Am Jahrestag der Oktoberrevolution von 2019 zeigen die irakischen Demonstrierenden eine erneuerte Entschlossenheit, ihre eigene Geschichte zu schaffen und ihre eigene Zukunft zu gestalten.
Übersetzung eines RoarMag-Artikels
Am vergangenen Sonntag, ein Jahr nachdem die irakische Oktoberrevolution in Schwung gekommen war, versammelten sich wieder Tausende von Demonstrierenden auf dem Tahrir-Platz in Bagdad. Der Aufstand vom letzten Jahr wurde mit gemischten Gefühlen von Stolz und Trauer begangen, und mit vielen tausend Demonstrierenden, die sich verschiedenen Märschen anschlossen, die alle in Tahrir gipfelten. Das Zusammenkommen vermittelte auch den Eindruck das revolutionäre Potential des Aufstandes neues Leben einzuhauchen. Die Menschen reisten den ganzen Weg aus dem Südirak an, um auf Aufrufe von Aktivist:innen auf dem Habubi-Platz in der Stadt Nasiriya, einer weiteren Hochburg des letztjährigen Aufstandes, nach Bagdad zu marschieren und sich den dortigen Protesten anzuschließen.
Die weit verbreiteten sozialen Unruhen setzten einen politischen Prozess in Gang, der den ehemaligen Premierminister Adil Abdul-Mahdi schnell zum Rücktritt zwang, mit dem Versprechen, 2021 Neuwahlen abzuhalten. Verschiedene Kandidaten wurden vorgeschlagen, um ihn zu ersetzen, aber keiner von ihnen konnte aufgrund des anhaltenden Drucks auf der Straße genug Unterstützung erhalten.
Doch im Mai wurde der selbsternannte „reformfreudige“ Mustafa Al-Kazemi als Premierminister bestätigt mit dem Versprechen, dass seine Regierung eine „lösungsorientierte und keine Krisenregierung“ sein würde – und zwar bis zu den Wahlen im nächsten Jahr. Es gibt Gerüchte, dass Al-Kazemi etwa 300 hundert einflussreiche Aktivist:innen eingeladen hat, um über die Gründung einer neuen politischen Partei zu diskutieren. Die Meinungen unter den Demonstrierenden in Tahrir darüber sind geteilt, wobei einige sie als Verräter:innen ansehen, während andere zustimmen, dass dies die einzige Möglichkeit ist, wenn sie das politische System ändern wollen.
All dies geschah vor dem Hintergrund einer zunehmenden Feindseligkeit zwischen den USA und dem Iran, die effektiv einen Proxy-Krieg auf irakischem Boden führten, und der Verbreitung des Coronavirus, der die Protestbewegung und ihre Fähigkeit, eine große Anzahl von Menschen auf den Straßen zu mobilisieren, stark schwächte. Darüber hinaus hatten die Demonstrierenden nicht nur mit dem Zorn des irakischen Staates zu kämpfen, sondern auch mit den extrem gewalttätigen konterrevolutionären Milizen, die als Stellvertreter des iranischen Staates agieren und für viele außergerichtliche Tötungen verantwortlich sind.
Trotz der Tatsache, dass der Aufstand im letzten Jahr wenig wirtschaftliche und politische Verbesserungen gebracht hat, ist die Oktoberrevolution dennoch zu einem historischen Tag im irakischen Kalender geworden. Sie wird als eine Befreiung von den konfessionellen Ideologien, die das politische System des Irak nach 2003 dominiert haben, angesehen und erlebt.
„LASST SIE GEHEN. WIR MACHEN DAS SELBST.“
Der Aufstand im letzten Jahr folgte auf Jahre des Protests und des Aktivismus der Zivilgesellschaft; er war jedoch neuartig in seinem Umfang und seiner Fähigkeit, Druck auf die regierenden Eliten auszuüben und die Gesellschaft insgesamt zu beeinflussen. Dazu gehörte ein radikaler Bruch mit den traditionellen gesellschaftlichen Normen, von den Geschlechternormen bis hin zu konfessionellen Idealen. Stattdessen verkörperte die Bewegung eine neue vereinigende irakische Identität, die durch alte assyrische und sumerische Symbole repräsentiert wurde. Diese spielten eine wichtige Rolle in den visuellen und künstlerischen Darstellungen des Aufstandes, ebenso wie Bilder von Frauen und Tuk-Tuk-Fahrer:innen, die als Teil einer verarmten Unterschicht zu Symbolen der Revolution wurden.
Eine weitere wichtige Entwicklung war das Aufkommen der Idee eines Zivilstaates, der seinen Bürger:innen grundlegende Dienstleistungen bietet und frei von jeglicher Einmischung religiöser Autoritäten ist. Das Bewusstsein für diese Idee wurde durch zahllose Diskussionen unter Demonstrierenden und gewöhnlichen Iraker:innen auf den besetzten Plätzen im ganzen Irak geschärft und verfeinert. Vor Ort zeichnete sich der Aufstand durch ein hohes Maß an Selbstorganisation, Ausdauer und die Beteiligung vieler Jugendlicher aus, die leidenschaftlich für den Sturz des konfessionellen und korrupten politischen Systems kämpften, das nach der US-Invasion von 2003 errichtet worden war und ihnen ein menschenwürdiges Leben unmöglich machte.
Während der Proteste fasste ein Protestler die Situation wie folgt zusammen: „Innerhalb weniger Tage haben wir den Tahrir-Platz gesäubert, das türkische Restaurant renoviert, hier Strom und Internet installiert, die Straßen gestrichen, die Sicherheit gewährleistet und die Menschen mit Essen versorgt. Diese regierende Elite ist seit 16 Jahren an der Macht und sie haben uns mit nichts versorgt. Ich sage, lasst sie gehen. Wir machen das selbst.“
Die Demonstrierenden prangern jahrzehntelange Misswirtschaft, heruntergekommene Grundversorgung und Korruption an, oder besser gesagt – wie die Protestierenden es nennen – die Plünderung der Ressourcen des Irak. Die ganze Zeit über gibt es nur wenige Arbeitsmöglichkeiten für die verarmte Jugend, während die politischen Eliten durch ihre Kontrolle über die Ölvorkommen des Landes Reichtum anhäufen. Das irakische Öl trägt 60 Prozent zum BIP des Landes bei und macht 99 Prozent der Exporte aus, was es stark von den globalen Ölmärkten abhängig macht. Während das Leben der Iraker:innen also eng an die Launen der globalen Ölwirtschaft gebunden ist, werden die Öleinnahmen weiterhin durch einen Apparat aus konfessionellen und parteipolitischen Netzwerken verteilt.
MACHT, FURCHTLOSIGKEIT UND SICHTBARKEIT
Die wirtschaftliche Lage ist nach wie vor schlimm, aber der Aufstand hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Politik, das gesellschaftliche Leben und die Kultur. „Wir haben Premierminister Adil Abdul-Mahdi zum Rücktritt gezwungen“, reflektiert Ahmed, Gründer der Gewerkschaft der Tuk-Tuk-Fahrer:innen, und erklärt das neu gewonnene Vertrauen der Demonstrierenden. „Sein Rücktritt war nicht das Hauptziel des Protests, aber er hat uns gezeigt, dass wir genug Macht haben, die Dinge zu ändern.“
Nicht nur Vertrauen, sondern auch verschiedene Formen der Freiheit sind gewonnen worden. Die Frauenrechtlerin Samia (Name geändert) erklärt: „Vor dem Oktoberaufstand waren die Proteste von Männern dominiert und manchmal protestierten kleine Gruppen von Frauen mit. Die politisch-religiösen Autoritäten blieben respektiert und intakt. Jetzt kämpfen wir als Frauen gegen das politische System; wir waren genauso sichtbar und lautstark wie die Männer.“
Sie fügt hinzu, dass die Aura der Unantastbarkeit, die die traditionellen Autoritäten umgab, gebrochen war. Als die Proteste im letzten Jahr begannen, waren Frauen Teil aller Aspekte der Revolution: sie waren Teil der Sicherheitsteams des Platzes, schrieben Berichte und Artikel, kämpften an vorderster Front gegen das brutale Durchgreifen der Sicherheitskräfte, gaben medizinische Unterstützung und vieles mehr.
Ein anderer Protestler, Qassim, der als Tagelöhner auf Baustellen arbeitet, erlebte die neu gewonnene Freiheit auf eine andere Art und Weise. Er erklärte, dass, obwohl die Sadr-Bewegung jetzt das türkische Restaurant auf dem Tahrir-Platz kontrolliert, er sich weniger vor ihnen fürchtet: „Wer hätte vor der Revolution über Al-Sadr [religiös-politische Autorität und Anführer der Saray al-Salam-Miliz] scherzen können? Heute haben wir Dutzende von politischen Slogans propagiert, die deutlich machen, dass wir von seiner Ideologie nicht mehr beeindruckt sind.“
Gleichzeitig versuchen die Milizen heute eine starke Präsenz auf den Plätzen aufrechtzuerhalten, indem sie die Polizei provozieren, um friedliche Demonstrierende anzugreifen und die friedlichen Proteste in einen gewalttätigen Aufstand zu verwandeln. Während einige Demonstrierende daraufhin den Platz verlassen haben, sind andere geblieben. Die Rolle der Milizen bleibt unbeständig und schwer einzuschätzen.
So beschreibt Qassim, auch wenn sich seine wirtschaftliche Situation nicht verbessert hat, eine neu gewonnene Freiheit, die sich nicht auf den Tahrir-Platz beschränkt: „Früher nahm ich einen Weg in meine Nachbarschaft und einen anderen Weg heraus. Heute gehe ich ganz normal hinein. Einige der Leute, die zu den Milizen gehören, sehen mich heute anders an, weil sie wissen, dass ihre Macht schwindet. Auch wenn sich die wirtschaftliche Situation noch nicht gebessert hat, so habe ich doch Hoffnung in diese Revolution, da ich keine Angst mehr habe.“
TRAUERN UM DIE VERLORENEN LEBEN
Aber diese Errungenschaften haben einen hohen Preis. Während des Protests am Sonntag wurden neben den Massen der jubelnden, protestierenden und singenden Demonstrierenden Zelte und Schreine für die Märtyrer:innen der Revolution errichtet. Viele Demonstrierende trugen Bilder ihrer Angehörigen bei sich, die während des Aufstandes getötet wurden. Da die schweren Zusammenstöße zwischen den Demonstrierenden und den Sicherheitskräften andauern, wird die Liste der Namen der Märtyrer:innen, die an den Wänden eines Tunnels auf dem Tahrir-Platz geschrieben stehen, voraussichtlich noch länger werden.
Bisher wurden etwa 600 Demonstrierende getötet und Zehntausende weitere verwundet. Unter den Toten sind auch viele Aktivistinnen, in deren Gedenken am 1. Oktober ein Frauenmarsch organisiert wurde. Eine der Aktivistinnen, an die während des Marsches erinnert wurde, war Sara Talib aus Basra, die eine der ersten Frauen an der Front der Proteste war, die als Ärztin arbeitete und verwundete Demonstrierende behandelte.
Die Sicherheitskräfte, die diesen Protest begleiteten, blieben freundlich und unterstützend. Einer von ihnen trug eine Kamera und machte Fotos sowohl von den Demonstrierenden als auch von den Sicherheitskräften. Zahra, eine der Frauen auf dem Marsch, erklärte, dass dies Teil ihrer neuen Medienstrategie ist, die ihr öffentliches Image verbessern soll. Sie wollen als bürgernah dargestellt werden, aber Zahra bleibt skeptisch: „Wie können wir das akzeptieren, nachdem sie für alle Todesfälle in Tahrir verantwortlich sind?“
DER BEGINN EINES LANGEN PROZESSES
Der Oktober ist im Irak zu einem historischen Monat geworden, der von zwei Tagen des Gedenkens und Protests geprägt ist: Der 1. Oktober als Beginn des Aufstandes 2019 und der 25. Oktober als dessen Beschleunigung. Während einige Aktivist:innen anscheinend eine politische Partei gründen wollen, stehen andere zu ihrer ursprünglichen und zentralen Forderung, dass das gesamte System, welches nach der US- Invasion errichtet wurde, zusammenbrechen sollte, und fordern ein Heimatland, in dem für ihre Grundbedürfnisse gesorgt wird.
Innerhalb der zeitgenössischen Geschichte des Irak, die voller Krieg und Leid ist, erschaffen die Aktivist:innen ihre eigene Geschichte. Aufgrund der Vielfalt der Bewegung, der Bedeutung der Frauen bei der Aufrechterhaltung des Kampfes und ihrer Unterstützung unter den verarmten und arbeitslosen Iraker:innen, ist dies eine Geschichte von unten, auf die die normalen Iraker:innen stolz sein können. Aber diese Geschichte ist immer noch unvollständig.
Letztes Wochenende gab es massenhaft Protestierende, sogar mehr als bei den Protesten am 1. Oktober. Es scheint, dass der Geist der Revolution nach wie vor stark ist und dass es eine Perspektive für die Erneuerung und Fortsetzung der Revolution gibt. Viele Demonstrierende sind auf lange Sicht dabei, wie Samia, die Frauenrechtlerin: „Was wir heute begonnen haben, ist ein langer Prozess. Wir tun dies für unsere Kinder in der Hoffnung, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen können.“