[Fluchtpunkte einer radikalen Kritik an der Genetik] Teil 2: Auswertung der gestohlenen Akten aus dem Humangenetischen Institut Münster durch die Rote Zora

Entnommen aus dem Archiv vom schwarzen Pfeil. Eingereicht von freek.

Nachdem ein Brandanschlag der Roten Zora das Archiv der Münsteraner Humangenetiker zerstört hat (siehe auch Teil 1 dieser Reihe), wird im Januar 1987 abermals durch die Rote Zora eine Auswertung von dabei entwendeten Akten veröffentlicht.


Zweite Erklärung zu Aktionen gegen das Humangenetische Institut Münster

(Januar 1987)

Die sexistische Arbeitsteilung und Ausbeutung und die Gewalt gegen Frauen ist für uns Bestandteil des patriarchalen Herrschaftssystems, ohne das Imperialismus in der Dritten Welt und hier nicht begriffen werden kann.

Im Kampf gegen die Bio- und Gentechnologie sehen wir einen Ansatzpunkt, unseren Widerstand gegen dieses System, gegen jegliche Unterdrückung, für Frauenbefreiung weltweit zu entwickeln. Wir sehen unseren Kampf hier nicht losgelöst von den Verhältnissen, die der Imperialismus in der Dritten Welt bewirkt, sondern als konkreten, praktischen Anti-Imperialismus, indem wir versuchen, den reibungslosen Ablauf der Kapitalstrategien und sein Eingreifen in die Strukturen der Dritten Welt hier zu behindern.

Anlaß für unsere Aktion und diese Veröffentlichung war für uns die Tatsache, daß die Humangenetik ein wesentlicher Ansatzpunkt in der öffentlichen Auseinandersetzung über die Gen- und Reproduktionstechnik war/ist. Die Diskussion um die Humangenetik spiegelt eine Perspektivlosigkeit in der Frauenbewegung wieder, zumindest wenn sie so wie in Berlin auf der ANTIGENA geführt wird. Wo sind die Forderungen und Ansätze geblieben, die den von den Herrschenden vorgegebenen Rahmen und deren Denkmuster sprengen? Wo fordern wir unsere feministischen Utopien noch ein?

Die Behinderten in Berlin forderten die Schließung der Humangenetischen Beratungsstellen. Diese Einrichtungen sind die Schaltstellen für die gesundheitliche Erfassung möglichst vieler Menschen, für die Selektion von erwünschtem und unerwünschtem Nachwuchs, für die Verbreitung der Idee, alle gesellschaftlichen Probleme – vom Alkoholismus über Allergien, Kriminalität und Behinderung – seien biologischer Natur und medizinisch reparierbar.

Gegen die Forderung der Behinderten erhob sich massiver Protest unter den Frauen: es müsse jeder Frau zugestanden werden zu entscheiden, ob sie ein behindertes Kind wolle, jede Frau müsse diese Entscheidung selbstständig treffen und die Forderung nach Schließung würde ein Tabu einrichten.

Dabei ist ein ganz anderes Tabu längst schon in unsere Köpfe eingepflanzt: Das Tabu, über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse hinwegzudenken und zu fordern: das Recht, anders zu sein als der Durchschnitt; das Recht, sich entgegen aller Proganda von Humangenetikern, Medizinern und Sozialpolitikern eine Welt vorzustellen und darum zu kämpfen, in der Kranke und Behinderte integriert sind. Eine Welt, in der sie keine Last sind. Eine Welt, in der die ganzen krankmachenden Umweltbedingungen und gesellschaftlichen Verhältnisse verschwunden sind.

Die Propaganda der Humangenetiker, Bevölkerungspolitiker und auch unsere eigene Angst stellen das Problem auf den Kopf: Ein Giftmüllskandal, ein Atomunfall sind Anlaß, die Humangenetik anzupreisen und gegen die Opfer herrschender Politik zu wenden.

Sie sagen, daß den Frauen geholfen werden soll. Sie bekommen Informationen an die Hand, die sie zu einer selbstbestimmten Entscheidung über Abtreibung/Sterilisation führen sollen.

Und die „Selbstbestimmung“ hat spätestens dort ihre Grenzen, wo sich z.B. Frauen in der Psychiatrie, in den Sonderschulen, unangepaßte Frauen hier und vor allem auch die „überflüssigen“ und Widerstand leistenden Frauen in der „3. Welt“ nicht den bevölkerungspolitischen Zielen der Herrschenden „freiwillig“ unterwerfen – diese Tatsache bleibt bestehen, auch wenn das alles zum „Wohl“ für Behinderte, Sonderschüler, Psychiatrisierte und Arme in der 3. Welt umgedeutet wird.

Mit Hilfe der genetischen Klassifizierung soll die Ausgrenzung aller erreicht werden, die sich nicht bedinglos der Normalität des kapitalistischen Arbeitsalltags unterwerfen.

Geplant wird, nach Kosten- Nutzen- Rechnungen die Versorgungskosten für „kranke“ Kinder und Erwachsene zu senken. Während dieses Problem im Faschismus durch schlechtere Versorgung und spätere Vernichtung des „unwerten“ Lebens gelöst wurde, sind die Methoden der heutigen Humangenetiker subtiler: Durch ihre Propaganda „Selbstbestimmung der Frau, Verhinderung von Leiden der Behinderten und ihrer Angehörigen“ wollen sie erreichen, daß die Frauen sich freiwillig den bevölkerungspolitischen Zielen der Herrschenden unterwerfen.

Das Bedürfnis von Frauen nach einem gesunden Kind ist erstmal ein Ausdruck der Situation, daß nach wie vor in diesem Staat die Frauen die eigentliche Verantwortung für die Kinder haben und deshalb jede Abweichung vom sogenannten Normalen zu Lasten der Frauen geht. In der Ökonomie des kapitalistisch/patriarchalen Systems sind Frauen immer „Manövriermasse“ in der Reproduktion und auf dem Arbeitsmarkt, die objektiv maßgeblich zur Senkung der Lohnkosten beiträgt. Auch in dieser Logik müssen Frauen leistungsfähige, d.h. gesunde Kinder kriegen, die sich möglichst kostengünstig für Mann/Kapital/Staat fit machen sollen.

Denjenigen, die sich diesen Plänen widersetzen, droht ein ganzer Sanktionskatalog: Einschränkung der finanziellen Möglichkeiten, wenn behinderte Angehörige nicht mehr über die Solidargemeinschaften wie z.B. Krankenkassen oder Rentenanstalten unterhalten werden, Einschränkung der individuellen Möglichkeiten, wenn Frauen für die Versorgung der Behinderten allein zuständig sind, gesellschaftliche Isolierung oder Ausgrenzung – Psychiatrie/Zwangssterilisation, etc. Durch das Vorsorge- und Untersuchungsangebot der Humangenetiker werden Ängste der Frauen kanalisiert, von den eigentlichen Verursachern – wie Chemiekonzerne, Atomlobby, Giftmüllproduzenten – abgelenkt und individualisiert. Ein Giftmüllskandal führt eher zu der Forderung nach Ausweitung der humangenetischen Beratung in der Schwangerschaft als zum Sturm auf die Giftmüllproduzenten und zu gemeinsamen Aktionen bei den Gesundheitsbehörden. Die bestehenden Untersuchungsangebote sind schlichtweg ein Alibi und sollen der Beruhigung der Opfer dienen.

Um die Entstehung von Krankheiten bei Neugeborenen einzugrenzen, sind nicht die humangenetischen Beratungsstellen sinnvoll, sondern erstens müssen die krankmachenden Umweltbedingungen, und zweitens muß die technisierte Geburtsmedizin – aufgrund derer ca. 50 % der Behinderungen bei Neugeborenen zurückzuführen sind – abgeschafft werden.

Die Humangenetiker kennen nur einen verschwindend kleinen Anteil von „Störungen oder Schäden“, die genetisch bedingt sein sollen.

Wichtigstes Ziel ist es daher, für ihre Forschungen Datenmaterial zu sammeln, das so breit wie möglich gefächert ist (hierbei beziehen sie auch Krankheiten wie Alkoholismus oder Krebs ein). Hier treffen sich die Interessen der Reproduktionsmediziner, der Gentechnologen und Vorsorge-Ärzte, die Hand in Hand arbeiten.

Der Begriff „Selbstbestimmung“ der Schwangeren ist in diesem Zusammenhang fehl am Platz: Ärzte bestimmen die Untersuchungsmethoden, Humangenetiker die Interpretation der Ergebnisse und der 218 bestimmt die Bedingungen der Abtreibung. Rückblickend müssen wir sagen, daß die 218-Kampagne der Frauenbewegung in der (vielleicht auch unbewußten) Tradition der Selektion und Ausgrenzung von Behinderten gestanden hat. Dies ist eindeutig enthalten bei der eugenischen Indikation.

Die in den letzten Jahren systematisch geschürte Angst vor einem behinderten Kind, die Strategie, Kosten- Nutzen- Denken in alle Köpfe zu verpflanzen, Krankheit als individuelles Verschulden und Problem hinzustellen, hat scheinbar verfangen. Die Forderung nach selbstbestimmter Nutzung der humangenetischen Beratung zu stellen, heißt die Forderung nach selbstbestimmter Selektion zu erheben.

Selbstbestimmung ist nicht mehr kollektive, politische und kämpferische Forderung gegen die Integration/Unterwerfung unter herrschende Verhältnisse, sondern Legitimation für individualistische Prozesse. Diese Individualisierung politischer Konflikte macht uns nicht nur schwach, sie ist unpolititsch und läßt uns unsere Utopien aus den Augen verlieren.

Lasst uns die humangenetischen Beratungsstellen schliessen!
Klauen wir ihnen die Datensammlungen!
Solidarisieren wir uns mit denen, die ausgemerzt und ausgegrenzt werden sollen!
Greifen wir die an, die uns kaputtmachen!
Lasst es uns zusammen machen!
Für eine starke internationale Frauenbefreiungsbewegung!
Kampf dem imperialistisch-patriarchalen System!

Bei unserem Besuch im Humangenetischen Institut (HGI) in Münster im August letzten Jahres ist es uns gelungen, das Archiv zu zerstören; das jedenfalls schrieb die Presse in den nachfolgenden Tagen. Es war das Lebenswerk von Lenz, das er im Lauf seiner Tätigkeit am humangenetischen Institut in Münster aufgebaut hatte. Diesem Archiv wurde laut Zeitungsmeldungen internationale Bedeutung zugeschrieben. Einiges haben wir in der Nacht mitgenommen, alles andere ist verbrannt. Uns ist es auch nicht in erster Linie darauf angekommen, das Archiv auszulagern, wir wollten es vorrangig zerstören, damit die Macht, die Weißkittel aus solchen Archiven ziehen, an einer Stelle gebrochen wird.

Bei der Durchsicht der Akten haben wir keine spektakulären Schweinereien aufgedeckt, wie sie etwa bei Stockenius der Fall gewesen ist. Das heißt allerdings nicht, daß hier solche nicht passieren, da unsere Auswahl nicht repräsentativ ist.

Wichtig für uns ist, von der Fixierung auf die Skandale wegzukommen. Sie gehören zwar zu diesem System und sind als solche auch zu denunzieren. Gleichzeitig haben die Skandale oft aber die Funktion, daß sich die kritischen Wissenschaftler und Mediziner dagegen abgrenzen können, um damit die Harmlosigkeit ihrer Arbeit zu dokumentieren und die Akzeptanz des sozial- politischen Konzepts der Humangenetik erhöhen.

Es ist vielmehr die alltägliche Normalität – das Erfassen und Aufarbeiten der Daten, das Einpflanzen des Selektionsgedankens in die Köpfe der Menschen – , die die Gefährlichkeit dieser Institute ausmacht.

Zu den Personen

  1. Widukind Lenz,
    langjähriger Direktor des Humangenetischen Instituts in Münster, vor einiger Zeit von seinem Amt entpflichtet, aber noch weiter tätig in seinem Archiv, hoffentlich nur bis zum Tag der Vernichtung seines Lebenswerks. Er ist Anfang der 60er Jahre in Hamburg, wo er an der Kinderklinik des Unversitätskrankenhauses Eppendorf arbeitete, bekannt geworden durch die Arbeit an der Aufdeckung des Zusammenhangs zwischen kindlichen Mißbildungen und dem Schlafmitttel Contergan. Er gilt als Spezialist auf dem Gebiet frühkindlicher Schädigungen.
  2. Tünte,
    Leiter der Humangenetischen Beratung in Münster, Spezialist für den Bereich Populations- und Sozialgenetik.
  3. O.v. Verschuer,
    Studium der Medizin und Anthropologie u.a. bei Fritz Lenz (Vater von W. Lenz, Rassenhygieniker, der für ihn persönlich und beruflich eine große Bedeutung hatte) in München, bei Eugen Fischer in Freiburg (ab 1927, Gründer und Leiter des Kaiser- Wilhelm- Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik).
    Bis 1935 Mitarbeiter in Fischers Institut. Begründet dort seinen wissenschaftlichen Ruf mit der Forschung an „Tuberkulösen Zwillingen“.
    1933 Professor für Rassenhygiene und Erbbiologie.
    1935- 1942 Gründer und Direktor des Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene in Frankfurt. Schwerpunkt des Instituts: umfangreiche Zwillingsforschung, Familienforschung, erbbiologische Bestandsaufnahme.
    Eine der senkrecht startenden Assistenten an seinem Institut ist Mengele, dem Verschuer auch verbunden bleibt, nachdem Mengele in die SS überwechselt. Beide Judenhasser, beide wissenschaftliche Vertreter der Ausmerze.
    Herausgabe eines „Leitfadens für Rassenhygiene“ für die Nachwuchsschulung.
    1942- 1945 Nachfolger Fischers als Direktor des Kaiser- Wilhelm- Instituts. Vortragsreisen mit eher ideologischen Themen (Erbanlage als Schicksal und Aufgabe der Bevölkerungs- und Rassenhygiene in Europa, Erbanlage und Charakter. Verschuers Institut betreibt eine Außenstelle in Auschwitz. Leiter: Mengele).
    Nach dem Krieg (1949 Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Mainz) 1951 Direktor des Instituts für Humangenetik in Münster.

Erbberatung

Die allgemeine Verunsicheruung und Angst, die z.B. durch Skandale und deren Veröffentlichung hervorgerufen werden, lassen die Humangenetischen Beratungsstellen (HGB) zu einer scheinbar hilfreichen Einrichtung werden.

Die HGB kann dann die aufgeschreckten Ratsuchenden mit sachlichen Argumenten beruhigen, mit Prozentzahlen und Verharmlosung der Schädigung von Umweltgiften und Medikamenten.

Auf Anfragen mit speziellem „Verdacht“ wird immer mit Prozentzahlen geantwortet, zum Teil mit medizinischen Erläuterungen zur dominant rezessiven Vererbung, die das Ausgeliefertsein gegenüber den Risiken eher fördern als relativieren und damit verstärkte Unsicherheit produzieren. In der Beratung Tüntes wird fast immer entweder weitere Untersuchung und/ oder Beobachtung nahegelegt oder im Falle der Schwangerschaft pränatale Diagnostik „empfohlen“, was ebenfalls die Unsicherheit verstärkt, die Angewiesenheit auf medizinische Einrichtungen unterstreicht, das totale Abhängigkeitsgefühl hervorruft. Die Verunsicherung treibt die Betroffenen in die Verfügungsgewalt der Mediziner und Genetiker, die dann ihrerseits mit Hilfe ihres medizinischen Apparates beruhigen.

Die Antwortschreiben auf die Anfragen der Ratsuchenden sind im väterlich fürsorglichen Ton geschrieben und suggerieren persönliche Anteilnahme und Betreuung nach dem Motto „in unserer Obhut sind Sie gut aufgehoben, wir untersuchen und erforschen genauestens, werden Ihnen eine objektive Antwort geben und das Beste für Sie herausfinden, worüber Sie frei entscheiden können.“

Es wird fast nie zur Abtreibung oder Kinderlosigkeit geraten. Aus dem Material geht hervor, daß es derzeit nicht primär um die Verhinderung von Behinderten geht, sondern um Stigmatisierung (Kriterien für normal- nicht noromal), um das Sammeln und Aufarbeiten von genetischen Daten, um die Verbreitung des Selektionsgedankens („es ist möglich, Behinderung zu vermeiden“).

Oft wird den Ratsuchenden eine weitere Beobachtung angeboten oder Zusatzinformationen angefordert. Nach außen wirkt es wie eine unsystematische, zufällige Sammlerleidenschaft, nach innen wird archivert und erfaßt.

Eine besondere Bedeutung des Humangenetischen Instituts liegt in der Zentralisierung. Es scheint zum Selbstverständnis vieler Ärzte und Krankenhäuser zu gehören, daß sie „interessante Fälle“ an das Humangenetische Institut schicken, damit diese aufgearbeitet werden.

Es gibt weitere Hinweise auf zentrale Datenerfassung. Sterilisationsempfehlungen bei bestimmten Krankheitsbildern – d.h. Zwangssterilisationen – sind die konsequente Folge dieser Wissenschaft.

Aus dem vorliegenden Material läßt sich insgesamt eine grundlegende These formulieren: Der individuelle „Genpool“ wird verantwortlich gemacht für sogenannte Erkrankungen, Miß- und Fehlbildungen. Exogene Schädigungswirkungen von Giften, Medikamenten, Strahleneinwirkungen werden verharmlost. Teilweise berechtigte Ängste von Frauen werden auf die individuelle Verantwortlichkeit hin kanalisiert. Hochgespielt wird die Verantwortung für ein fehlerfreies Leben, heruntergespielt dagegen die Auswirkungen von alltäglichen Katastrophen, d.h. von der Zerstörung der Natur und Umwelt bis zur HERRschenden Techno- und Pharma-Medizin.

Medikamente, Strahlen und Gifte

Aus den Antwortschreiben von Lenz geht die Verharmlosung von Drogen, Tabletten, Strahlen etc. hervor, gegenüber dem „schwerwiegenderen“ Problem des Alkoholismus. Seiner Ansicht nach gilt für Mutationen, daß der Einfluß des Lebensalters weitaus größer ist als der von erheblichen Strahlenmengen. Auch eine Chemotherapie ist unbedeutend.

Diese Strategien der Verharmlosung, deren sich die Herren Humangenetiker bedienen, basieren immer auf der Beweisführung der Betroffenen. Kein Pharmaproduzent muß die nicht-schädigende Wirkung seines Medikamentes beweisen, bevor es auf dem Markt kommt. Erst die Erfahrungen in der Praxis – also die reinen Menschenversuche – bringen den Beweis für schädigende oder nicht-schädigende Wirkung auf den Menschen, den Fötus. An diesem Prinzip hält sich auch der Lenz. Liegen ihm keine größeren Untersuchungsreihen über eine Medikamenteneinnahme während der Schwangerschaft und der Vergleich mit Neugeborenen vor, oder hat es bisher keine ihn hellhörig machenden Rückmeldungen aus den Krankenhäusern bzw. Kinderkliniken, die einen Verdacht der Korrelation von Behinderung und spezifischem Medikament aufkommen lassen, gegeben, stellt er der Pharmaindustrie Unbedenklichkeitsbescheinigungen aus. Ab und zu mit der Frage gekoppelt, allerdings nur an die Kollegen in den Krankenhäusern, ob noch weitere Fälle bzgl. dieses Präparates bekannt sind.

Wenn ein Medikament wie z.B. Reparil schon jahrzehntelang in der Schwangerschaft verabreicht wurde „ohne daß jemals der Verdacht einer teratogenen (zur Fehlbildung führenden) Wirkung aufgetaucht ist“, kann das verschiedene Gründe haben, aber es ist nicht der Beweis, daß das Medikament keine teratogene Wirkung hat. Kein Verdacht bedeutet nicht den Ausschluß. Die Unbedenklichkeitsbescheinigungen liegen vollkommen im Interesse der Pharma- Industrie, mit denen er regen Kontakt pflegt, wie weiter unten dokumentiert. Zynisch klingen auch seine Antworten auf Nachfragen nach den Hinweisen entsprechender Beipackzettel der Medikamente: „… darf während der Schwangerschaft nicht verabreicht werden“ oder andere warnende Hinweise: Sie dienen allein dazu, die Firmen „vor sinnlosen Prozessen zu schützen“ oder ähnlich von ihm formuliert.

Die Unbedenklichkeit gegenüber Medikamenten begründet Lenz mit dem unverfrorenen Vergleich „anderer Substanzen unserer natürlichen und künstlichen Umwelt, […] die wir ohne es zu wissen aufnehmen“. Absolut abwieglerisch wird Lenz zum Thema „Dioxin“. Seine Korrespondenz mit Boehringer Ingelheim, die in ihm einen Verbündeten gegen die „Verunglimpfung“ von Dioxin- Gift gefunden haben, verdeutlicht seine guten Kontakte zur Pharmaindustrie und das Interesse, sein Wissen, sein Fachansehen auch in ihren Dienst zu stellen.

Auch Schering pflegt den Kontakt zur Humangenetik.

Die Loyalität gegenüber Industrie und HERRschender Medizin ist absolut durchgängig.

Die sprachliche Zurückhaltung von Lenz, auch mit dem Umgang der Amniozentese, ist der Tatsache geschuldet, daß er einer Generation entstammt, die durch den Nationalsozialismus behaftet ist. Von der Berührung mit sozialer Eugenik sind seine Beratungen weiter entfernt als dies bei seiner Instituts- Nachfolgegeneration der Fall ist; Tünte spricht hier eine deutlichere Sprache.

Sozialgenetik

1971 wird an die Deutsche Forschunggesellschaft (DFG) ein Förderungsantrag „Genetische Erhebung“ gestellt, aus dem hervorgeht, daß Tünte die „Sozialgenetik“ als neue Fachdisziplin vorantreiben will. In Forschungsberichten, die 1975 als Jahresbericht an die Deutsche Forschungsgesellschaft gehen, wird dieses Vorhaben konkretisiert.

Ziel dieser Forschung ist es, die „sozialen Dimensionen genetischer Erkrankung sichtbar und meßbar zu machen, um ein umfassendes Konzept zur Intensivierung der genetischen Beratung zu entwickeln, in dem neben den genetischen Fragen auch die sozialen und psychologischen Aspekte Berücksichtigung finden:“ Daraus erwächst die Möglichkeit, nicht norm- gerechtes Verhalten als Krankheit zu definieren und möglichst breit zu erfassen. Als Arbeitsbegriff für Behinderung gilt „die Einschränkung in Bezug auf eine oder mehrere Aktivitäten, welche in Übereinstimmung mit dem Alter, Geschlecht und der sozialen Rolle der jeweiligen Person, als die allgemein wesentlichen und grundlegenden Bestandteile des Alltagslebens angesehen werden.“ Die von der „Leistungsgesellschaft“ an den einzelnen gestellten Anforderungen sind der Maßstab für normgerechtes Verhalten.

Der soziale Anspruch, mit dem Tünte seinen Forschungsapparat zu legitimieren versucht – nämlich die Umweltbedingung an Behinderung durch Vorurteile und Stigmatisierung aufzudecken – entlarvt sich in seinen eigenen Schlußfolgerungen: „Soziale Strukturen beeinflussen die Manifestation der zu Nüftluxation disponenten Erbanlagen, wenn z.B. infolge ärmlicher Lebensbedingungen eine rechtzeitige Diagnose und eine optimale Behandlung unterbleiben.“ …“die Frage der gesellschaftlichen Belastung durch Erbkrankheiten ist für die Sozialgenetik von zentraler Bedeutung.“ Natürlich hebt Tüne hervor, daß Sozialgenetik eine wertfreie Wissenschaft ist und grenzt sie als solche gegen die Eugenik ab. Wenn er aber die gesellschaftliche und finanzielle Belastung von Erbkrankheit ins Spiel bringt – im Zusammenhang mit Überlegungen der Kosten-Nutzen-Analyse – wird die Sprache deutlich.

Aufschlußreich schien uns die Art der Datenerhebung für seine Untersuchungen. Einerseits griff er auf das Genetikregister des Instituts zurück, andererseits ermittelte er über das Einwohnermeldeamt nicht betroffene Vergleichspersonen. Die Ergebnisse wurden computergerecht aufgearbeit. Das Ganze ist mehr als zwölf Jahre her, wird von ihm selbst als Anfang einer neuen Forschungsrichtung bezeichnet.

Historisch aber immer noch aktuell

Zum Schluß begeben wir uns in die Geschichte des Nationalsozialismus. Aus dem Inhalt einer historischen Akte zu den Vortragsreisen Verschuers im Jahre 1939 – 1944 ist uns ein Vortrag vor Verwaltungsleitern der Heil- und Pflegeanstalten in Berlin 1939 zu veröffentlichen wichtig. Hier geht es um die Einbindung der Krankenhäuser in die Erfassung von Zwangssterilisationen. Ein für die heutige Zeit aktuelles Thema, wo die Datenerfassung in den Krankenhäusern stark zunimmt – von Krebsregistern über die Diagnostikstatistik bis zur integrierten Datenverarbeitung.

  • Damals wie heute wurden und werden sogenannte Behinderungen in der Krankenakte festgehalten, auch wenn der Krankenhausaufenthalt damit nichts zu tun hat, und Krankengeschichten werden obligatorisch registriert.
  • Damals wie heute gab und gibt es die Diskussion, jeden Arzt in das System der Rassenhygiene bzw. humangenetischen Beratung einzubeziehen.
  • Damals wie heute stellte und stellt sich die Frage nach der notwendigen Ausbildung im Fach Rassenhygiene bzw. Humangenetik, selbst für die Lehrerausbildung.
  • Mit der Einrichtung der Erbkarteien sollte eine „gesundheitliche Bestandsaufnahme unseres Volkes angestrebt“ werden. Angestrebt wird heute eine gesundheitliche Bestandsaufnahme der Bevölkerung, eine möglichst flächendeckende Erfassung und Registrierung der Menschen durch medizinische Institutionen, Karteien und Register, damit die qualitative Kontrolle des „Bevölkerungsmaterials“ gewährleistet ist und bevölkerungsmanipulierende Maßnahmen ergriffen werden können.
  • Damals wie heute gab und gibt es gleiche Methoden und Vorgehensweisen der Erforschung: Familienforschung und Statistik, Zwilllingsforschung und empirische Erbprognose. Heute hinzugekommen sind die biotechnischen Möglichkeiten der Chromosomen- und Genuntersuchungen und daran gekoppelt die EDV-mäßige statistische Verarbeitung.
  • Das Objektverhältnis gegenüber menschlichem Leben generell äußerte sich gegenüber den Frauen als Objekt der Forschung und Mittel der Umsetzung quantitativer und qualitativer Bevölkerungspolitik besonders in dem Interesse, die Fruchtbarkeit der sogenannten wertvollen Frauen optimal auszubeuten.

Das „Leid der Kinderlosigkeit“ war immer schon Anknüpfungspunkt für die Durchsetzung von HERRschaftsinteressen.

Parallelen und Ähnlichkeiten von Struktur und Ideologie damals wie heute könnten weiter fortgeführt werden, aber uns reichts!

Auffällig ist natürlich die vorsichtige Formulierung in heutigen Konzepten. Es ist nicht direkt von der Verantwortung der/des Einzelnen der Volksgemeinschaft gegenüber die Rede, sondern eher vom Leid des Individuums und der Verantwortung sich selbst gegenüber, obwohl ab und zu auch schärfere Töne zu vernehmen sind. Man spricht nicht von Ausmerze und Zwangsmaßnahme, sondern ist bemüht um die Propaganda des Prinzips der Freiwilligkeit.

Wir denken, daß die dokumentierten Vergleiche an Deutlichkeit keinen Zweifel lassen.

Rote Zora