Im folgenden Interview, erschienen bei CrimethInc, erzählen zwei langjährige Anarcho-Punks vom Wiederaufleben des Anarchismus in Brasilien nach dem Ende der Militärdiktatur, zeichnen die Schicksale der sozialen Bewegungen durch den Aufstieg und Fall der linken Arbeiterpartei-Regierung nach und beschreiben die Situation für indigene Völker und indigene Solidaritätsbemühungen unter dem rechten Bolsonaro-Regime heute.
Andreza und Josimas sind seit mehreren Jahrzehnten in Anarchismus und Aktivismus involviert – sie spielen in Bands, organisieren Veranstaltungen und veröffentlichen Platten, Zines und Bücher. Josimas war einer der Gründer von Germinal (2000) und Andreza war an der Gründung von Espaço Impróprio (2003) beteiligt, zwei wichtigen autonomen anarchistischen Kollektiven in São Paulo. Josimas hat in den Bands Execradores, Metropolixo, Clangor, Diskontroll, und Amor, protesto e ódio gespielt. Andreza hat in Skirt, One Day Kills, Out of Season und Retórica gespielt. Außerdem haben sie zusammen in Você Tem que Desistir und TuNa gespielt.
Zu ihren aktuellen Projekten gehören Semente Negra („Schwarze Saat“), ein ökologisches Projekt im atlantischen Regenwald und der Standort von Cultive Resistência („Widerstand kultivieren“), einem Kollektiv, das Do-it-yourself-Kultur, Permakultur, Anarchismus, Punk, Feminismus, Antirassismus, Veganismus, LGBTQIA+-Themen und indigene Rechte fördert; No Gods No Masters, sowohl ein Vertrieb als auch ein jährliches Festival, das Anarchist:innen, Punks und Indigene aus der ganzen Welt beherbergt; und Vivência na Aldeia, ein seit neun Jahren laufendes indigenes Solidaritätsprojekt.
Welches Erbe blieb von den früheren Generationen des brasilianischen Anarchismus, als in den 1980er Jahren der Anarcho-Punk in Brasilien aufkam? Wie bedeutsam war das für die Renaissance des Anarchismus in Brasilien in den 1980er und 1990er Jahren?
Die Anarcho-Punk-Bewegung in Brasilien entstand in den späten 1980er Jahren, als Ergebnis eines aktiveren politischen Bewusstseins innerhalb der Punk-Bewegung im Allgemeinen. In Brasilien hatte es lange Zeit mehrere Punk-Gangs gegeben, die sich untereinander bekämpften; dies schuf das Bedürfnis nach einem schärferen politischen Bewusstsein. Mitte der 1980er Jahre, als Brasilien noch von einer Militärdiktatur regiert wurde, nahmen einige anarchistische Gruppen ihre Organisierung wieder auf und ein paar Punks beschlossen, sich zu engagieren. Es gab die Pro-COB (Confederação Operaria Brasileira) und Juventude Libertária (die erste brasilianische libertäre Jugendgruppe), in der man schon einige Punks finden konnte. Als jedoch das Zentrum für Soziale Kultur (Centro de Cultura Social) wieder auf die Beine kam – ein über ein halbes Jahrhundert altes Projekt, das unter der Militärdiktatur verfolgt und geschlossen worden war – fanden diese jungen Punks einen Bezugspunkt.
Die älteren Leute von CCS eröffneten das Projekt 1985 wieder. Sie hatten eine Menge Willenskraft und organisierten mehrere Aktivitäten zum politischen Bewusstsein und zur anarchistischen Kultur. Sie stellten auch eine Bibliothek mit einer großen Auswahl an anarchistischen Büchern und Zeitungen zusammen, die als Basis für eine starke Konvergenz zwischen Punkkultur und Anarchismus diente.
Die Militärdiktatur endete im Jahr 1985. Als ältere Anarchist:innen auf die Straßen zurückkehrten, kamen Punks auf sie zu; es gab mehrere Diskussionen über diese jungen Leute aus den Stadtrandgebieten mit ihren schrägen Klamotten und Frisuren und ihrer lauten Musik. Einige der älteren Anarchist:innen dienten als Inspiration – vor allem Jaime Cuberos (1926-1998), der die Punks als die neuen Anarchist:innen sah. Sie boten entscheidende Lernquellen für eine neue Generation, die auf der Suche nach einem sozialen Kampf war, der über Rebellion hinausging.
Zwei libertäre[1] Punkversammlungen fanden 1989 und 1990 in Brasilien statt und brachten Punks zusammen, die sich bereits mit dem Anarchismus identifizierten. In den frühen 1990er Jahren entstand die Anarcho-Punk-Bewegung, vor allem in São Paulo und Rio de Janeiro. Sie breitete sich bald auch in anderen Städten aus, vor allem in den Bundesstaaten im Nordosten Brasiliens – eine der ärmsten Regionen des Landes. In dem politischen Szenario, das nach der Militärdiktatur entstand, gab es ein radikales Bedürfnis, sich kollektiv und föderativ zu organisieren. Die soziale Situation der Menschen im Land war schrecklich; die monatliche Inflationsrate erreichte 140%. Als Antwort darauf rief die Jugend dazu auf, sich zu organisieren und zu kämpfen – und ein beträchtlicher Teil dieser Jugend bestand aus brasilianischen Punks.
Folglich entstanden Anarcho-Punk-Kollektive in den meisten großen Städten Brasiliens, aber auch in einigen kleineren Städten. Diese Kollektive arbeiteten zusammen, um Demonstrationen, Konzerte, Diskussionen und Studiengruppen zu organisieren und Artikel zu schreiben. Auch viele Bands formierten sich in dieser Zeit.
Einige dieser Gruppen engagierten sich schließlich in anderen sozialen Kämpfen, darunter Feminismus, antirassistische Kämpfe und antifaschistische soziale Gruppen.
Es ist wichtig zu sagen, dass Anarcho-Punk in Brasilien immer eine politische Definition war, nicht ein Musikgenre. In Brasilien sind Anarcho-Punk-Bands Bands, die von Leuten gegründet wurden, die in der anarchistischen Bewegung und dem Punk-Underground aktiv sind.
Hat Punk in Brasilien eine andere Form angenommen, weil sich der raciale und koloniale Kontext von Europa unterscheidet?
Ja, in Brasilien entstand Punk als Teil einer sozialen Opposition gegen die Militärdiktatur. In Brasilien sind über 60% der Menschen Schwarz; Punk entstand in den städtischen Randgebieten, wo diese Zahl 85% der Bevölkerung ausmacht. In einem Szenario, in dem junge Schwarze Arme keine Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensqualität hatten, gab es auch keine sozialen oder kulturellen Programme, die sie unterstützten. Gleichzeitig gab es oft offene Gewalt als Teil dieser Unterdrückung. Folglich waren der anarchistische Kampf und der Kampf ums Überleben miteinander verknüpft.
Dieses Szenario ist in Ländern, in denen die Menschen einen höheren Lebensstandard haben, wie z.B. in Europa, weniger verbreitet. In Brasilien entstand Punk als rebellische Antwort auf die staatliche Unterdrückung, als Kampf ums Überleben sowie als kulturelle Alternative. Dies ist in Lateinamerika üblich. Diese Länder wurden überfallen und ausgebeutet; sie werden von den Nachfahren versklavter Bevölkerungen bewohnt. Die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten sind hier enorm. In Brasilien erreichen junge Schwarze Männer, die in einigen der städtischen Randgebiete leben, selten das 25. Lebensjahr, ohne inhaftiert oder getötet zu werden. Diese Realität bestimmt, wie wir als Lateinamerikaner:innen kämpfen; sie verdeutlicht auch die Unterschiede zwischen lateinamerikanischen und europäischen Ländern. Viele Punks sind Nachkommen von entweder indigenen oder afro-diasporischen versklavten Bevölkerungen. Hier kämpfen die Menschen vor allem darum, am Leben zu bleiben.
In welchem Verhältnis standen Punks und Anarchist:innen zu den autonomen Bewegungen der 1990er Jahre?
Als die anarchistische Bewegung auf die Straße zurückkehrte und ein anarchistisches politisches Bewusstsein in Punk-Kreisen entstand, gab es eine Annäherung zwischen verschiedenen sozialen Kämpfen, die die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit verschiedenen Gruppen hervorrief.
Als die MST (Movimento Sem Terra, die Bewegung der landlosen Arbeiter:innen) anfing, zu expandieren und Farmen zu besetzen, war das sehr inspirierend. Das war eine direkte Aktion gegen die Ungerechtigkeit, die einer enormen Anzahl von Menschen widerfährt, die keinen Zugang zu Land haben, auf dem sie leben und ihre Nahrung produzieren können, während einige wenige Menschen ganze Staaten von ungenutztem Ackerland besitzen. Zur gleichen Zeit besetzten Menschen, die sich in der MTST (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto, die Bewegung der obdachlosen Arbeiter:innen) engagieren, verlassene Gebäude in Großstädten, um sie als Unterkünfte für diejenigen zu nutzen, die auf der Straße leben.
Diese beiden Bewegungen waren für uns inspirierend, weil es sich um legitime populäre Aktionen handelte, an denen Menschen beteiligt waren, die aufgrund ihrer Geschichte benachteiligt sind. Anfangs engagierten wir uns in diesen Bewegungen durch solidarische Aktionen, Unterstützung und die Teilnahme an den vordersten Reihen der Demonstrationen. Einige Anarcho-Punks zogen zu MTST-Besetzungen und von der MST besetzten Ländereien, und wurden ein effektiver Teil dieser Kämpfe.
In den 1990er Jahren arbeiteten Anarchist:innen und Anarcho-Punks Seite an Seite mit vielen Kämpfen, lernten von ihnen, lehrten und unterstützten sie. Dazu gehörten Unterstützungsgruppen für antimilitaristische Kämpfe (einschließlich Kriegsdienstverweigerung), Unterstützungsgruppen für Inhaftierte, Anarchist:innen gegen Rassismus und antikapitalistische Gruppen… Es gab ein Gefühl, dass Rebell:innen, die in Kämpfe verwickelt waren, vereint sein sollten.
In den frühen 2000er Jahren entstand in Brasilien die Antiglobalisierungsbewegung. Sie hatte eine anarchistische Basis, aber sie stand auch im Einklang mit mehreren anderen wachsenden Kämpfen im ganzen Land. Diese Organisation brachte mehrere anarchistische Fronten sowie andere Bewegungen des sozialen Kampfes zusammen. Nach mehreren Arbeitsgruppen gründeten die Menschen People’s Global Action – eine radikale antikapitalistische Bewegung, die mehrere Demonstrationen in Brasilien organisierte. Die Teilnehmenden erlebten erhebliche polizeiliche Repressionen, aber es gab auch viel Kraft auf Seiten der Rebell:innen.
Wie hat sich die Wahl des Präsidentschaftskandidaten der Arbeiterpartei, Lula Luiz Inácio Lula da Silva, auf das politische Terrain ausgewirkt, in dem ihr euch organisiert habt und auf die Bewegungen, an denen ihr teilgenommen habt?
Bevor Lula gewählt wurde, hatten wir mehrere Debatten über unsere Position bezüglich der Wahl geführt. Wir hatten seit der „Re-Demokratisierung“ (dem Ende der Diktatur) und der ersten Wahl für die Nullwahl (Wahlverweigerung) geworben. Bei dieser ersten Wahl, 1989, neigten jedoch einige anarchistische und Punk-Gruppen aus dem Arbeiterviertel dazu, für Lula zu stimmen, da es ein Gebiet war, in dem Lula lebte und wo auch mehrere gewerkschaftliche Kämpfe stattfanden. In den folgenden Wahlen stieg die Unterstützung für Lula unter den linken Bewegungen, einschließlich der MST und MTST sowie anderen populären Gruppen, deutlich an. Wir waren mit mehreren Gruppen vernetzt, die in soziale Kämpfe involviert waren, darunter einige, die Lula unterstützten, zu denen auch einige Anarchist:innen gehörten. Zu dieser Zeit war die Anarcho-Punk-Bewegung nicht mehr so organisiert, wie sie es zuvor gewesen war. Mehrere Kollektive hatten aufgehört zu existieren und einige dieser Leute schlossen sich anderen verschiedenen Kampfgruppen an.
Im Jahr 2002 wurde Lula gewählt und es gab große Hoffnungen, dass er die sozialen Volkskämpfe in Brasilien unterstützen würde. Mehrere soziale und kollektive Kampfgruppen erwarteten Veränderungen. Es gab eine sehr lange Periode der sozialen Stagnation in Brasilien. Mehrere Gruppen diskutierten grundsätzliche Probleme in Bezug auf Ein-Themen-Kämpfe als eine Art, spezifische Bedürfnisse anzusprechen. Leider haben wir das Gefühl, dass uns das sehr geschwächt hat, wenn es um den kollektiven Kampf ging. Um nur ein Beispiel zu nennen – während der PT (Arbeiterpartei)-Regierungen sahen wir sehr wenige Siege in der indigenen Landverteilung, sogar noch weniger als zuvor, obwohl es große Hoffnungen gab, dass dies anders sein würde. Es war, als hätten wir in vielen Kämpfen eine Pause eingelegt.
Welche Rolle haben soziale Zentren in der punkigen und anarchistischen Organisierung in Brasilien gespielt?
Das Centro de Cultura Social (Soziales Kulturzentrum) ist eines der wichtigsten sozialen Zentren in Brasilien gewesen. Sie begannen im Jahr 1933 und sind bis heute aktiv. Sie organisieren Vorträge, Treffen jeden Samstag, und Theatergruppen. Sie haben auch eine riesige historische Sammlung. Mehrere andere soziale Zentren sind aus der Verbindung von Anarchismus und Punk entstanden. In Salvador, im Nordosten Brasiliens, vereinte das anarchistische Projekt Quilombo Cecilia Anarchismus, Punk und Schwarze Kämpfe; der Name ist eine Anspielung auf Colonia Cecilia [eine brasilianische anarchistische Kommune, die in den 1890er Jahren existierte]. In São Paulo gab es die Comuna Goulai Poulé, ein Anarcho-Punk-Kulturzentrum, das Centro de Cultural Social da Vila Dalva, das Centro Cultural O Germinal und das Espaço Improprio, ein soziales Zentrum, das acht Jahre lang aktiv war und Anarchismus, Punk, Veganismus, Feminismus und queere Politik vereinte und mehrere Kollektive beherbergte. In den 1990er Jahren wurden auch einige Gebäude besetzt, von denen einige auch heute noch bewohnt sind. Darüber hinaus wurden einige anarchistische Häuser zu sozialen Zentren, in denen sich Menschen trafen, um Projekte zu bauen, Treffen abzuhalten und Erfahrungen zu teilen.
Diese Orte dienten schon immer als Ressourcen für junge Menschen, um sich zu versammeln, anarchistisches Material zu finden und an politischen Veranstaltungen teilzunehmen.
Der Kapitalismus und die großen sozialen Unterschiede, die es im Land gibt, sind bedeutende Probleme, die uns beeinflussen. Die Geschichte dieser sozialen Zentren ist von dieser Realität geprägt, die mehrere soziale Zentren dazu gezwungen hat, aufgrund der Kosten für den Erhalt dieser Räume zu schließen.
Wie haben anarchistische Organisierung und autonome Bewegungen die Bühne für die mächtigen Bewegungen des Jahres 2013 in Brasilien bereitet?
Nach der Machtübernahme der Partido dos Trabalhadores (PT, Arbeiterpartei) stieg die Lebensqualität in Teilen der brasilianischen Bevölkerung und es wurden einige Vorteile und Rechte erreicht. Die Formen des sozialen Wandels, die am nötigsten gewesen wären, waren jedoch nie Teil des PT-Plans gewesen, und das wurde offensichtlich, als die PT-Kandidatin Dilma Rousseff nach Lula zur Präsidentin gewählt wurde. Das meiste von dem, wovor Anarchist:innen vor den Wahlen gewarnt hatten, wurde für viele Menschen klar. Rebellenhaftes Auftreten nahm in verschiedenen Sektoren der Gesellschaft zu. Bewegungen wie die MST und andere, die seit Jahren keine Demonstrationen mehr organisiert hatten, beschlossen, dass es an der Zeit war, ihre Unzufriedenheit zu zeigen und kamen zu dem Schluss, dass sie noch viel zu erkämpfen hatten. Während des darauffolgenden Aufstandes der sozialen Bewegungen, die seit über zehn Jahren auf das warten, was Lula versprochen hatte, konzentrierte sich die Regierung auf die Kriminalisierung der Demonstrierenden; diese Haltung ließ die Demonstrationen regelrecht explodieren. Es begann mit dem Kampf gegen die Erhöhung der Bustarife. Bald wurden Proteste für viele weitere lebensnotwendige Güter in die Demonstrationen integriert. Das Land brach in Flammen aus. Obwohl es keine Einigkeit gab, waren die Menschen begierig auf Veränderung.
Gleichzeitig wandte sich ein aufstrebender Teil der Bevölkerung, der bald zu einer erstarkten Mittelschicht werden sollte, gegen die Armen und die Bewohner:innen der städtischen Außenbezirke. Was stattfand, schien eine Bewegung zu sein, die diejenigen, denen es wirklich schlecht ging, daran hindern wollte, aus der schlechten Situation herauszukommen, in der sie immer gelebt hatten. Es war so etwas wie die armen Leute gegen die ärmeren, und bei vielen Demonstrationen begann sich eine rechte Atmosphäre zu entwickeln. Auch wenn die radikalen Gruppen in kleine Bezugsgruppen aufgeteilt waren, waren sie miteinander verbunden; die Demonstrationen gingen 2013 und 2014 weiter, vor und während der Fußball-WM 2014.
Wir glauben nicht, dass wir wirklich auf diese Demonstrationen vorbereitet waren. Die Gruppen und Menschen taten, was sie mit den Mitteln, die sie hatten, tun konnten. Sie schafften es, sich nach und nach miteinander zu verbinden, in dem Versuch, ein Netzwerk aufzubauen. Vielleicht waren wir besser vorbereitet, bevor die PT die Macht übernahm, aber die Zeit der PT-Regierung hat einige unserer Verbindungen abgebaut und einige unserer Strategien ausgehöhlt. Die Leute schienen darauf zu warten, was passieren würde – und sie sahen es. Rückblickend glauben wir, dass wir den Fehler gemacht haben, keine autonome Struktur in Opposition zum Staat zu schaffen, unabhängig davon, welche Partei an der Macht ist.
Beschreibt das Festival, das ihr organisiert, das No Gods No Masters Fest.
Das Kollektiv, dem wir angehören, Cultive Resistência, nutzt mehrere Werkzeuge für Aktionen. Eines dieser Werkzeuge ist der Verlag und der Vertrieb No Gods No Masters, der Bücher, Zines und Platten herausgibt, veröffentlicht und vertreibt.
Die Idee des Festivals entstand, als wir die Dringlichkeit erkannten, an einem Ort zusammenzukommen, um die Themen zu diskutieren, über die wir in den Zines und Büchern schreiben, die Themen, die das Leben der Menschen beeinflussen. Drei Tage lang finden Musik, Vorträge, Workshops, Filme, Ausstellungen und Diskussionen in unserem Haus, Espaço Cultural Semente Negra, statt, das im Wald in einer kleinen Stadt, Peruíbe, im Bundesstaat São Paulo liegt. Unser Vorschlag ist es, verschiedene Formen des Widerstands zusammenzubringen, darunter Anarchismus, queere Politik, Feminismus, Veganismus, Schwarze und indigene Kämpfe, Punk und andere Anregungen, die sich auf den Kampf beziehen.
Schwarze Anarchist:innen haben Aktivitäten auf dem Festival vorgestellt und bringen ihre unterschiedlichen Realitäten und Erwartungen in dieses gemischte Kollektiv ein.
Es gibt mehrere indigene Gemeinschaften, dort wo wir leben. Wir haben ein Projekt zur Unterstützung dieser Gemeinschaften entwickelt und arbeiten seit 2012 mit ihnen zusammen. Es war sehr wichtig, indigene Menschen in das Festival einzubeziehen. Sie bringen ihre Kultur, ihre Art, die Welt zu sehen, ihre Musik, ihre Erfahrung mit Heilkräutern und ihre Formen des Widerstands mit. Es sind Menschen, die die ganze Zeit als Widerstand existieren. Sie haben keine Wahl, ob sie Widerstand sein können oder nicht. Wenn sie aufhören Widerstand zu leisten, sterben sie.
Wie hat die Wahl von Bolsonaro den politischen Kontext für die populären Bewegungen verändert?
Es gab einige ziemlich komplizierte Prozesse während der Präsidentschaftskampagne 2018. Es war vielleicht die gewalttätigste Wahl, die wir je gesehen haben. Einige Anarchist:innen entschieden sich, für Politiker:innen zu stimmen, die gegen Bolsonaro kandidierten, als Strategie, um Frauen, Schwarze und Indigene zu unterstützen; andere hielten die Kampagne für die Nullwahl aufrecht, was eine sehr komplexe Diskussion innerhalb des brasilianischen Anarchismus erzeugte.
Nach der Wahl gab es eine gewisse Panik, da wir eine Welle von rechter Gewalt auf den Straßen erlebten. Diese Gewalt ist immer noch sehr stark, aber wir sahen auch eine Umgruppierung der sozialen Bewegungen. Gruppen, die sich in Bezugsgruppen organisiert hatten, öffneten sich, um ihre Kräfte zu bündeln und etwas Stärkeres aufzubauen. Es fanden mehrere Streiks statt, sowie viele antifaschistische und antirassistische Demonstrationen. Wir glauben, dass die Menschen verstanden haben, dass es notwendig ist, sich gegenseitig in ihren Kämpfen zu unterstützen, anstatt nur für ein bestimmtes Bedürfnis zu kämpfen.
Wie ist die Situation für indigene Menschen unter Bolsonaro? Wie organisieren sich indigene Menschen?
Dies könnte eine der schlimmsten Zeiten seit der Ankunft der Europäer:innen in Amerika sein. Wenn es um kriminelle Handlungen gegen indigene Bevölkerungen geht, wird den Täter:innen Legitimität und Straffreiheit gewährt. Indigenes Land wurde eingenommen und angegriffen, Wälder wurden in Brand gesetzt, indigene Anführende wurden ermordet, indigene Rechte wurden weggenommen, der Bevölkerungshass gegen Indigene wird gefördert. Und all das ist ein Plan, der von der Regierung Bolsonaros organisiert wird.
Ende 2019 begann Bolsonaro mit der Militarisierung der FUNAI [Fundação Nacional do Índio, oder National Indian Foundation], einer öffentlichen Institution, die für die Demarkierung von indigenem Land und die Bedürfnisse der indigenen Völker zuständig ist. Sofort gab es Besetzungen in FUNAI-Gebäuden gegen diese Militarisierung. Hier, in unserer Region, besetzten 300 Indigene das Gebäude und die Menschen kämpften 28 Tage lang gegen die Militarisierung der FUNAI. Dies geschah auch in anderen Städten Brasiliens. Leider hat das Militär die Führungspositionen bei FUNAI übernommen und als Folge davon hat FUNAI aufgehört, Familien und soziale Projekte zu unterstützen, die darauf abzielen, indigene Gemeinden zu unterstützen. Infolgedessen ist der Kampf intensiver, aber auch gefährlicher geworden, vor allem im Amazonasgebiet und in Bundesstaaten, in denen es massive Rinderfarmen gibt. Überall in Brasilien kämpfen die Menschen ums Überleben und es ist wichtig, dass wir Rebell:innen zu diesem Widerstand stehen.
Beschreibt die Solidaritätsarbeit, an der ihr beteiligt seid.
Wir nutzen verschiedene Werkzeuge des Kampfes und streben nach Autonomie. Eines dieser Werkzeuge ist die Permakultur: die Planung nachhaltiger Umgebungen und die Anwendung ökologischer Techniken, um Häuser mit lokalen Materialien zu bauen. Im Jahr 2012 wurden wir eingeladen, die neuen indigenen Gemeinden zu unterstützen, die in unserer Region gebaut wurden. Das Gebiet war zuvor von einer Bergbaufirma beherrscht worden, die die Indigenen von ihrem eigenen Land vertrieben und die natürlichen Ressourcen über 50 Jahre lang ausgebeutet hatte.
Am Anfang unterstützten wir den Bau von Häusern in den Gemeinden. Im Laufe der Zeit haben wir uns dann auch für andere Bedürfnisse der Familien und ihrer Kämpfe eingesetzt.
Unsere Hauptaufgabe ist es, die Projekte der indigenen Gemeinden zu unterstützen. Es geht darum, das Selbstwertgefühl der Gemeinschaft zu stärken, Vorurteile abzubauen, gemeinsame Veranstaltungen durchzuführen, um die Träume der Gemeinschaft zu verwirklichen, aber vor allem, im Widerstand und Kampf zusammenzustehen.
Diese Familien haben ihr ganzes Leben lang für ihr Land gekämpft. Sie wurden von den Jesuit:innen verfolgt, von Landwirt:innen, von Immobilienspekulant:innen, von Bergbauunternehmen. Seit dem Jahr 2000, dem Jahr, in dem sie ihr Land übernehmen konnten, kämpfen sie darum, in diesem Gebiet zu bleiben, während sie ihre Kultur und ihre Lebensweise wiederherstellen.
Wir unterstützen sie in ihren Kämpfen; beim Bau ihrer Häuser, Gemeinschaftsküchen, Gemüseanbaugebieten und ökologischen Sanitäranlagen; in Kursen und Workshops; und in ihren Kämpfen gegen den Staat. All das wird durch horizontale Beziehungen aufgebaut und unser Ausgangspunkt sind immer die Wünsche der Gemeinschaft.
Gibt es weitere Beispiele in Brasilien, wo Anarchist:innen und indigene Gemeinschaften zusammenarbeiten?
Es gibt Leute, die diesen Kampf unterstützen und einige Anarchist:innen, deren Großeltern Indigene sind, haben auch versucht, innerhalb der indigenen Gemeinden und ihren Kämpfen zu leben. Es gibt auch ein paar Solidaritätsgruppen, die mit verschiedenen ethnischen Gruppen an mehreren Orten in Brasilien arbeiten.
Jetzt, mit der Pandemie, ist dies effektiver geworden und es gibt ein Netzwerk, das anarchistische Gruppen, die indigene Kämpfe unterstützen, zusammenschließt. Dies ist derzeit ein laufender Prozess.
Was sind einige der Herausforderungen in der indigenen Solidaritätsarbeit?
In Brasilien gibt es unzählige Kämpfe und wir müssen uns vieler verschiedener Dinge gleichzeitig bewusst sein. Es gibt Gruppen, die sich auf bestimmte Themen konzentrieren, aber wir verstehen, dass es wichtig ist, die größtmögliche Anzahl von Kämpfen zu unterstützen, damit wir niemanden zurücklassen. Aufgrund der Anzahl der Kämpfe und einer Wirtschaft, die sich im Verfall befindet, wird die Unterstützung von Bevölkerungen, die am Rande des Elends oder im absoluten Elend leben, zu einer Herausforderung, da sie ihre Lebensweise nicht mehr aufrechterhalten können. Das Leben indigener Familien ist ein ewiger Kampf ums Überleben und meistens muss man alles auf der Basis von Solidarität und mit knappen Ressourcen tun.
Der Mangel an Ressourcen und die geringe Anzahl an Menschen, die an so vielen Fronten kämpfen, sind enorme Herausforderungen neben unserem Überlebenskampf. Den Kampf der Indigenen zu umarmen, der der konstanteste Kampf in Brasilien ist, bedeutet, dass wir uns voll und ganz zurücknehmen, um die Auswirkungen der westlichen Kultur und des Kapitalismus auf diese Familien zu minimieren.
Gibt es Gemeinsamkeiten, die eure Erfahrungen in der Anarcho-Punk-Bewegung und den indigenen Gemeinschaften verbinden?
Ja, es gibt unglaubliche Verbindungen, die wir im Laufe der Zeit bemerkt haben, da wir in der Nähe der Gemeinschaften leben. Das gegenseitige Unterstützungsnetzwerk, die Versammlungen, die Bedeutung der Musik als Kampfmittel, die Beziehung zur Bildung, konsensbasierte Entscheidungsfindung, das Reisen von einer Gemeinschaft zur anderen, das Kümmern umeinander. All das ist uns aus den Punk-Traditionen vertraut, an die wir glauben und die wir in unserem eigenen Leben lebendig halten wollen.
Der Hauptunterschied ist unserer Meinung nach ihre Beziehung zur Natur, zum Planeten. Unsere indigenen Gefährt:innen sehen sich selbst als Teil der Natur neben allen anderen Tieren und Pflanzen, während wir als Menschen der Zivilisation versuchen, uns abzukoppeln und Krisen in und außerhalb von uns zu schaffen.
Wie können Menschen eure Projekte und andere wichtige anarchistische und indigene Projekte in Brasilien unterstützen?
Wir konzentrieren uns auf drei Projekte. Semente Negra, unser soziales Zentrum, das mitten im atlantischen Wald liegt, ist der Ort, an dem wir mit Permakultur arbeiten, sowie ein Siebdruckstudio, ein Tonstudio, unsere Druckerei und unser Zuhause. No Gods No Masters ist unser Verlag und Vertrieb für Punk, Anarchismus, Feminismus, Veganismus und andere Materialien, die mit Kampf zu tun haben. Und Vivência na Aldeia ist unser Solidaritätsprojekt, das mit indigenen Gemeinschaften arbeitet.
All diese Projekte aufrechtzuerhalten ist mühsam, aber es ist seit vielen Jahren ein Teil unseres Lebens. Das ist es, was wir sind und wir stecken unsere Energie in all das. Manchmal sind wir gezwungen, kleinere Schritte zu machen und zu wählen, was wir priorisieren, weil wir nicht das Geld für all die Dinge haben, die wir gerne machen würden. Wir stecken unsere besondere Anstrengung in all die Dinge, die wir auch ohne Geld erreichen können. Das hat eine sehr wichtige Bedeutung, denn es ist der Raum, in dem wir die Dinge auf eine persönlichere Weise praktizieren können, durch Beziehungen der Liebe und Freundschaft. Das ist es, was wir in all unseren Projekten und mit all den Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, anstreben.
In normalen Zeiten versuchen wir, durch die von uns organisierten Veranstaltungen und den Verkauf von T-Shirts Geld für die Solidaritätskampagnen und für Projekte in den indigenen Gemeinden zu sammeln. Alle Aktivitäten selbst werden in Zusammenarbeit mit den Gemeinden durchgeführt. Allerdings sind wir nie in der Lage, genug Geld zu sammeln, da die Gemeinschaften mit so vielen Problemen konfrontiert sind, die Kämpfe, die sie führen müssen, und die Träume, die sie sich erfüllen wollen.
Seit dem Beginn der COVID-19-Pandemie im März 2020 haben wir einen Online-Shop erstellt, um den Verkauf von Kunsthandwerk unserer Gefährt:innen zu unterstützen, damit sie ihr Land nicht verlassen müssen, um es zu verkaufen und die Familien durch ihre Kultur am Leben und Produzieren zu halten. Bald darauf halfen wir dabei, eine Kampagne namens Alimentação e Vida na Aldeia [„Essen und Leben im Dorf“] zu starten, die darauf abzielt, Ernährungssouveränität für die elf Gemeinden in der Gegend, insgesamt etwa 500 Indigene, zu erreichen. Leider befindet sich dieses Land, wie gesagt, in einem Gebiet, das von einer Bergbaufirma verwüstet wurde, sodass die Bepflanzung immer noch eine große Herausforderung darstellt. Deshalb zielt die Kampagne darauf ab, Nahrung und Informationen zu den Gemeinden zu bringen.
Wir müssen das Bewusstsein für die Realität der sozialen Kämpfe in Brasilien und die Situation der indigenen Bevölkerung schärfen. Wir müssen Unterstützung für eine breite Palette von Projekten aufbauen. Solidarität, Kampf und gegenseitige Unterstützung sind unsere besten Waffen.
Du kannst mehr über diese Projekte durch die Webseiten erfahren:
[1]In den Vereinigten Staaten wurde das Wort „libertär“ von jenen vereinnahmt, die sich nur um die Freiheit kümmern auf Kosten anderer zu profitieren und ihre unrechtmäßig erworbenen Gewinne zu verteidigen. Überall sonst auf der Welt bedeutet es genau das, was du erwarten würdest: antiautoritär.