Der nachfolgende Beitrag ist eines von 85 Artikeln aus dem Buch Schwarze Saat – Gesammelte Schriften zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus.
Anmerkung: Im Buch befinden sich völlig unterschiedliche, und teils widersprechende, Positionen. Es werden hier alle Beiträge veröffentlicht, auch solche, deren Positionen wir nicht teilen.
Anarchismus, Gewalt und Autorität
Lorenzo Kom’boa Ervin
Eine der größten Lügen über Anarchist*innen ist, dass sie hirnlose Bombenwerfende, Halsabschneider*innen und Attentäter*innen sind. Die Menschen verbreiten diese Lügen aus ihren eigenen Gründen: Regierungen, weil sie Angst haben, von der sozialen Revolution gestürzt zu werden; Marxist-Leninist*innen, weil es sich um eine konkurrierende Ideologie mit einem völlig anderen Konzept von sozialer Organisation und revolutionärem Kampf handelt; und die Kirche, weil der Anarchismus nicht an Götter glaubt und sein Rationalismus die Arbeiter*innen vom Aberglauben abbringen könnte. Es ist wahr, dass diese Lügen und Propaganda viele Menschen beeinflussen können, vor allem weil sie nie die andere Seite hören. Anarchist*innen bekommen eine schlechte Presse und werden zum Sündenbock eines jeden Politikers, ob rechts oder links.
Denn eine anarchistische Revolution ist eine soziale Revolution, die nicht nur eine ausbeutende Klasse für eine andere abschafft, sondern alle Ausbeutenden und das Instrument der Ausbeutung, den Staat. Weil sie eine Revolution für die Macht des Volkes ist, statt für die politische Macht; weil sie sowohl die Geld- als auch die Lohnsklaverei abschafft; weil Anarchist*innen auf totale Freiheit abzielen, statt auf Politiker*innen, die die Massen im Parlament, im Kongress oder in der Kommunistischen Partei vertreten; weil Anarchist*innen für die Selbstverwaltung der Industrie durch die Arbeiter*innen sind, statt für staatliche Regulierung; weil Anarchist*innen für volle sexuelle, raciale, kulturelle und intellektuelle Vielfalt sind, statt für sexuellen Chauvinismus, kulturelle Unterdrückung, Zensur und raciale Unterdrückung; mussten Lügen erzählt werden, dass die Anarchist*innen Mörder*innen, Vergewaltiger*innen, Räuber*innen, verrückte Bombenlegende, widerwärtige Elemente, die Schlimmsten der Schlimmen sind.
Aber schauen wir uns die reale Welt an und sehen, wer all diese Gewalt und Unterdrückung der Menschenrechte verursacht. Das massenhafte Morden durch stehende Heere im Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Plünderung und Vergewaltigung ehemaliger Kolonialländer, militärische Invasionen oder sogenannte „Polizeieinsätze“ in Korea und Vietnam — all das wurde von Regierungen gemacht. Es ist die Regierung und die Staats-/Klassenherrschaft, die die Quelle aller Gewalt ist. Dies schließt alle Regierungen ein. Die sogenannte „kommunistische“ Welt ist nicht kommunistisch und die „freie“ Welt ist nicht frei. Ost und West, der Kapitalismus, ob privat oder staatlich, bleibt eine unmenschliche Gesellschaftsform, in der die große Mehrheit bei der Arbeit, zu Hause und in der Gemeinschaft beherrscht wird. Propaganda (Nachrichten und Literatur), Polizei und Militär, Gefängnisse und Schulen, traditionelle Werte und Moral dienen alle dazu, die Macht der Wenigen zu stärken und die Vielen zu überzeugen, ein brutales, entwürdigendes und irrationales System passiv zu akzeptieren. Das ist es, was Anarchist*innen damit meinen, dass Autorität Unterdrückung ist, und es ist genau solch eine autoritäre Herrschaft, die in den Vereinigten Staaten von Amerika am Werk ist, ebenso wie in den „kommunistischen“ Regierungen von China oder Kuba.
„Was ist das, was wir Regierung nennen? Ist es etwas anderes als organisierte Gewalt? Das Gesetz befiehlt dir zu gehorchen, und wenn du nicht gehorchst, zwingt es dich mit Gewalt — alle Regierungen, alles Recht und alle Autorität beruhen schließlich auf Zwang und Gewalt, auf Strafe oder Angst vor Strafe. “ –Alexander Berkman
Es gibt Revolutionär*innen, darunter viele Anarchist*innen, die den bewaffneten Umsturz des kapitalistischen Staates befürworten. Sie befürworten oder praktizieren keinen Massenmord, wie die Regierungen der modernen Welt mit ihren Vorräten an Atombomben, Giftgas und Chemiewaffen, riesigen Luftwaffen, Marinen und Armeen, die sich gegenseitig feindlich gegenüberstehen. Es waren nicht die Anarchist*innen, die zwei Weltkriege provoziert haben, in denen über 100 Millionen Menschen abgeschlachtet wurden; es waren auch nicht die Anarchist*innen, die die Völker von Korea, Panama, Somalia, Irak, Indonesien und anderen Ländern, die imperialistischen Militärangriffen ausgesetzt waren, überfallen und abgeschlachtet haben. Es waren auch nicht die Anarchist*innen, die Armeen von Spionen in die ganze Welt geschickt haben, um zu morden, zu korrumpieren, zu unterwandern, zu stürzen und sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, wie die CIA, der KGB, der MI6 oder andere nationale Spionageagenturen, oder sie als Geheimpolizei zu benutzen, um die heimischen Regierungen in verschiedenen Ländern zu stützen, egal wie repressiv und unpopulär das Regime ist. Außerdem, wenn deine Regierung dich zu einem Cop oder Soldat*in macht, tötest und unterdrückst du Menschen im Namen der „Freiheit“ oder „Recht und Ordnung“.
„Du stellst das Recht der Regierung nicht in Frage, zu töten, zu konfiszieren und zu inhaftieren. Wenn eine Privatperson sich der Dinge schuldig machen würde, die die Regierung ständig tut, würdest du sie als Mörder*in, Dieb*in und Schurk*in brandmarken. Solange die ausgeübte Gewalt „rechtmäßig“ ist, billigst du sie und unterwirfst dich ihr. Es ist also nicht die wirkliche Gewalt, die du ablehnst, sondern die Menschen, die rechtswidrig Gewalt anwenden.“ –Alexander Berkman
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass jede Person an Gewalt glaubt und sie ausübt, wie sehr man sie auch bei anderen verurteilen mag. Entweder tun sie es selbst oder sie lassen es die Polizei oder die Armee in ihrem Namen als Agenten des Staates tun. Tatsächlich basieren alle Regierungsinstitutionen, die wir gegenwärtig unterstützen, und das gesamte Leben der heutigen Gesellschaft, auf Gewalt. In der Tat ist Amerika das gewalttätigste Land der Welt. Die Vereinigten Staaten gehen in der ganzen Welt umher und begehen Gewalt, sie ermorden Staatsoberhäupter, stürzen Regierungen, schlachten Zivilist*innen zu Hunderttausenden ab und machen aus gefangenen Nationen ein Gefängnis, wie sie es zur Zeit im Irak und in Somalia tun. Von uns wird erwartet, dass wir uns diesen Verbrechen der Eroberung passiv unterwerfen, das ist das Kennzeichen guter Bürger*innen.
Anarchist*innen haben kein Monopol der Gewalt, und wenn sie in sogenannten „Propaganda der Tat“-Angriffen eingesetzt wurde, dann eher gegen Tyrannen und Diktatoren, als gegen das einfache Volk. Diese individuellen Vergeltungsmaßnahmen — Bombenanschläge, Attentate, Sabotage — waren Bemühungen, die Machthabenden persönlich für ihre ungerechten Handlungen und repressive Autorität verantwortlich zu machen. Aber tatsächlich haben Anarchist*innen, Sozialist*innen, Kommunist*innen und andere Revolutionär*innen, sowie Patriot*innen und Nationalist*innen und sogar Reaktionäre und Rassist*innen wie der Ku Klux Klan oder Nazis aus den unterschiedlichsten Gründen Gewalt angewendet. Wer hätte sich nicht gefreut, wenn ein Diktator wie Hitler von Attentäter*innen ermordet worden wäre und der Welt damit ein racialer Genozid und der Zweite Weltkrieg erspart geblieben wäre? Außerdem sind alle Revolutionen gewaltsam, weil die unterdrückende Klasse ihre Macht und Privilegien nicht ohne einen blutigen Kampf aufgeben wird. Wir haben also sowieso keine Wahl.
Im Grunde genommen würden wir uns alle dafür entscheiden, Pazifist*innen zu sein. Und wie Dr. Martin Luther King Jr. riet, würden wir unsere Differenzen lieber mit Verständnis, Liebe und moralischen Überlegungen lösen. Wir werden diese Lösungen zuerst versuchen, wann immer es möglich ist. In dem Wahnsinn, der herrscht, erkennt unsere Bewegung jedoch den Nutzen der Bereitschaft an. Es ist eine zu gefährliche Welt, um nicht zu wissen, wie wir uns verteidigen können, damit wir unsere revolutionäre Arbeit fortsetzen können. Sich mit einer Waffe und ihrem Gebrauch vertraut zu machen, bedeutet nicht, dass man sofort losziehen und diese Waffe benutzen muss, aber dass man sie, wenn man sie benutzen muss, auch gut benutzen kann. Wir sind gezwungen anzuerkennen, dass die amerikanischen progressiven und radikalen Bewegungen zu pazifistisch waren, um wirklich effektiv zu sein. Wir erkennen auch, dass offene Gruppen, die kooperative Veränderungen vorschlugen und im Grunde gewaltfrei waren, wie die IWW, von der Regierung gewaltsam zerschlagen wurden und schließlich haben wir das unglückliche Beispiel von Dr. King, Jr. selbst, der 1968 von einer Verschwörung von Agenten des Staates, höchstwahrscheinlich des FBI, ermordet wurde.
Verstehe, dass je mehr wir mit unserer Arbeit Erfolg haben, desto gefährlicher wird unsere Situation werden, weil wir dann als Bedrohung für den Staat erkannt werden. Und — zweifle nicht daran — die Insurrektion wird kommen. Ein Aufstand, der den Staat destabilisieren wird. Wir sprechen also von einem spontanen, lang anhaltenden Aufstand der großen Mehrheit des Volkes und der Notwendigkeit, unsere soziale Revolution zu verteidigen. Obwohl wir die Bedeutung von defensiver paramilitärischer Gewalt und sogar städtischen Guerillaangriffen anerkennen, sind wir nicht auf den Krieg angewiesen, um unsere Befreiung zu erreichen, denn unser Kampf kann nicht allein durch die Kraft der Waffen gewonnen werden. Nein, das Volk muss vorher mit Verständnis und Zustimmung zu unseren Zielen, sowie Vertrauen und Liebe zur Revolution bewaffnet werden, und unsere militärischen Waffen sind nur ein Ausdruck unseres organischen Geistes und unserer Solidarität. Vollkommene Liebe für das Volk, vollkommener Hass für den Feind.
Die Regierungen der Welt wenden einen Großteil ihrer Gewalt an, um jeden Versuch, den Staat zu stürzen, zu unterdrücken. Verbrechen der Unterdrückung gegen das Volk haben in der Regel die Machthabenden begünstigt, besonders wenn die Regierung mächtig ist. Schau, was in den Vereinigten Staaten geschah, als die Schwarze Revolution der 1960er Jahre unterdrückt wurde. Viele, die gegen die Ungerechtigkeit protestierten, wurden inhaftiert, ermordet, verletzt oder auf die schwarze Liste gesetzt — all das wurde von den Geheimdiensten des Staates eingerichtet. Die Bewegung wurde in der Folge jahrzehntelang niedergeschlagen. Wir können uns also nicht allein auf Massenmobilisierungen verlassen oder nur Untergrundoffensiven durchführen, wenn wir den Staat und seine Repression besiegen wollen: Es muss ein Mittelweg zwischen beidem gefunden werden. Für die Zukunft wird unsere Arbeit die Entwicklung von kollektiven Selbstverteidigungstechniken beinhalten, sowie die Arbeit im Untergrund, während wir auf die soziale Revolution hinarbeiten.