Minneapolis Sanctuary – wie es von den Besetzenden genannt wurde – bekam fast keine Sendezeit, im Gegensatz zu den vielen unaufrichtigen Versuchen, die Forderungen der Protestierenden zu delegitimieren, indem man sie als Plünderer:innen brandmarkte. Tatsächlich nutzen wieder einmal Mitte-Larrys und Konservative den Sachschaden in Städten wie Kenosha und anderswo, um uns von der unmittelbaren Ursache und den zugrundeliegenden Gründen für den Aufstand abzulenken – dem systemischen Rassismus und der zügellosen weißen Vorherrschaft, die zur Ermordung von Jacob Blake durch die Polizei und zur Ermordung von zwei Demonstrierenden durch einen rechtsextremen Bürgerwehrler führten.
Die Erzählung ist so ziemlich die gleiche, die wir vor ein paar Monaten gesehen haben, mit den Protesten als Antwort auf den Mord an George Floyd durch die Polizei, als die Medien immer wieder einen vermeintlich belastenden kurzen Clip einer jungen Frau zeigten, die durch ein zerschlagenes Schaufenster platzte und schrie: „Ich habe etwas Zeug, ich habe etwas Zeug!“
Aber dieses Video verdammt die Demonstrierenden kaum – auch nicht diejenigen, die Sachbeschädigungen anrichten. Wir sollten diesen oberflächlichen Aufrufen zu Recht und Ordnung aus Prinzip widerstehen. Ein Kernpunkt der Proteste ist gerade, dass nicht alle vor dem Gesetz gleich sind. Das geht in beide Richtungen. Abgesehen davon, dass die Illegalität an und für sich nichts über die Rechtfertigung einer Handlung aussagt, ist ein Gesetzesbruch durch und im Namen der Marginalisierten nicht dasselbe wie jeder andere Gesetzesbruch, besonders wenn dabei keine Personen geschädigt werden.
Darüber hinaus gibt es eine strukturelle Verwandtschaft zwischen Aktionen wie der humanitären Hotelbesetzung und der Plünderung durch die Demonstrierenden. Auf den ersten Blick sind das ganz andere Dinge. Das Plündern von Konsumgütern scheint weit entfernt von der Aneignung eines privaten Raumes zu sein, um die Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen, die am Rande der Gesellschaft leben. Dennoch können die beiden Aktionen – persönliche Plünderung und Besetzung zum Nutzen der Schwächsten – als Manifestationen desselben Phänomens angesehen werden: direkte Aktionen gegen ein System, das vielen Menschen konkrete Möglichkeiten eines Lebensstils strukturell vorenthält, den das System selbst als nicht nur wünschenswert, sondern als notwendig für die soziale Integration bezeichnet.
Um diesen Punkt zu verstehen, lasst uns bis Mitte April zurückblicken. Einen Monat vor den Protesten nach der Ermordung von George Floyd gab es eine weitere Welle von Demonstrationen in den USA, mit entschieden fragwürdigeren, aber nicht weniger bedeutsamen Beweggründen. Ich beziehe mich auf die Proteste gegen die COVID-19-Lockdowns. Das dominierende Thema dieser Demonstrationen war „Freiheit“ in all seinen verschiedenen Interpretationen. Manchmal waren die Slogans der Protestierenden zufällig komisch – „Wir haben ein Recht auf einen Haarschnitt!“ oder „Sagt meine Golfsaison nicht ab!“ – aber die Botschaft war klar: in unserer Gesellschaft ist man nicht frei, wenn man nicht einkaufen oder Geschäfte machen kann.
Und dieses Gerede über Freiheit ist wichtig; so sehr, dass zur gleichen Zeit viele Bürger:innen – meist Weiße und Männer – es für angebracht hielten, in die Hauptstädte der Bundesstaaten einzubrechen, um die Gouverneure daran zu erinnern, dass amerikanische „Patrioten“ bereit sind, ihre Freiheit zu verteidigen, gekleidet in eBay-gekauften Special-Forces-Kostümen und mit Sturmgewehren, die fast genauso leicht zu beschaffen sind.
Um sicher zu sein, kann man sich fragen, ob diese Freiheitsansprüche aufrichtig sind und nicht ein eigennütziges, hohles rhetorisches Instrument, oder sogar das Ergebnis einer einfachen Verwirrung über die Bedeutung von „Freiheit“. Zweifellos ist die amerikanische Kultur voll von Missverständnissen über den Begriff der Freiheit, absichtlich oder unabsichtlich. Ich erinnere mich noch an den Slogan aus einer Werbung für einen Mobilitätsroller von vor etwa zwei Jahrzehnten: „Gib den Freien die Freiheit zurück!“ hieß es, vor einem sternenbedeckten Banner-Hintergrund. Und ja, er enthielt auch einen fetten Adler.
Dennoch gibt es eine direkte Verbindung zwischen der Selbstdarstellung der Vereinigten Staaten als das „Land der Freien“ und der zentralen Rolle von Handel und Konsum in der amerikanischen Kultur. Eine Art und Weise, in der die Idee der Freiheit eine Rolle in der Erzählung spielt, die die amerikanische wirtschaftspolitische Ordnung legitimiert, hat damit zu tun, dass der Konsum ein Schlüsselvehikel sowohl für die Selbstverwirklichung als auch für die gesellschaftliche Teilhabe ist. Selbst die Anhänglichkeit der Anti-Lockdown-Protestler an Schusswaffen ist nicht so sehr eine Bekräftigung des Rechts, Waffen zu tragen, als vielmehr eine Verteidigung des Rechts auf freien Konsum, unabhängig von der potentiellen Letalität des Produkts.
In der Kulturgeschichte der USA gibt es sicherlich viele Traditionen, die dem Konsumismus feindlich gesinnt sind und sich auf andere Vorstellungen von Freiheit konzentrieren: Der Puritanismus, der Antimaterialismus der Hippies oder der bürgerliche Geist der New England Town Meetings. Studien zeigen jedoch, dass seit Mitte des 20. Jahrhunderts der Konsum zur wichtigsten Form der gesellschaftlichen Teilhabe geworden ist. Diejenigen, die nicht konsumieren, und vor allem diejenigen, die nicht konsumieren, weil sie dazu nicht in der Lage sind, sind an den Rand der Gesellschaft gedrängt – weit mehr als diejenigen, die nicht wählen, oder zumindest diejenigen, die aus freien Stücken nicht wählen, und nicht aufgrund von Bemühungen zur Unterdrückung von Wahlen.
Es ist ein kleiner Schritt zwischen diesen Überlegungen und unserem früheren Vergleich zwischen Plünderung und Besetzung zum Wohle der Schwächsten. Wir können beobachten, dass der amerikanische Traum vom „Land der Freien“ ein unerfülltes Versprechen für Millionen von Menschen bleibt, die strukturell von der Teilnahme an der Konsumgesellschaft ausgeschlossen oder zumindest in ihrer Fähigkeit zur Teilnahme stark eingeschränkt bleiben.
Die Obdachlosen und die städtischen ethnischen Minderheiten sind nur einige der offensichtlichsten Beispiele für soziale Ausgrenzung – ein Maß nicht nur für die absolute und relative Armut dieser Gruppen, sondern vor allem für ihre strukturelle Unfähigkeit, die Art von Leben zu führen, die die Gesellschaft als „normal“ betrachtet. Zu einem solchen Leben gehört ein fester Wohnsitz, aber auch die Anhäufung von Konsumgütern. Die jungen Plünderer:innen und die Besetzer:innen des Sheraton-Hotels haben einfach beschlossen, zu versuchen, ihrer sozialen Ausgrenzung durch direkte Aktionen zu begegnen – eine politische Strategie, die in den letzten Jahrzehnten ins Zentrum des Widerstands gegen den Kapitalismus zurückgekehrt ist.
Die Ereignisse der letzten Monate – von den Anti-Lockdown-Protesten bis hin zu den Plünderungen und Besetzungen im Zusammenhang mit dem Floyd-Aufstand – haben wieder einmal gezeigt, dass das Privateigentum sowohl die erste als auch die letzte Verteidigungslinie des Status Quo ist. Die Rhetorik ist bekannt: Die Anhänglichkeit eines Kindes an seinen Lieblingsteddybären ist genauso heilig wie der Griff eines alten Milliardärs nach seinen Aktien. Aber wir sollten uns vor Begriffen des Alltagsdenkens wie „Privateigentum“ oder „Plünderung“ hüten, wenn sie benutzt werden, um kategorisch aufständische Handlungen zu verurteilen, die die Legitimität des Status Quo in Frage stellen.
Das gilt besonders dann, wenn der Status Quo der Kapitalismus ist – eine Ordnung, die genau auf einer Kombination des Gewaltmonopols des Staates und des Privateigentums als Eckpfeiler der gesellschaftlichen Organisation beruht. Was der gesunde Menschenverstand zu sein scheint, ist oft eine ideologische Verzerrung zugunsten der herrschenden Mächte. Die direkte Aktion, sowohl in ihren rudimentäreren Formen als auch in den komplexen Manifestationen der präfigurativen Politik, kann uns helfen, diesen ideologischen Schleier zu zerreißen. Sie kann uns sogar helfen, das zu ändern, was gesellschaftlich wünschenswert oder möglich ist.