Der nachfolgende Beitrag ist eines von 85 Artikeln aus dem Buch Schwarze Saat – Gesammelte Schriften zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus.
Anmerkung: Im Buch befinden sich völlig unterschiedliche, und teils widersprechende, Positionen. Es werden hier alle Beiträge veröffentlicht, auch solche, deren Positionen wir nicht teilen.
Der Mythos des „umgekehrten Rassismus“
Lorenzo Kom’boa Ervin
„Umgekehrte Diskriminierung“ ist zum Schlachtruf all jener Rassist*innen geworden, die versuchen, die Errungenschaften der Bürger*innenrechte, die Schwarze und andere unterdrückte Nationalitäten in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeit und in jedem Aspekt des sozialen Lebens errungen haben, zurückzudrängen. Die Rassist*innen haben das Gefühl, dass diese Dinge nur weißen Männern zustehen sollten und dass „Minderheiten“ und Frauen sie den weißen Männern wegnehmen. Millionen von weißen Arbeiter*innen werden tagtäglich mit dieser rassistischen Propaganda bombardiert, und sie hat große Auswirkungen. Viele Weiße glauben an diese Lüge der umgekehrten Diskriminierung von Weißen. Dieser Glaube wird von vielen weißen Arbeiter*innen angenommen, die die „umgekehrte Diskriminierung“ zumindest teilweise für die wirtschaftlichen Probleme verantwortlich machen, unter denen so viele von ihnen heute leiden. Solche Überzeugungen trieben Ronald Reagan zu seinen zwei Amtszeiten als US-Präsident. Reagan versuchte, diese rassistische Propagandalinie zu nutzen, um die Errungenschaften der Bürger*innenrechte der unterdrückten Nationalitäten zurückzudrängen.
Die Rassist*innen behaupten, das Konzept der umgekehrten Diskriminierung suggeriere, dass die pauschale Diskriminierung von Schwarzen und anderen racial unterdrückten Gruppen ein Schwindel sei. Grob gesagt ist die Idee, dass die Verabschiedung des Bürger*innenrechtsgesetzes von 1964 die Diskriminierung von Schwarzen, Latinx und anderen Nationalitäten sowie Frauen beendete und das Gesetz nun die Weißen diskriminiert. Die Rassist*innen sagen, dass raciale Minderheiten die neuen privilegierten Gruppen in der amerikanischen Gesellschaft sind. Sie bekommen angeblich die besten Jobs, bevorzugte Collegeplätze, die besten Wohnungen, staatliche Zuschüsse und so weiter auf Kosten der weißen Arbeiter*innen. Die Rassist*innen sagen, dass Programme zur Beendigung der Diskriminierung nicht nur unnötig sind, sondern tatsächlich Versuche von Minderheiten sind, auf Kosten der weißen Arbeiter*innen Macht zu erlangen. Sie sagen, Schwarze und Frauen wollen keine Gleichheit, sondern die Hegemonie über weiße Arbeiter*innen.
Eine anarchistische, antirassistische Bewegung würde solcher Propaganda entgegentreten und sie als Waffe der herrschenden Klasse entlarven. Der Civil Rights Act hat keine Inflation durch „exzessive“ Ausgaben für Sozialhilfe, Wohnraum oder andere soziale Dienste verursacht. Außerdem diskriminieren Schwarze nicht die Weißen: Weiße werden nicht in Ghetto-Wohnungen getrieben, aus Berufen entfernt oder ihnen wird der Zugang zu ihnen verwehrt, eine anständige Ausbildung vorenthalten, zu Unterernährung und frühem Tod gezwungen, racialer Gewalt und polizeilicher Repression ausgesetzt, gezwungen, ein unverhältnismäßig hohes Maß an Arbeitslosigkeit zu erleiden und andere Formen der racialen Unterdrückung. Aber für Schwarze beginnt die Unterdrückung mit der Geburt und der Kindheit. Die Kindersterblichkeitsrate ist fast dreimal so hoch wie die von Weißen, und sie setzt sich während ihres gesamten Lebens fort. Tatsache ist, dass „umgekehrte Diskriminierung“ ein Schwindel ist. Anti-Schwarze Diskriminierung ist nicht eine Sache der Vergangenheit. Sie ist heute die systematische, alles durchdringende Realität!
Malcolm X wies in den 1960er Jahren darauf hin, dass keine Bürger*innenrechtsgesetze den Schwarzen ihre Freiheit geben werden, und fragte, wenn Afrikaner*innen in Amerika wirklich Bürger*innen wären, warum wären dann Bürger*innenrechte notwendig. Malcolm X bemerkte, dass die Bürger*innenrechte unter großen Opfern erkämpft worden waren und deshalb durchgesetzt werden sollten, aber wenn die Regierung die Gesetze nicht durchsetzen will, dann muss das Volk dies tun und die Bewegung muss Druck auf die Regierungsbehörden ausüben, um die demokratischen Rechte zu schützen. Um die Menschenmassen hinter einer antirassistischen Bewegung der Arbeiter*innenklasse zu vereinen, sind folgende praktische Forderungen notwendig, die eine Kombination aus revolutionärem und radikalem Reformismus sind, um demokratische Rechte zu sichern:
1. Solidarität zwischen Schwarzen und weißen Arbeiter*innen. Kampf gegen Rassismus am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft.
2. Volle demokratische und menschliche Rechte für alle nicht-weißen Völker. Gewerkschaften dazu bringen, Rassismus und Diskriminierung zu bekämpfen.
3. Bewaffnete Selbstverteidigung gegen rassistische Angriffe. Massenbewegung gegen Rassismus und Faschismus aufbauen.
4. Gemeinschaftskontrolle der Polizei, Ersatz der Cops durch kommunale Selbstverteidigungskräfte, die von den Einwohnenden gewählt werden. Beendigung der Polizeigewalt. Strafverfolgung aller mordenden Cops.
5. Geld für den Wiederaufbau der Städte. Schaffung von öffentlichen Arbeitsbrigaden zum Wiederaufbau der Innenstädte, die sich aus den Bewohnenden der Gemeinschaften zusammensetzen.
6. Volle gesellschaftlich nützliche Beschäftigung zu Gewerkschaftslöhnen für alle Arbeiter*innen. Beendigung der racialen Diskriminierung bei Jobs, Ausbildung und Beförderung. Programme einführen, um rassistische Beschäftigungspraktiken der Vergangenheit rückgängig zu machen.
7. Verbot des Ku Klux Klan, der Nazis und anderer faschistischer Organisationen. Strafverfolgung aller Rassist*innen für Angriffe auf People of Colour.
8. Freier, offener Zugang zu allen Bildungseinrichtungen für alle, die sich dafür qualifizieren. Keine raciale Ausgrenzung in der höheren Bildung.
9. Beendigung der Besteuerung von Arbeiter*innen und Armen. Besteuerung der Reichen und Großkonzerne.
10. Volle Gesundheits- und medizinische Versorgung für alle Menschen und Gemeinschaften, unabhängig von Race und Klasse.
11. Befreiung aller politischen Gefangenen und unschuldigen Opfer racialer Ungerechtigkeit. Abschaffung der Gefängnisse. Wirtschaftliche Ungleichheit bekämpfen.
12. Demokratische Kontrolle der Gewerkschaften durch den Aufbau einer anarcho-syndikalistischen Arbeiter*innenbewegung. Gewerkschaften in sozialen Fragen aktiv machen.
13. Beendigung der rassistischen Belästigung und Diskriminierung von Arbeiter*innen ohne Papiere.