Der nachfolgende Beitrag ist eines von 85 Artikeln aus dem Buch Schwarze Saat – Gesammelte Schriften zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus.
Anmerkung: Im Buch befinden sich völlig unterschiedliche, und teils widersprechende, Positionen. Es werden hier alle Beiträge veröffentlicht, auch solche, deren Positionen wir nicht teilen.
Afrikanischer Anarchismus: Ein Interview mit Sam Mbah
African Anarchism: The History of a Movement von Sam Mbah und I.E. Igariwey ist die erste buchfüllende Abhandlung über Anarchismus und Afrika. Die Autoren argumentieren, dass der Anarchismus einen kohärenten Rahmen bietet, um die vielfältigen Krisen, die den Kontinent heimsuchen, zu verstehen und darauf zu reagieren. Ich traf mich mit Mbah am 4. November 1998 zu Beginn seiner nordamerikanischen Vortragsreise.
Interviewer: Du sagst, dass „die allgemeine Tendenz in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in Richtung sozialer Gleichheit und größerer individueller Freiheit geht.“ Teilst du die Überzeugung von Marx, dass der Kapitalismus eine fortschrittliche Entwicklung in der Weltgeschichte ist und eine notwendige Vorbedindung für angemessenere Gesellschaftsformen?
Sam: Die marxistische Position ist nicht ganz richtig. Der Kapitalismus war in seiner eigenen Epoche eine fortschrittliche Entwicklung: Er lieferte die Grundlage für die Radikalisierung der Arbeiter*innenklasse, die im Feudalismus nicht möglich war, was definitiv ein Schritt vorwärts war. Auf dieser Grundlage intensivierte sich der Kampf gegen den Kapitalismus und das Staatssystem. Ich denke jedoch nicht, dass jedes Land oder jede Gesellschaft diesen Prozess durchlaufen muss oder dass der Kapitalismus eine Vorbedindung für menschlichen Fortschritt oder Entwicklung ist. Ich glaube auch nicht, dass die menschliche Geschichte vorhersehbar ist oder an Abläufe gebunden werden kann, die von Historiker*innen und Schriftsteller*innen entwickelt wurden. Ich glaube, dass die Fähigkeit der einfachen Menschen in einer gegebenen Gesellschaft so groß ist, dass sie sie fast dazu treiben kann, das Schicksal zu jedem Zeitpunkt in die eigenen Hände zu nehmen. Es muss nicht warten, bis die kapitalistische Entwicklung Wurzeln geschlagen hat oder sich die Arbeiter*innenklasse gebildet hat. Auch die Bäuer*innenschaft zum Beispiel kann ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, wenn ihr Bewusstsein auf eine bestimmte Stufe gehoben wird. Ich glaube nicht an die Aufteilung der Geschichte in Etappen: Ich glaube an die Fähigkeit des einfachen Volkes, zu jedem Zeitpunkt aus eigener Kraft zu kämpfen und sich zu befreien.
Interviewer: Dein Buch basiert auf dem Anarcho-Syndikalismus, einer Tradition, die vor allem aus europäischen historischen Erfahrungen stammt. Welche besonderen Beiträge kann die afrikanische Erfahrung für den Anarchismus als Ganzes leisten?
Sam: Wir haben versucht, dies in unserem Buch zu verdeutlichen. Obwohl der Anarchismus ohne die westeuropäischen Beiträge nicht vollständig ist, glauben wir, dass es Elemente der traditionellen afrikanischen Gesellschaften gibt, die bei der Ausarbeitung anarchistischer Ideen hilfreich sein können. Eines davon ist die Selbsthilfe, die gegenseitige Hilfe oder die kooperative Tradition, die in der afrikanischen Gesellschaft vorherrscht. Diese Gesellschaft ist so strukturiert, dass es einen reduzierten Individualismus und eine kollektive Herangehensweise gibt, um Probleme zu lösen und das Leben zu leben: Auf das Wesentliche reduziert, denke ich, ist es das, was der Anarchismus predigt.
Afrikanische traditionelle Gesellschaften bieten auch einige Dinge, von denen wir lernen sollten. Zum Beispiel war die Führung — vor allem in Gesellschaften, in denen sich kein Feudalismus (und damit keine Häuptlingstümer) entwickelt hat — horizontal und diffus, nicht vertikal. Fast jede Person in einer bestimmten Gemeinschaft oder einem Dorf nahm an der Entscheidungsfindung teil und hatte ein Mitspracherecht bei allem, was sie betraf. Selbst die Ältesten würden normalerweise keinen Krieg gegen das nächste Dorf erklären, es sei denn, es gäbe einen Konsens, der wirklich die verbindliche Kraft der afrikanischen Gesellschaft war. Auch das System der Großfamilie, in dem dein Neffe bei dir und deiner Frau leben konnte, ist definitiv etwas, das wir dem Anarchismus empfehlen. Dies sind also Bereiche, in denen wir denken, dass afrikanische Ideen auch in den Anarchismus einfließen könnten. Diese Ideen sind beständig, fast in der menschlichen Natur, soweit es Afrika betrifft.
Interviewer: Die Unfähigkeit, eine kohärente Kritik des Staates und des Kapitalismus mit einer Kritik des Rassismus zu verbinden, hat dem Anarchismus einen enormen Tribut abverlangt. In welchem Sinne muss eine Analyse von Rassismus und weißer Vorherrschaft eine Klassenanalyse ergänzen?
Sam: Das kapitalistische System, das wir geerbt haben, lebt von der Ausbeutung der Arbeiter*innen und anderer nicht-dominanter Klassen und nutzt auch raciale Unterschiede aus. Es hat eine permanente raciale Dichotomie unter den Arbeiter*innen eingerichtet, in der es eine Gruppe von privilegierten Arbeiter*innen und eine andere, nicht so privilegierte Gruppe gibt. Es gibt eine doppelte Ausbeutung: eine Ausbeutung der Arbeiter*innenklasse im Allgemeinen und eine noch größere Ausbeutung der nicht-weißen Arbeiter*innenklasse. Dies wurde selbst vom Marxismus nicht richtig angesprochen, weil er von einer Einheit der Interessen der Arbeiter*innenklasse ausging, ohne auf die spezifischen Arten der Ausbeutung und Benachteiligung der Arbeiter*innen einzugehen.
Rassismus ist ein Schlüsselfaktor in dieser Welt und jede Analyse der Arbeiter*innenklasse, die versucht, dies zu leugnen, ist nur realitätsfern. Rassismus ist im Kapitalismus einfach endemisch.
Es liegt an den Arbeiter*innen, dies zu begreifen, als Grundlage für die Einheit in ihren eigenen Reihen und um voranzukommen. Dies muss von anarchistischen Aktivist*innen und sozialen Bewegungen erkannt werden, um Schwarze und Weiße zu integrieren, damit sie einem gemeinsamen Feind gegenüberstehen, der der Kapitalismus und die von ihm geschaffenen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse sind.