Der nachfolgende Beitrag ist eines von 85 Artikeln aus dem Buch Schwarze Saat – Gesammelte Schriften zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus.
Anmerkung: Im Buch befinden sich völlig unterschiedliche, und teils widersprechende, Positionen. Es werden hier alle Beiträge veröffentlicht, auch solche, deren Positionen wir nicht teilen.
Das unvergessliche Leben des Gefängnisrebellen Martin Sostre
William C. Anderson
„Die Last einer langen Haftstrafe würde durch die Genugtuung erleichtert, zu wissen, dass die mir gestellte Aufgabe, meinem Volk zu helfen, sich von ihren Unterdrückenden zu befreien, erfüllt wird.“ — Martin Sostre
Malcolm X sagte einmal: „Wir haben nur unter Amerikas Heuchelei gelitten … Wenn du ins Gefängnis gehst, na und? Wenn du Schwarz bist, wurdest du im Gefängnis geboren.“ Für Schwarze in den Vereinigten Staaten ist diese Aussage heute noch genauso wahr wie damals. Es ist die gelebte Erfahrung unzähliger Schwarzer Menschen über Generationen hinweg, aber manchmal lassen sich unzählige Leben in einem einzigen Bericht zusammenfassen, der die unterdrückende Realität in allen Einzelheiten zeigt. Das Leben des großen intellektuellen, inhaftierten Rechtsgelehrten und revolutionären Organisators Martin Sostre war genau das.
Obwohl sein Einfluss auf den Gefängniskampf so groß ist wie der von anderen Schwarzen Radikalen wie George Jackson, Angela Davis und Mumia Abu Jamal, ist Sostre heute nicht mehr vielen bekannt. Sostre verstarb am 12. August 2015. Seine Geschichte muss erzählt werden, denn ohne ihn wäre die Welt nicht so, wie wir sie heute kennen.
Vom Gefängnisrebellen zum Gemeinschaftspädagogen
Martin Sostre wurde 1923 in Harlem geboren und wuchs während der Großen Depression auf. Schon früh wurde er von Schwarzen Redner*innen, Denker*innen und Aktivist*innen rund um den African National Memorial Bookstore in der 125th Street inspiriert. Aber Sostre erhielt auch eine andere Art von Bildung, nämlich Unterricht in dem, was er später als „die Methoden der Straße“ bezeichnete, die vieles von dem vorwegnehmen sollten, was noch kommen sollte. Er trat zunächst in die Armee ein, wurde aber nach mehreren Zusammenstößen mit dem Gesetz „unehrenhaft“ entlassen. 1952 wurde Sostre wegen Drogenbesitzes verhaftet und zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt.
Dies war der Beginn einer jahrzehntelangen Reise, die ihn durch schreckliche Einrichtungen wie das Sing-Sing-Gefängnis, das Clinton-Gefängnis und das berüchtigte Attica-Gefängnis führte und schließlich die eingeschränkten gesetzlichen Rechte, die inhaftierten Menschen garantiert werden sollten, neu formte.
Im Gefängnis schloss sich Sostre zunächst der Nation of Islam an, angezogen von ihren Schwarzen nationalistischen Elementen. Als die Gefängnisbehörden versuchten, ihm das Recht zu nehmen, seine Überzeugungen zu äußern, und Sostre in Einzelhaft steckten, nachdem sie ihn beschuldigt hatten, er habe versucht, Dissens zu erregen, studierte er als Autodidakt Jura und beteiligte sich an einem erfolgreichen Rechtsstreit gegen die Unterdrückung seiner Überzeugungen durch die Behörden.
In einem Brief aus dem Gefängnis schreibt er: „Obwohl der Kampf eines Schwarzen Highschool-Abbrechers, der als sein eigener Anwalt gegen die massive Zwangsgewalt dieses Staates agiert, manchen wie ein aussichtsloser Kampf erscheinen mag, habe ich keinen Zweifel daran, dass meine Unterdrücker*innen letztendlich besiegt werden.“ In vielerlei Hinsicht waren seine juristischen Kämpfe ein Präzedenzfall, und Sostre stand erst am Anfang einer Reihe strategischer Herausforderungen, die beträchtliche und historische Fortschritte für Menschen im Gefängnis bringen sollten.
Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis im Jahr 1964 eröffnete Sostre den Afro-Asian Bookstore in Buffalo, New York. Nachdem er im Gefängnis selbst eine politische Veränderung durchgemacht hatte, verglich Sostre seine Reise mit der von Malcolm X. Als er jedoch die Black-Power-Politik der Jugend draußen beobachtete, trennte sich Sostre von der Nation Of Islam. Sein Buchladen wurde zu einem Ort, an dem er den Widerstand für eine ganze Gemeinschaft kultivierte. Er verkaufte radikale Bücher zu Themen wie Schwarzer Nationalismus und Kommunismus.
Unter den Gemeindemitgliedern, die seinen Laden als Ort des Lernens und der Gemeinschaft nutzten, wurde er als Lehrer anerkannt. Damit geriet er in Konflikt mit der Polizei von Buffalo, die Sostre wegen seines Handelns bedrohte. Er politisierte die Schwarze Jugend zu einer Zeit, als der Staat sich zunehmend Sorgen machte und Befürwortende des antikapitalistischen Schwarzen Empowerments in den ganzen Vereinigten Staaten überwachte.
„Trotzt der weißen Autorität!“
Während des langen, heißen Sommers von 1967 kam es überall im Land zu Aufständen von Schwarzen. Die Rebellionen waren eine Reaktion auf die vielen Erscheinungsformen des institutionellen Rassismus wie Arbeitslosigkeit, Wohnungsdiskriminierung und Polizeigewalt. Die Kämpfe auf den Straßen waren eine direkte Herausforderung an die rassistische Staatsgewalt. Zu dieser Zeit sprach auch der Polizeichef von Miami die berüchtigte Drohung aus: „Wenn die Plünderung beginnt, wird auch geschossen.“
Als die Revolte in Buffalo ausbrach, war Sostre zur Stelle und tat das, was er am besten konnte: Er unterrichtete, verteilte radikale Literatur an die Schwarze Gemeinschaft — vor allem an junge Menschen — und vermittelte Zusammenhänge. Sostre organisierte sich durch Bildung und unterstützte den Aufstand mit den Methoden, die er in seiner Jugend in Harlem von den Redner*innen, Lehrpersonen und Straßenkämpfenden gelernt hatte. Sein Buchladen wurde zum sicheren Hafen, in dem die Menschen dem Tränengas und der Polizeigewalt entkommen konnten. Er unterrichtete und verteilte Befreiungsliteratur an die Menschen, die sich in seinem Laden versteckten, den die Behörden als Bedrohung ansahen. Der Laden blieb bis weit in die Nacht hinein geöffnet und gut besucht, während die Menschen gegen die Polizei rebellierten.
Schließlich entschlossen sich die Behörden, mit dem aufsässigen Sostre fertig zu werden, indem sie seinen Laden stürmten und durchwühlten. Er und Geraldine Robinson (seine Mitangeklagte) wurden wegen Betäubungsmitteln und Anstiftung zum Aufruhr inhaftiert. Nachdem der Aufstand in Buffalo abgeklungen war, wurde er von einer ausschließlich weißen Jury zu 31 bis 41 Jahren Gefängnis verurteilt. Sostre wurde vor Gericht geknebelt, ließ sich aber von dem, wie er es nannte, „törichten“ Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen, nicht beeindrucken.
Später schrieb er, dass er im Gerichtssaal „die Schwäche dieser faschistischen Bestie“ demonstrierte und ermutigte Schwarze, sich anzusehen, was er dem Unterdrücker antat. Sostre versprach, konsequent auf Konfrontationskurs zu gehen, und aus dem Gefängnis heraus ermutigte er Schwarze dazu, „der weißen Autorität zu trotzen“ und durch sein Handeln ein Zeichen zu setzen.
Er beteuerte seine Unschuld und unterscheidet in dem Dokumentarfilm Frame-Up! von 1974 „zwischen einem politischen Gefangenen im klassischen Sinne und einem politisierten Gefangenen.“ Er stuft sich selbst als letzteren ein, als jemanden, „der im Gefängnis ein politisches Bewusstsein entwickelt hat, obwohl das ursprüngliche Verbrechen, das er begangen hat, kein politisches Verbrechen war.“
Martin hat auch einen Prozess über die Zensur von Literatur im Gefängnis gewonnen. Er erinnerte sich daran, dass er so hart dafür gekämpft hatte, dass es im Gefängnis mehr politische Literatur gab als je zuvor. Während seiner Inhaftierung leistete er weiterhin die politische Bildungsarbeit, die er zuvor in der Gemeinde geleistet hatte. Er hat vor Gericht mehrere Siege für die Rechte der Gefangenen errungen, von politischen und religiösen Freiheiten bis hin zur Einschränkung der Isolationshaft. Er selbst war der Folter der Einzelhaft ausgesetzt und war Einschüchterungen ausgesetzt — alles wegen seiner Arbeit. Aber Sostre blieb seiner Sache treu.
Einführung in den Anarchismus
Sostre war ein scharfer Kritiker von Führung, Autorität und Imperialismus. Er war ein erbitterter Gegner des Imperiums und identifizierte sich mit den antiimperialistischen Bemühungen. In einem Brief aus dem Gefängnis von 1967 schreibt Sostre: „Ich werde mich niemals unterwerfen. Der Einsatz der massiven Zwangsgewalt des Staates reicht nicht aus, um mich zum Aufgeben zu bringen; ich bin wie ein Vietcong — ein Schwarzer Vietcong.“ Weiter sagt er, dass der vietnamesische Kampf gegen den Imperialismus ein Beispiel sei, dem er nacheifern wolle. Er bringt den weltweiten Kampf gegen den US-Imperialismus immer wieder mit dem Kampf für die Befreiung der Schwarzen in Verbindung.
Er besteht darauf, dass „wir die faschistischen Unterdrücker*innen nur besiegen können, wenn wir ihre Lügen und Taten auf der Straße, im Gerichtssaal und auf dem Schlachtfeld herausfordern und ihnen entgegentreten.“ In einem anderen Brief aus demselben Jahr erklärt er, dass eines der ersten Dinge, die er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis tun wird, die Gründung eines „Verteidigungsfonds“ ist, denn niemand sollte inhaftiert werden müssen, „weil die Kaution nicht bezahlt werden konnte.“ In einem anderen Brief aus dem Jahr 1968 kritisiert er sogar Razzien ohne Durchsuchungsbefehl und „stop-and-frisk“ [1] als Anzeichen für eine bevorstehende Machtübernahme der Rechten. Sostre war seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus.
1971 widerrief der Haupt“zeuge“ gegen Sostre seine Aussage und gab zu, dass er geholfen hatte, Sostre zu belasten, damit er selbst aus dem Gefängnis entlassen werden konnte. Dies geschah zusätzlich zu einer landesweiten Kampagne für die Freiheit von Sostre, der inzwischen ein bekannter inhaftierter Radikaler geworden war und schließlich aus der Einzelhaft entlassen werden sollte. Dies geschah auf Anordnung der US-Bezirksrichterin Constance Baker Motley, die als erste Schwarze Frau in das Bundesgericht berufen wurde. Sie sprach ihm auch Schadensersatz zu und er wurde schließlich begnadigt, nachdem er durch eine Kampagne für seine Freiheit bekannt geworden war.
Sostres unermesslicher Beitrag hatte auch einen großen Einfluss auf das Leben und Denken des Schwarzen Anarchisten Lorenzo Kom’boa Ervin. Es war Sostre, der das ehemalige Mitglied der Black Panther Party mit dem Anarchismus vertraut machte, nachdem sie sich in einem Bundesgefängnis kennengelernt hatten. Lorenzo war zu lebenslanger Haft verurteilt worden, nachdem er auf der Flucht vor Waffenbesitz in den USA ein Flugzeug nach Kuba entführt hatte. Ervin war nach seiner Zeit auf Kuba, in der Tschechoslowakei und in Ostdeutschland desillusioniert. Er erinnerte sich an sein Leben im „sowjetischen Sozialismus“ als „elitär, autoritär und unterdrückerisch“. Außerdem argumentierte er, dass der marxistisch-leninistische Maoismus „dazu beigetragen hat, die Neue Linke der 1960er Jahre und den radikalen Flügel der Black-Power-Bewegung mit Personenkult, Mittelklasse-Snobismus, Manipulation und Opportunismus zu zerstören.“
„Martin Sostre machte mich mit einem neuen Wort bekannt: ‚Anarchistischer Sozialismus.‘ Damals hatte ich keine Ahnung, wovon er sprach … Er erklärte mir den „selbstverwalteten Sozialismus“, den er als frei von staatlicher Bürokratie, jeder Art von Partei- oder Führungsdiktatur beschrieb. Fast jeden Tag erzählte er mir von „direkter Demokratie“, „Kommunitarismus“, „radikaler Autonomie“, „Generalversammlungen“ und anderen Dingen, von denen ich nichts wusste. Also hörte ich stundenlang zu, während er mich unterrichtete.“ — Lorenzo Kom’boa Ervin
Lorenzo konzentrierte sich auf Black Autonomy, seine eigenen Prozesse im Gefängnis und seine „Free Lorenzo“-Kampagne, die mit Hilfe von Sostres Anweisungen hin zu seiner Freiheit führte. Durch Lorenzo inspirierte Sostre indirekt eine neue Generation von Schwarzen Anarchist*innen (mich eingeschlossen).
Ohne Martin Sostre wäre ein Großteil der wichtigen Arbeit von politischen Gefangenen, politisierten Gefangenen und Gefängnisbewegungen, wie wir sie heute kennen, nicht möglich gewesen. Durch seine Bemühungen wurden den Menschen im Gefängnis neue Rechte zugestanden, die für viele vorher nicht vorstellbar waren.
Sostre hat uns den Weg gezeigt
Martins Leben zeigt uns, dass wir uns für die Abschaffung des Gefängnisses einsetzen sollten, egal ob es sich um ein Gebäude oder den Staat selbst handelt. Gefängnisse sind ein Instrument der Gewalt, das der Staat einsetzt, um uns zu unterdrücken, aber der größere Apparat, den wir als Staat kennen, ist genauso wenig zu retten wie die Polizei, die Gerichte oder irgendein Teil der Prozesse, die uns in eine Zelle führen. Auch wenn Martin Sostre das Rechtssystem gegen seine Entführenden einsetzen konnte, ist es deshalb nicht weniger tödlich. Sie hätten ihm viel mehr Schaden zugefügt, wenn sie es gekonnt hätten, aber so kam es nicht dazu.
Was bedeutet es, ein Leben wie das von Martin Sostre zu führen und dabei weitgehend unbemerkt zu bleiben? Es entlarvt die nackte Wahrheit einer Gesellschaft, die sowohl die Menschen als auch die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, ausblenden. Unter albtraumhaften Bedingungen, in denen unverzichtbare Geschichte am Rande verschwindet, sind Happy Ends schwer zu finden. Das, was jemand, der sein Leben wie Martin Sostre lebt, der Sicherheit am nächsten kommt, ist ein hoffentlich ruhiges, bescheidenes Leben.
Doch Jahrzehnte der Folter und des Leids sollten nicht das Vorwort für eine unserer Geschichten sein. Wir feiern die hart erkämpften Siege von Sostre, als er noch in den Schützengräben eines nicht gewonnenen Krieges stand. Er ließ sich auch dann nicht von seinem Engagement abbringen, als viele sich anders entschieden hätten. Er lebte ein Leben, in dem er sich für den Abbau von Teilen des Gefängnissystems einsetzte, auch wenn er selbst in einem Käfig saß.
Wir werden alle auf die eine oder andere Weise sterben, aber wir sollten hoffen, dass wir ein Stück des Staates mitnehmen können, bis er vollständig beseitigt ist. Martin Sostre hat uns den Weg gezeigt.
[1] polizeiliche Kontrollmaßnahmen, bei der Verdächtige angehalten und durchsucht wird