Eine Analyse des Guardian zeigt, dass EU-Länder brutale Taktiken angewandt haben, um fast 40.000 Asylsuchende am Überqueren der Grenzen zu hindern — Methoden, die mit dem Tod von mehr als 2000 Menschen in Verbindung gebracht werden.
In einer der größten Massenabschiebungen seit Jahrzehnten haben europäische Länder, unterstützt von der EU-Grenzschutzagentur Frontex, systematisch Tausende von Geflüchteten, darunter auch Kinder, die vor Kriegen fliehen, zurückgedrängt und dabei Taktiken angewandt, die von Übergriffen bis hin zu Brutalität bei der Festnahme oder dem Transport reichen.
Die Analyse des Guardian basiert auf Berichten von UN-Agenturen, kombiniert mit einer Datenbank von Vorfällen, die von Nichtregierungsorganisationen gesammelt wurden. Laut den Wohltätigkeitsorganisationen hat mit dem Beginn von Covid-19 die Regelmäßigkeit und Brutalität der Pushback-Praktiken zugenommen.
„Jüngste Berichte deuten auf eine Zunahme der Todesfälle von Migrant_innen hin, die versuchen, Europa zu erreichen, und gleichzeitig auf eine Zunahme der Zusammenarbeit von EU-Ländern mit Nicht-EU-Ländern wie Libyen, was zum Scheitern mehrerer Rettungsaktionen geführt hat“, sagte einer der führenden Menschenrechts- und Einwanderungsexperten Italiens, Fulvio Vassallo Paleologo, Professor für Asylrecht an der Universität von Palermo. “In diesem Zusammenhang stehen die Todesfälle auf See seit Beginn der Pandemie in direktem oder indirektem Zusammenhang mit dem EU-Ansatz, der darauf abzielt, alle Türen nach Europa zu schließen und der zunehmenden Externalisierung der Migrationskontrolle in Länder wie Libyen.“
Die Ergebnisse kommen zu einem Zeitpunkt, an dem die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf eine Untersuchung gegen Frontex eingeleitet hat, wegen des Vorwurfs der Belästigung, des Fehlverhaltens und der ungesetzlichen Operationen, die darauf abzielen, Asylsuchende davon abzuhalten, die Küsten der EU zu erreichen.
Laut der Internationalen Organisation für Migration kamen im Jahr 2020 fast 100.000 Migrant_innen auf dem See- und Landweg in Europa an, verglichen mit fast 130.000 im Jahr 2019 und 190.000 im Jahr 2017.
Seit Januar 2020 haben Italien, Malta, Griechenland, Kroatien und Spanien trotz des Rückgangs der Zahlen ihre harte Migrationsagenda beschleunigt. Seit der Einführung von teilweisen oder vollständigen Grenzschließungen, um den Ausbruch des Coronavirus zu stoppen, haben diese Länder Nicht-EU-Staaten bezahlt und private Schiffe angeheuert, um Boote in Seenot abzufangen und die Passagiere in Auffanglager zurückzudrängen. Es gibt immer wieder Berichte über Menschen, die an den Grenzen geschlagen, ausgeraubt, nackt ausgezogen oder auf dem Meer zurückgelassen wurden.
Im Jahr 2020 hat Kroatien, dessen Polizei die längste Außengrenze der EU patrouilliert, die systematische Gewalt und das Zurückdrängen von Migrant_innen nach Bosnien intensiviert. Der Dänische Flüchtlingsrat (DRC) verzeichnete seit Beginn der Pandemie fast 18.000 von Kroatien zurückgedrängte Migrant_innen. In den letzten anderthalb Jahren hat der Guardian Zeugenaussagen von Migrant_innen gesammelt, die von Mitgliedern der kroatischen Polizei ausgepeitscht, ausgeraubt, sexuell missbraucht und nackt ausgezogen wurden. Einige Migrant_innen sagten, dass sie mit roten Kreuzen auf ihren Köpfen von Beamt_innen besprüht wurden, die sagten, die Behandlung sei das „Heilmittel gegen das Coronavirus“.
Laut einem Jahresbericht, der vom Border Violence Monitoring Network (BVMN), einem Zusammenschluss von 13 NGOs, die illegale Pushbacks auf dem Westbalkan dokumentieren, veröffentlicht wurde, waren Misshandlungen und unverhältnismäßige Gewalt in fast 90 % der im Jahr 2020 gesammelten Zeugenaussagen aus Kroatien vorhanden, ein Anstieg von 10 % gegenüber 2019.
Im April enthüllte der Guardian, wie eine Frau aus Afghanistan von einem kroatischen Grenzpolizisten während einer Durchsuchung von Migrant_innen an der Grenze zu Bosnien sexuell missbraucht und mit einem Messer festgehalten wurde.
Seit Januar 2020 hat Griechenland nach Angaben des BVMN rund 6230 Asylsuchende von seinen Küsten zurückgeschoben. In dem Bericht heißt es, dass bei 89% der Pushbacks „BVMN die unverhältnismäßige und übermäßige Anwendung von Gewalt beobachtet hat. Diese alarmierende Zahl zeigt, dass die Anwendung von Gewalt in einer missbräuchlichen Weise zur Normalität geworden ist […]
„Zu den extrem grausamen Beispielen polizeilicher Gewalt, die 2020 dokumentiert wurden, gehörten langanhaltende exzessive Schläge (oft auf nackte Körper), das Untertauchen in Wasser, die körperliche Misshandlung von Frauen und Kindern sowie der Einsatz von Metallstangen, um Verletzungen zuzufügen.“
In Zeugenaussagen beschrieben Menschen, wie ihre Hände an die Gitterstäbe der Zellen gefesselt wurden und Helme auf ihre Köpfe gesetzt wurden, bevor sie geschlagen wurden, um sichtbare blaue Flecken zu vermeiden.
Eine Klage gegen den griechischen Staat, die im April beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht wurde, beschuldigt Athen, Dutzende von Migrant_innen in Rettungsinseln auf dem Meer ausgesetzt zu haben, nachdem einige von ihnen geschlagen worden waren. In der Klage wird behauptet, dass griechische Patrouillenboote die Migrant_innen zurück in türkische Gewässer geschleppt und auf dem Meer ausgesetzt haben, ohne Nahrung, Wasser, Schwimmwesten oder irgendeine Möglichkeit, um Hilfe zu rufen.
Nach Angaben des UNHCR haben die libyschen Behörden seit Beginn der Pandemie — mit italienischer Unterstützung seit 2017, als Rom die Verantwortung für die Überwachung der Rettungsaktionen im Mittelmeer an Libyen abtrat — etwa 15.500 Asylsuchende abgefangen und nach Tripolis zurückgeschoben. Die umstrittene Strategie hat dazu geführt, dass Tausende zwangsweise in libysche Haftanstalten zurückgebracht wurden, wo sie laut Berichten aus erster Hand gefoltert werden. Hunderte sind ertrunken, als weder Libyen noch Italien eingegriffen haben.
„Im Jahr 2020 setzte sich diese Praxis fort, wobei die Flugzeuge von Frontex eine immer wichtigere Rolle spielten, da sie die Boote auf See sichteten und ihre Position an die libysche Küstenwache übermittelten“, sagt Matteo de Bellis, Migrationsforscher bei Amnesty International. „Während Italien also irgendwann sogar die Pandemie als Vorwand nutzte, um zu erklären, dass seine Häfen nicht sicher für die Ausschiffung von auf See geretteten Menschen seien, hatte es kein Problem damit, dass die libysche Küstenwache die Menschen nach Tripolis zurückbrachte. Selbst dann nicht, wenn diese unter Beschuss stand oder Hunderte unmittelbar nach der Ausschiffung gewaltsam verschwunden waren.“
Im April wurden Italien und Libyen beschuldigt, einen Mayday-Ruf eines in Seenot geratenen Migrant_innenbootes in libyschen Gewässern absichtlich zu ignorieren, als die Wellen sechs Meter erreichten. Ein paar Stunden später entdeckte ein NGO-Rettungsboot Dutzende von Leichen, die in den Wellen trieben. An diesem Tag wurden 130 Migrant_innen auf See verloren.
Im April sah der Guardian in einer gemeinsamen Untersuchung mit der italienischen Rai News und der Zeitung Domani Dokumente von italienischen Staatsanwält_innen, die Gespräche zwischen zwei Kommandanten der libyschen Küstenwache und einem Offizier der italienischen Küstenwache in Rom aufzeigten. Die Abschriften schienen das nicht reagierende Verhalten der libyschen Offiziere zu entlarven und ihre Mühe, die Notrufe zu beantworten, die zu Hunderten von Toten führten. Mindestens fünf NGO-Boote bleiben in italienischen Häfen blockiert, da die Behörden administrative Gründe für das Festhalten anführen.
„Push- und Pull-Back-Operationen sind zur Routine geworden, ebenso wie Formen der maritimen Aussetzungen, bei denen Hunderte dem Ertrinken überlassen wurden“, sagte ein Sprecher von Alarm Phone, einem Hotlinedienst für Migrant_innen in Seenot. „Wir haben so viele Schiffswracks dokumentiert, die nie offiziell erfasst wurden, und deshalb wissen wir, dass die tatsächliche Zahl der Toten viel höher ist. In vielen der Fälle haben sich die europäischen Küstenwachen geweigert zu reagieren — sie haben sich lieber dafür entschieden, die Menschen ertrinken zu lassen oder sie zurück zu dem Ort abzufangen, von dem sie ihr Leben riskiert haben, um zu entkommen. Auch wenn alle europäischen Behörden versuchen, die Verantwortung von sich zu weisen, wissen wir, dass das Massensterben ein direktes Ergebnis ihrer Handlungen und Untätigkeit ist. Diese Todesfälle gehen auf das Konto Europas.“
Malta, das Anfang letzten Jahres seine Häfen unter Berufung auf die Pandemie für geschlossen erklärt hat, hat weiterhin Hunderte von Migrant_innen mit zwei Strategien zurückgedrängt: Es hat private Schiffe angeheuert, um Asylsuchende abzufangen und sie zurück nach Libyen zu zwingen oder sie mit der Anweisung nach Italien umzuleiten.
Im vergangenen Mai bestätigte eine Reihe von Sprachnachrichten, die der Guardian erhalten hat, die Strategie der maltesischen Regierung, private Schiffe auf Geheiß der Streitkräfte einzusetzen, um Überfahrten abzufangen und Geflüchtete in libysche Haftzentren zurückzubringen.
Letzte Woche wurden die Leichen von 24 Migrant_innen aus Subsahara-Afrika von Spaniens Seenotrettung gefunden. Es wird angenommen, dass sie beim Versuch, die Kanarischen Inseln zu erreichen, an Dehydrierung gestorben sind. Im Jahr 2020 starben nach Angaben des UNHCR 788 Migrant_innen bei dem Versuch, Spanien zu erreichen.
Frontex sagte, dass sie sich nicht zu den Gesamtzahlen äußern können, ohne die Details jedes einzelnen Falles zu kennen, behauptet aber, dass verschiedene Behörden Maßnahmen ergriffen haben, um auf das Schlauchboot zu reagieren, das im April vor der Küste Libyens gesunken ist, was zum Tod von 130 Menschen führte.
„Das italienische Rettungszentrum hat Frontex gebeten, das Gebiet zu überfliegen. Es ist leicht zu vergessen, aber das zentrale Mittelmeer ist riesig und es ist nicht einfach oder schnell, von einem Ort zum anderen zu gelangen, besonders bei schlechtem Wetter. Nachdem sie das Gebiet erreicht hatten, in dem das Boot vermutet wurde, lokalisierten sie es nach einiger Zeit und alarmierten alle Maritimen Rettungs- und Koordinationszentren (MRCCs) in der Gegend. Sie gaben auch einen Mayday-Ruf an alle Boote in der Gegend ab (die Ocean Viking war zu weit entfernt, um ihn zu empfangen).“
Es wird behauptet, dass das italienische MRCC, das vom libyschen MRCC gebeten wurde, drei Handelsschiffe in das Gebiet entsandte, um zu helfen. Schlechtes Wetter machte dies jedoch schwierig. „In der Zwischenzeit ging dem Frontex-Flugzeug der Treibstoff aus und es musste zur Basis zurückkehren. Ein weiteres Flugzeug startete am nächsten Morgen, als das Wetter es zuließ, wieder mit den gleichen Sorgen um die Sicherheit der Besatzung. Alle Behörden, natürlich auch Frontex, haben alles getan, was unter den gegebenen Umständen menschenmöglich war.“