Sudan: Anarchist*innen gegen die Militärdiktatur

Bei landesweiten Demonstrationen gegen die Militärdiktatur, die am 25. Oktober die Macht an sich gerissen hat, setzten staatliche Kräfte vor wenigen Tagen wiederholt scharfe Munition gegen Demonstrierende ein, wobei mindestens vier Menschen getötet und viele weitere verletzt wurden. Seit dem Putsch vom 25. Oktober haben die Sicherheitskräfte Dutzende von Demonstrierenden getötet. Dennoch leistet eine starke Bewegung, die sich auf lokale Widerstandskomitees und mutige Straßendemonstrationen stützt, weiterhin Widerstand gegen die Konsolidierung der Macht unter dem Militär. Wir präsentieren das folgende Interview mit anarchistischen Teilnehmenden an den Demonstrationen in der Hoffnung, dass die Menschen außerhalb des Sudans die Situation besser verstehen können.

Via CrimethInc

Im Dezember 2018 brachen landesweit massive Proteste gegen den Diktator Omar Al-Bashir aus, der den Sudan rund drei Jahrzehnte lang regiert hatte. Al-Bashir floh im April 2019, doch die Riots, Blockaden und Sit-Ins gegen den Militärischen Übergangsrat, der die Kontrolle über die Regierung übernommen hatte, gingen weiter und eine massive Protestbesetzung hielt den Al-Qyada-Platz im Herzen der Hauptstadt Khartum besetzt. Militärische Kräfte, die mit dem Rat verbunden sind, verstärkten ihre Angriffe auf die Protestierenden, was am 3. Juni 2019 seinen Höhepunkt fand, als sie die Sitzstreiks brutal vertrieben. Ein besonders brutales Massaker verübten sie, als sie die Besetzung des Al-Qyada-Platzes angriffen.

Als Reaktion darauf kam es vom 9. bis 11. Juni in weiten Teilen des Sudans zu einem Generalstreik. Einige Vertretende der Bewegung nahmen daraufhin Verhandlungen mit dem Regime auf und schlossen ein Abkommen zur Teilung der Macht ab, in dem eine provisorische Regierung aus militärischen und zivilen Vertretenden den Übergang zu einer neuen Regierung regeln sollte. Dies wurde durch den Militärputsch vom 25. Oktober zunichte gemacht.

Der erste Teil dieses Interviews mit Anarchist*innen in Khartum, der Hauptstadt des Sudan, fand am 28. Dezember statt. Der zweite Teil wurde unmittelbar nach den landesweiten Demonstrationen vom 30. Dezember geschrieben. Du kannst mehr über die Sudanese Anarchists Gathering auf ihrer Facebook-Seite erfahren. Wir werden diesen Artikel mit weiteren Informationen aktualisieren, sobald wir erfahren, wie Menschen außerhalb des Sudans sie am besten unterstützen können.

Das Interview wurde auf Arabisch geführt und hastig übersetzt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit haben wir einige Fragen und Antworten zusammengefasst.

Interview: Sudanese Anarchists Gathering, 28. Dezember 2021

Erzählt uns zunächst etwas über eure Gruppe.

Die Gruppe wurde Ende 2020 in Khartum gegründet, nachdem wir alle Anarchist*innen in Khartum versammelt hatten. Wir sind seit der Revolution im Dezember 2018 zusammen und einige von uns kennen sich schon seit der High School und der Universität.

Wir, die Anarchist_innen von Khartum, sind Mitglieder der „Widerstandskomitees“ und wir hissen unsere Fahnen während der Demonstrationen mit dem Rest der Revolutionär*innen und wir fördern die Anarchie, indem wir Graffiti an die Wände schreiben.

Wir lehnen jede Art von Autoritarismus ab. Wir sind für Meinungsfreiheit und individuelle Autonomie.

Habt ihr irgendwelche Verbindungen zu Anarchist*innen außerhalb des Sudans?

Ihr seid die einzigen Anarchist*innen, zu denen wir Verbindungen außerhalb des Sudans haben.

Gibt es außer euch noch andere Anarchist*innen und anarchistische Gruppen? Oder gibt es, soweit euch bekannt ist, nur euch?

Es gibt noch andere Anarchist*innen im Sudan, in der Stadt Port Sudan, und wir nehmen Kontakt zu ihnen auf, damit wir uns mit ihnen zusammenschließen können und dann hoffentlich auch mit Anarchist_innen im Rest der Welt — und wenn wir uns ernsthaft bemühen, werden wir gemeinsam die Anarchie in der ganzen Welt verbreiten.

Gibt es im Sudan eine Geschichte des anarchistischen Kampfes oder ist das dort eine neuere Sache?

Der Antiautoritarismus als Idee und Praxis tauchte zum ersten Mal im Sudan während des ersten Marsches der Revolution 2018 auf. Aber die Medienberichterstattung war sehr schwach und wurde daher übersehen.

Wie haben die Menschen auf Anarchist_innen reagiert? Wie ist das Verhältnis von Anarchist_innen zu den allgemeinen Protesten und der sozialen Bewegung?

Die Menschen sind in Bezug auf die anarchistische Bewegung polarisiert, aber was für uns wichtig ist, ist, dass unsere revolutionären Mitstreitenden mit uns zusammenhalten und völlig solidarisch sind; wir sind mit ihnen zusammen in diesem Kampf, um das faschistische System zu stürzen und, organisatorisch gesehen, ein horizontales System und, wirtschaftlich gesehen, ein sozialistisches System zu schaffen. Die Forderungen der „Revolution“ sind den unseren sehr ähnlich.

Könnt ihr uns etwas über die aktuelle Situation im Sudan erzählen? Soweit wir wissen, gibt es seit mindestens 2019 Proteste, zuerst gegen [den ehemaligen Staatschef] Omar Al-Bashir und jetzt gegen die Militärjunta. Welche Formen der Unterdrückung werden derzeit von staatlichen oder anderen Kräften ausgeübt?

Die Revolution dauert schon seit Dezember 2018 an. Als die Revolution begann, wurden die Proteste von der Regierung der Muslimbruderschaft unter Omar Al-Bashir gewaltsam unterdrückt, die wir am 11. April 2019 stürzten, als wir das Hauptquartier des sudanesischen Militärs besetzten. Doch leider wurde die Besetzung später niedergeschlagen: 500 Revolutionär*innen wurden getötet und unsere Revolution wurde uns von den Befehlshabenden des Militärs und der „sanften Landung“ [1] genommen. Am 17. August 2019 haben sie (der Militärische Übergangsrat, kurz TMC für Transitional Military Council, und die Kräfte der Freiheit, kurz FCC für Forces of Freedom [2]) einem 39-monatigen Übergangsprozess zur Rückkehr zur Demokratie zugestimmt. Wir Revolutionär_innen hörten jedoch nicht auf — wir protestierten weiter gegen das Militär, in der Hoffnung, dass die Übergangsregierung zu einer echten Zivilregierung übergeht, die aus Zivilist_innen besteht und nicht aus Berufspolitiker_innen.

Und dann kam der Putsch [vom 25. Oktober 2021] und das Militär löste die Zivilregierung auf und verhaftete ihre Mitglieder.

Aber wir geben nicht auf. Seit dem Putsch haben sie 47 Revolutionär*innen ermordet und 1200 weitere verletzt, indem sie Tränengas, Blendgranaten und scharfe Munition einsetzten. Wir protestieren immer noch und wollen sie jetzt stürzen.

Wie steht ihr zu den nicht-anarchistischen Gruppen im Sudan? Arbeitet ihr mit ihnen zusammen? Wenn ihr mit ihnen zusammenarbeitet, welcher Art ist diese Zusammenarbeit?

Wir haben uns von dem „politischen Inkubator“ [3] abgetrennt, der an der Revolution teilgenommen hat, und haben mit anderen Revolutionär*innen Widerstandskomitees gebildet, die aus allen revolutionären Bewegungen bestehen; wir haben begonnen, die Revolution auf der Straße zu führen, um die Regierung zu stürzen, trotz der Gewalt, die wir von ihr erfahren. Wir stellen uns ihrer Gewalt und ihren Kugeln mit ungeschützter Brust und gewaltfreien Mitteln.

Und manchmal schießen sie mit scharfer Munition auf uns, was entweder zu Verletzungen oder zum Tod führt.

Gibt es noch etwas, das wir wissen sollten? Habt ihr irgendwelche Bitten an die internationalen anarchistischen Bewegungen?

Wir haben am Donnerstag viele Demonstrationen und Proteste geplant. Wir haben die Routen der Demonstrationen bereits mit anderen Revolutionär*innen festgelegt, bevor die Behörden das Internet blockieren; sie führen alle in Richtung des Republikanischen Palastes. Diese Demonstrationen werden mit exzessiver Gewalt beantwortet werden; es könnte sein, dass ich am Ende tot bin, denn wir Anarchist_innen sind immer an vorderster Front und organisieren die Demonstrationen auf der Straße.

Wir bitten um materielle Unterstützung. Wir geben Geld aus unseren Taschen aus und das Geld, das wir haben, deckt unsere Bedürfnisse nicht, weil die Preise im Sudan unerschwinglich geworden sind und wir als Jugend nicht genug Geld haben. Wir hoffen, dass alle Anarchist*innen auf der Welt uns unterstützen werden.

Update: 30. Dezember 2021

Zwei Tage nach dem obigen Interview, zum Abschluss der Demonstrationen am 30. Dezember, erhielten wir die folgende Nachricht von unserem Kontakt in der Sudanese Anarchists Gathering.

Wir konnten den Palast nicht erreichen. Sie hatten die Straßen mit riesigen Trockengutcontainern versperrt und die Städte Omdurman und Bahri blockiert (niemand aus diesen Städten durfte nach Khartum gelangen) und dann verübten sie Gräueltaten gegen uns in Khartum (wo der Palast steht).

Sie schossen mit scharfer Munition auf uns und verwendeten sogar eine DShK [4], die zu Verletzungen und Todesopfern führte. Sie griffen auch Journalist*innen an und stürmten die Gebäude von Al-Arabiya (einem TV-Nachrichtensender) und al Hadath (einem anderen TV-Nachrichtensender); sie hatten deren Mitarbeiter_innen verhaftet, aber bereits wieder freigelassen. Sie überfielen auch Krankenhäuser, griffen Ärzt_innen an, verhafteten sie und nahmen auch unsere verletzten Gefährt_innen fest.

Sie haben uns nicht erlaubt, die Leichen der Gefallenen mitzunehmen, um sie zu begraben. Bis jetzt haben wir nur zwei von ihnen geborgen und begraben. Wir arbeiten daran, das Gleiche für die anderen zu tun.

Unsere Handys waren nicht modern genug, um ihre Gräueltaten auf Film festzuhalten, aber einige Leute, die moderne Handys hatten, konnten einige der Gräueltaten, die sie begangen haben, festhalten.

Bisher gibt es vier Märtyrer*innen, aber es gibt viele lebensgefährlich Verletzte. Ehre für die Märtyrer_innen und Tod für das Militär und die Autorität.


[1] Im Jahr 2011 wurde der Ausdruck „sanfte Landung“ im Sudan verwendet, um den Vorschlag zu beschreiben, Omar Al-Bashir auf dem Verhandlungsweg den Übergang zur Zivilregierung anzubieten, verbunden mit einer Art Amnestie für seine Kriegsverbrechen. Seitdem wird der Begriff verwendet, um ein vorgeschlagenes Bündnis zwischen dem Regime und der Opposition zu beschreiben, bei dem letztere im Gegenzug für die Teilung der Macht nicht mehr versuchen würde, das Regime zu stürzen, und um die Unterwerfung unter die US-Politik und den Status quo im Allgemeinen zu beschreiben.

[2] Die Kräfte der Freiheit und des Wandels (Forces of Freedom and Change, FCC) sind ein Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Gruppen und politischer Parteien, die Proteste organisiert haben. Sie war Teil der Verhandlungen mit dem Militärischen Übergangsrat (Transitional Military Council, TMC) über die Rückkehr zu einer zivilen Regierung.

[3] Grob übersetzt beschreibt der Begriff „politischer Inkubator“ die Rolle, die die Übergangsregierung im Sudan spielen sollte.

[4] Die DShK ist ein schweres Maschinengewehr aus der Sowjetära.