Der folgende Artikel, verfasst von Afinidades Conspirativas (englische Version bei It’s Going Down), untersucht die jüngste Welle von feministischen Protesten und Aktionen in ganz Mexiko und die Rolle des Anarchismus inmitten dieser Mobilisierungen.
Die Vielfalt der Formen, die Anarchismen in den letzten Jahrzehnten angenommen haben, führt uns dazu, die Tendenzen und Strategien, die sich neu konfigurieren oder aus diesen Formen hervorgehen, sowie ihre Einflüsse auf andere Kämpfe neu zu untersuchen. Hier ist es notwendig, ein Prinzip zu unterscheiden, das die Anarchismen von den liberalen oder linken Gruppen unterscheidet, die als anarchistisch gelten. Wir könnten dieses Prinzip als eine Ethik definieren, die, aus einer gemeinsamen Individualität heraus geschaffen, zu einem Affront gegen jede Form von hierarchischer Macht wird. Anarchismus heute als eine Ideologie zu verstehen, wäre eine Kurzsichtigkeit in Anbetracht der Entwicklung von Entgleisungen wie dem „Anarchokapitalismus“ oder einem Verständnis des Zapatismus und vieler Formen des Feminismus. Wenn man über Letzteres nachdenkt, sollte man sich an Emma Goldman erinnern, die gegen die Stimmrechtlerinnen ihrer Zeit (die erste Welle des Feminismus) schimpfte, basierend auf dem Verständnis, dass Freiheit nicht an der Wahlurne erreicht werden kann. Die heutigen Feminismen sind sehr vielfältig: es gibt die Reformist:innen mit Sympathie für den Staat, mit autoritären und essentialistischen Ansichten über den Körper; sowie andere, die völlig liberal sind, vereint unter dem Banner des Fehlens einer überzeugenden Kritik gegen die Macht; aber unter ihnen sind auch einige, die sich unter einer anarchistischen Ethik zusammenfinden.
Kurze Chronologie der Bewegung
Feministische Mobilisierungen in verschiedenen Teilen der Welt haben sich verstärkt. In Lateinamerika wurde dies am deutlichsten nach dem Ausbruch der sogenannten „grünen Welle“, die 2018 die Entkriminalisierung der Abtreibung in Argentinien forderte. Ihr Einfluss wurde schnell in Mexiko sichtbar. Die Märsche und feministischen Auftritte wurden zu Trends in den sozialen Medien und im öffentlichen Raum. Am Arbeitsplatz, in Schulen, innerhalb von Institutionen und sogar in linken oder anarchistischen Räumen wurde die anonyme Anklage zu einem politischen Instrument, um jede Form von Aggression, die als „geschlechtsspezifische Gewalt“ verstanden wurde, aufzudecken. Eine Aktion, die die Positionen der Anarchist:innen destabilisierte, da gelegentlich die Justiz des Staates aufgerufen wurde, sich mit den Aggressoren auseinanderzusetzen. Sogar viele der Angeklagten wurden zu eifrigen Legitimatoren des Gerichtsverfahrens und verlangten Beweise oder offizielle Anklagen, um ihre Angriffe zu beweisen oder zu widerlegen. Dies schränkte die Möglichkeit ein, über Wege zur Lösung dieser Prozesse nachzudenken oder zu schaffen, ohne auf den Staat angewiesen zu sein.
In diesem Kontext sehen wir nun eine ziemlich enge Verbindung zwischen Anarchismen und Feminismen. Wir können nicht bestimmen, welche Positionen, Kollektive oder Individualitäten als Anarchafeminist:innen anerkannt werden sollten, da sie sich in einem ständigen Prozess der Konsolidierung und Neuformulierung befinden. Am 16. August 2019 riefen verschiedene Gruppen und Kollektive in Mexiko-Stadt zu einer Mobilisierung auf, um Gerechtigkeit für eine junge Frau zu fordern, die von Cops vergewaltigt wurde. Der Protest endete mit einem Aufstand von Frauen, die öffentliches Eigentum verwüsteten, und mit dem Brand einer Polizeistation.
Der Staat machte seinerseits eine Show der „geschlechterorientierten“ Repression, typisch für die progressive Agenda, die er beansprucht. In den ersten Tagen des Juli 2020 wurde ein Lager vor dem Nationalpalast von den Angehörigen der ermordeten Frauen, die vor Gericht keine Gerechtigkeit gefunden haben, errichtet. Auf dem Höhepunkt der Pandemie nahm die Zahl der Femizide und der Vorfälle häuslicher Gewalt zu. Angesichts dessen behielt der Präsident seine machistische und konservative Haltung bei, leugnete die Tatsache rundheraus und förderte den Verkauf von Tombola-Losen für das Präsidentenflugzeug. Wie zu erwarten war, waren verschiedene Gruppen darüber verärgert. So protestierte ein Jahr nach dem Brand der Polizeistation am 16. August erneut ein schwarzer Block von weniger als 200 Frauen, die von der Hitze von 1600 weiblichen Bereitschaftspolizistinnen, die sie grschickt angriffen, erstickt wurden. Schließlich wurde das Lager vor dem Nationalpalast abgebaut, da es unter ständiger Schikane der Behörden stand und das schlechte Wetter dabei nicht half.
Am 2. September 2020 hatte María Isela Valdez, die vor dem Präsidenten niedergekniet war und ihn um Gerechtigkeit für das Verschwinden ihres Sohnes im Jahr 2014 bat, einen Termin in den Büros der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH), die sich im historischen Stadtzentrum, nur wenige Blocks vom Nationalpalast entfernt, befand. Bei dieser Gelegenheit stellte sich María Isela zusammen mit Marcela Alemán und Silvia Castillo, Mütter eines Mädchens, das vergewaltigt wurde, und eines jungen Mannes, der ermordet wurde, der derzeitigen Leiterin des CNDH, Rosario Piedra, vor. Sie weigerte sich, sich mit ihnen zu treffen, weil sie ihre Fallakten nicht im richtigen Format mitbrachten. Als Antwort auf diese Ablehnung drohte Silvia mit Selbstmord, und Marcela beschloss, sich an den Stuhl zu Ketten. Siehe unseren Bericht hier.
Rosario Piedra, die CNDH und die Tentakel der Macht
Nun, wer ist Rosario Piedra? Sie ist die Tochter der Aktivistin Rosario Ibarra, eine der ersten Mütter, die einen Fall untersuchte, nachdem ihr Sohn Jesús Piedra 1974 inhaftiert wurde, weil er angeblich mit einem Mord in Verbindung stand, der von der „September 23rd Communist League“ begangen wurde. Seitdem hat sie die Untersuchung des Falls ihres Sohnes geleitet und das Komitee zur Verteidigung der politischen Gefangenen, Verfolgten, Verschwundenen und Verbannten (Comité ¡Eureka!) gegründet. Gegenwärtig ist die Schwester von Jesús Piedra die Leiterin der Organisation, die angeblich für die Achtung der Menschenrechte sorgt und vom Präsidenten für dieses Amt geweiht wurde. Angesichts dessen sollten wir uns fragen, wie sich der Schmerz, einen Bruder durch die Hände des Staates zu verlieren, in den Wunsch nach einem Regierungsposten verwandelt? Auch wenn man uns zurechtweisen kann, indem man sagt, dass sie versucht, die Gesellschaft zu verbessern, in der Hoffnung, dass ihr Schmerz von niemand anderem erfahren wird, wird diese Verbesserung nie über die Parameter hinausgehen, die dem Staat oder den Händen des Kapitals angemessen sind. Daher können wir von ihr nicht mehr erwarten als eine gute Verwaltung und Führung unseres Lebens. Als Anarchist:innen kann uns kein:e Regierungsbeamt:er/in die Freiheit bieten, die wir uns wünschen, geschweige denn die Gerechtigkeit, die wir fordern.
Der „Nicht eine weniger“-Okupa: Eine Nadel im Herzen des Staates
Nachdem Marcela Alemán sich an den Stuhl gekettet hatte, begannen Feminist:innen zum CNDH zu kommen, um sie zu unterstützen. Vier verschiedene Kollektive kamen und übernahmen das Gebäude und proklamierten es als „Okupa“ [Besetzung/Unterkunft/Zufluchsort]. Später verließen die Frauen, die den Protest als erste begonnen hatten, das Gelände. In den folgenden Tagen benannten sie den Ort in „Not One Less Okupa“ um und beschmierten die Gemälde historischer Persönlichkeiten wie Francisco I. Madero oder Morelos – ein Akt, der den Präsidenten erzürnte.
Dieses Ereignis ermutigte mehr Frauen, gegen CNDH-Büros in anderen Staaten vorzugehen. Eine davon war die Übernahme der Menschenrechtskommission des Staates Mexiko (CODHEM) in Ecatepec am 10. September. Um die Aktion zu wiederholen, drangen sie in das Gebäude ein, doch am frühen Morgen des folgenden Tages kam die Polizei in nicht gekennzeichneten Fahrzeugen an, um sie gewaltsam aus dem Raum zu entfernen und festzunehmen. Als Reaktion auf diese Ereignisse prangerte die „Nicht Eine Weniger“-Okupa das Vorgehen der Regierung an, und auf der anderen Seite beschlossen einige Personen, noch am selben Tag in das Gebäude der Ecatepec zu gehen, um es zu zerstören und anzuzünden.
Unter diesen Umständen besetzte am Samstag, den 12. September, eine Gruppe maskierter Frauen die U-Bahnstation Chabacano und forderte ein Ende der polizeilichen Schikanen gegen informelle Verkäufer:innen, die ihre Produkte in der U-Bahn-Station ausliefern. [Angesichts der durch die Pandemie verursachten wirtschaftlichen Verwüstungen haben sich viele Menschen dafür entschieden, Artikel online zu kaufen und zu verkaufen. Um größere Ausgaben sowohl für diejenigen, die kaufen als auch verkaufen, zu vermeiden, werden die Transaktionen persönlich durchgeführt, wobei die Metro als Treffpunkt genutzt wird. In den letzten Monaten hat die Polizei jedoch damit begonnen, diejenigen zu verhaften, die dies tun, mit dem absurden Argument, dass dies illegalen Verkäufer:innen Vorschub leistet.]
Am 14. September veranstaltete die „Manada Periferia“ eine Aktion auf der Fußgängerbrücke im Valle de Aragón, Nezahualcóyotl, Bundesstaat Mexiko. Zur gleichen Zeit fand in der Nicht-Eine-Weniger-Okupa eine „Anti-Grita“ statt, mit einem künstlerischen und kulturellen Programm und einer Kundgebung mit einigen der geschädigten Mütter. Bei dieser Veranstaltung zeigte sich Yesenia Zamudio, die die Nationale Front „Not One Less“ anführt, von einer autoritären Seite, und am folgenden Tag wurden verschiedene Reibereien öffentlich, die später zu einer internen Spaltung der Fraktionen innerhalb der Okupa führten. Eine von ihnen, genannt der „Okupa Black Bloc“, war die Hauptfraktion, die sich von Zamudio distanzierte, weil sie die Namen einiger Compañeras preisgab und sie dadurch in Gefahr brachte; wegen der offensichtlichen Zweckentfremdung von Geldern, die gesammelt worden waren; und um Erika Martínez, die Mutter eines siebenjährigen Mädchens, das vergewaltigt wurde, zu unterstützen.
Und obwohl dies wie ein Abklingen der Bewegung aussah, blockierten Demonstrierende am Morgen des 18. September die Eingänge der University City [an der UNAM] und brannten dort Eigentum nieder, beschädigten zwei Sicherheitsfahrzeuge des Campus und sprühten Graffiti, als Reaktion auf die Verhaftung von Elis Hernández, die im April letzten Jahres wegen ihrer angeblichen Beteiligung an dem Brand eines Gebäudes der Hochschule Acatlán inhaftiert wurde (sie wurde inzwischen freigelassen). Bis jetzt scheint das „Not One Less Okupa“ sicher zu sein, bewohnt von Frauen, Kindern und einigen älteren Personen. Während des ganzen Monats ist der Raum für die Allgemeinheit geöffnet geblieben, mit verschiedenen Workshops und Veranstaltungen, wie z.B. „der kleine Markt“ (wo Frauen verschiedene Produkte verkaufen können), hat aber die Position beibehalten, dass nur Frauen an dem Raum beteiligt sind.
Polizeiliche Repression unter dem Schoß der Athenas
Am 27. September brachte ein Marsch, der zur Entkriminalisierung der Abtreibung im Land aufrief, nicht mehr als 50 Frauen heraus. Sie verließen das Not One Less Okupa und wurden von Dutzenden von Bereitschaftspolizist:innen, hauptsächlich Frauen, mindestens ein paar Stunden lang eingekesselt, bis sie schließlich in ihre Okupa zurückkehren konnten. Es ist erwähnenswert, dass mehrere Blöcke im zentralen Bereich von Mexiko-Stadt von Polizeieinheiten geschützt wurden. Seit 2019 ist der Einsatz der weiblichen Bereitschaftspolizei durch den Staat, um die feministischen Mobilisierungen einzudämmen oder einzuschüchtern, zu einer subtilen Strategie geworden, um in den Augen der Bürgerinnen und Bürger die Repression, die vor allem gegen Frauen andauert, zu mildern.
Zu diesem Zweck gibt es in der Hauptstadt des Landes die Gruppe Athena, Teil des Ministeriums für öffentliche Sicherheit, unter der Leitung von Itzania Otero, die beauftragt wurde, den Staffelstab zu übernehmen, wenn die Zeit gekommen ist, sich den Protesten der Frauen zu stellen, immer begleitet von männlichen Polizisten, die als Verstärkung hinter ihnen bleiben. In anderen Staaten hat man die gleiche Strategie ebenfalls gesehen. Man müsste sehr naiv sein, um zu glauben, dass eine Polizistin ein geringeres Übel ist, doch selbst unter einigen Protestierenden gibt es solche, die es gutheißen, dass der Knüppel von einer Frau und nicht von einem Mann geführt wird.
Die Aktionen, die sich am folgenden Tag im Rahmen des Globalen Aktionstages für legalen und sicheren Zugang zu Abtreibung ereigneten, wurden von dem Medienzirkus überschattet, den die offiziellen Medien wegen der Auseinandersetzung zwischen den Protestierenden und den Athenas inszenierten, als das Bild einer weinenden Frau aus der Gruppe der Athenas gezeigt wurde. In Aussagen von Behörden behaupten sie, dass weder Tränengas noch andere Mittel eingesetzt wurden, um die Demonstrierenden einzudämmen. Dutzende von Fotos zeigen jedoch, dass es verwendet wurde – zusammen mit Aussagen der Demonstrierenden selbst. Diese Athena, die weinend gesehen wurde, ist also eine Folge des von ihren Compañeras verwendeten Gases und nicht, weil sie von eine der Feminist:innen angegriffen wurde.
Aktionen in anderen Staaten
Am 5. September wurden etwa 40 Frauen, die friedlich protestierten, im Bundesstaat Chihuahua verhaftet. Am 10. September besetzten und verwüsteten feministische Frauen die Büros des CNDH in Michoacán zur Unterstützung der Kollektive in Mexiko-Stadt. Am selben Tag kam es in Tabasco und Aguascalientes zu symbolischen Blockaden der CNDH-Büros. Auch in Puebla gab es Proteste vor den Büros der Kommission. Am darauffolgenden Tag besetzten Frauen das Gebäude des CNDH im Hafen von Veracruz, um die „Not One Less Okupa“ zu unterstützen. Am 13. September gab es Proteste vor der Staatlichen Menschenrechtskommission (CEDH) in Monterrey. Zusammen mit der Anti-Grita in der Hauptstadt fand eine ähnliche Veranstaltung in Tijuana im Kulturzentrum von Tijuana (CECUT) statt, wo sie protestierten und Slogans sprühten. Einen Tag später fand in Guadalajara eine Versammlung und Anti-Grita in der Rotunda of Illustrious Jaliscienses statt. Schließlich, am frühen Morgen des 18. September, wurde in der Stadt Xalapa das Fraueninstitut von Veracruz verwüstet. Bis heute haben sich weitere Akte dieser Art im ganzen Land ereignet.
Abweichende Pfade: Anarchismen, Feminismen, oder Anarcha-Feminismen
Im 21. Jahrhundert wurde der Einfluss verschiedener Strömungen des Anarchismus auf verschiedene soziale Bewegungen und Prozesse festgestellt, was nicht heißen soll, dass diese notwendigerweise anarchistisch waren. Auch David Graeber, der Anfang September verstorbene „anarchistische Anthropologe“, kommentierte die Positionen und Einflüsse der Bewegungen, die anarchistische Strategien in ihrem Handlungsrepertoire artikulierten. Daher ist es notwendig, diesen Punkt nicht aus den Augen zu verlieren: dass verschiedene soziale Gruppen der progressiven Linken sich anarchistische Diskurse, Praktiken und sogar Ästhetik angeeignet haben, ohne wirklich konkrete Aktionen gegen die Macht zu formulieren und vorzuschlagen, denn ihre wahre Absicht ist es, ein Teil davon zu werden. Als Ergebnis wird ein Pseudoanarchismus geschaffen, dem ein antiautoritäres Ethos fehlt, das im Namen einer angeblichen revolutionären Transformation Zugeständnisse der Macht durch die Institutionalisierung von Forderungen und die Kanalisierung der Wut an den Galgen der Legalität erzeugt, die Reichweite des Staates ausdehnt und diejenigen kriminalisiert, die seine Logik überschreiten.
Aus dieser Perspektive haben viele eine anarchistische Auffassung der feministischen Mobilisierungen in Mexiko gegeben, wo die Menschen in schwarz mit grünen oder lila Bandanas gekleidet sind, Rechte fordern und nach Gerechtigkeit schreien. Und ja, während es einen direkten Einfluss anarchistischer Ideen gibt, gibt es auch bürgerliche Ideen. Der Aufruhr darüber, Frauen zu sehen, die sich gegen die Athenas stellen, sollte uns nicht blind machen für das, was geschieht. Andererseits zeigt uns die Geschichte des Anarchismus, wie sich Anarchist:innen aus verschiedenen Momenten und Räumen mit sozialen Mobilisierungen verbunden haben, denen anarchistische Ideale fehlen. Hier finden wir uns in der gemeinsamen Sache wieder, der Verbesserung des Individuums innerhalb eines Zustandes der Unterdrückung, und auch hier liegt ein grundlegender Unterschied, wie man das durchführt: den Parametern der Zivilität und Legalität des Augenblicks folgen, oder sie herausfordern und die Risiken auf sich nehmen, nicht nach Krümeln fragen, sondern den Machthabenden ihren Frieden entreißen. Dann würde die Frage lauten: Was sind die Parameter, nach denen wir diese Verbesserungen suchen? Könnte es nicht vielleicht sein, dass diese Verbesserungen dazu dienen würden, uns im Rahmen der Herrschaft bei Laune zu halten?
Im 21. Jahrhundert ist es klar, dass viele Anarchist:innen sich in bürgerliche Prozesse verwickelt haben. Aber warum geschieht dies? Liegt es daran, dass Anarchist:innen sich gerne an reformistischen Prozessen beteiligen? Die Antworten sind komplex, aber wenn wir das Beispiel des Anarchosyndikalismus aufgreifen, können wir sagen, dass wir als Anarchist:innen, unter uns und denen, die mit uns verbunden sind, immer die Freiheit in der einen oder anderen Form suchen werden, sei es, dass wir das Leben, das sie uns anbieten, aufgeben oder die Bedingungen, in denen wir uns befinden, verbessern. Das ist nicht definitiv, denn es wird Momente in unserem Leben geben, in denen wir mehr zur einen oder anderen Seite neigen, je nachdem, was wir für notwendig halten. Ein:e Student:in zu sein, ist etwas, das viele Anarchist:innen durchgemacht haben, ein Moment des Lernens für einige; eine Zeitverschwendung für andere, wenn es darum geht, anarchistische Ideale in die Tat umzusetzen. Sich einem sozialen Konflikt anzuschließen ist eine Erfahrung, die dazu gedient hat, unsere Positionen neu zu beleben, sie zu überdenken, anzupassen oder vielleicht zu vergessen. Also, was bedeuten die gegenwärtigen feministischen Mobilisierung für uns? Wo verorten wir uns in ihnen? Und vor allem, wo positionieren sie uns, als Anarchist:innen, ihre Kämpfe entweder zu dementieren oder zu loben?
Diejenigen, die das Black-Bloc-Kollektiv bilden, befinden sich in einem gefährlichen Szenario, das ihrer Autonomie und ihrer antiautoritären Perspektive schaden könnte. Bis jetzt haben sie um Spenden aller Art gebeten, aber eine Geldspende, die sie von der Geschäftsfrau Beatriz Gasca erhalten haben, könnte ihre Position als Anarchist:innen in Frage stellen, da dieser Akt die gesamte Kritik an der Macht, die Anarchismen mit sich bringen, verwischt. Ihre Beziehung zu ihr kann nicht die Konfrontation mit der Gesamtheit des Herrschaftsregimes einbeziehen, zumal Gasca die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, gebeten hat, auf die Forderungen der Besetzenden zu antworten. Wir glauben nicht, dass es hier notwendig ist, zu erklären, warum eine Geschäftsfrau nicht als Teil des anarchistischen Kampfes betrachtet werden kann. Während einige aus diesen sozialen Bewegungen in der Überzeugung hervorgehen, dass unser massivstes Vorhaben der Konflikt mit der Autorität ist, unser Leben aus dieser Denkweise heraus neu zu gestalten, der Kontrolle zu entkommen und ein negierendes Glück zu projizieren; begeben sich andere auf einem One-Way-Trip auf dem Weg des Staates. Wir werden immer wieder Beispiele dafür sehen (und haben gesehen), wie zum Beispiel das von Rosario Piedra. Ein Weg, auf dem Erika Martínez enden könnte, wenn sie ihre Augen nicht öffnet, oder wenn sich ihre Ansichten nicht in einem Bruch mit dem Staat kristallisieren.
Wenn wir als Anarchist:innen uns der Grenzen unserer sozialen Interventionen nicht bewusst sind, werden die Erzählungen, die nicht den Bruch mit der Macht selbst suchen, uns am Ende kennzeichnen und ausschöpfen. Dies ist sehr deutlich in Bezug auf die Erzählung über die Kriminalisierung und Stigmatisierung von heimlichen Abtreibungen durch wichtige feministische Sektoren, die behaupten, dass diese „Freiheit“ oder dieses „Recht“ durch den Staat praktiziert werden sollte, unter strenger, geschlechtsspezifischer Überwachung. Sie verteidigen diesen bürokratischen Sieg, indem sie davon ausgehen, dass alle Abtreibungen außerhalb des „feminisierten“ Rahmens der Legalität unerwünscht, ungesund oder unsicher sind, bis hin zu dem Punkt, dass sie wieder „illegal“ werden. Aus einer anarchistischen Perspektive muss die Kriminalisierung bekämpft werden, sei es in einem positiven oder negativen Licht gestellt. Legal oder illegal, mit oder ohne staatliche Mittel (und ihre Mitwirkenden), Abtreibung wird praktiziert werden und als solche werden wir sie verteidigen. Wir können uns nicht den Schweiß von der Stirn wischen und einen triumphierenden Seufzer ausstoßen, wenn wir die Abtreibung legalisiert sehen. Seine Legalisierung hängt mit den aktuellen sozio-politischen Umständen zusammen und kann in einem Wimpernschlag inmitten patriarchalischer und konservativer Angriffe zerbröckeln.
Aus diesem Grund ist es in diesen rebellischen Gewässern wichtig, zu erkennen, wie man sich nicht in den Netzen derer verfangen kann, die nach Macht fischen. Die verneinenden, zerstörerischen und rebellischen Fähigkeiten der Frauenmobilisierungen (nicht nur bei den Protesten, sondern auch bei anderen Arten von Interventionen, wie z.B. Hebammen, Frauenzirkeln, der Wiederbelebung der Naturmedizin, usw.) sind diejenigen, die das patriarchalische Wertesystem in den Griff bekommen haben. Die Macht wird durch die entstehende Spannung gestört. Die Freiheit der Wahl in jedem Teil unseres Lebens mehr zu einer „Tatsache“ als zu einem „Recht“ zu machen, ist eine Arbeit, die in unserer täglichen Praxis beginnen sollte: Solidarität unter den Frauen, Komplizenschaft, Bekämpfung von Männlichkeitswahn und Transgression durch direkte Aktion ist das, was in Wirklichkeit unsere Individualität umsetzen wird und was die Angst dazu bringt, die Seiten zu wechseln. Heißt das, dass man die staatlichen Abtreibungskliniken nicht benutzen sollte? Nein! Sie werden mit Kühnheit und nach Bedarf benutzt werden, ohne von dem ewigen Widerspruch, dem die Realität uns unterwirft, überwältigt zu werden, ohne den Staat und das kapitalistische Projekt zu akzeptieren, ohne aufzuhören, die Selbstverwaltung unserer Kämpfe zu planen und ohne die Suche nach einem allgemeinen gesellschaftlichen Konsens aufzugeben. Der Kapitalismus verkauft uns die Abtreibung als ein weiteres Stück Ware, so wie er es mit dem Feminismus, der Queerness, dem Veganismus und einer langen Liste von Positionen und Aktivitäten getan hat. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass das anarchische Messer nicht seine Schärfe verliert.
Lasst die Angst die Seiten wechseln!
Ohne Führer oder Manager!
Ohne rosarote Welten zur Tarnung von Autorität!
Lasst uns so frei sein, dass nicht einmal ihre Legalität uns kontrollieren kann!
Lasst uns frei und wild sein!
Mexiko, 16. Oktober 2020