Einführung in das Leben einiger der führenden Persönlichkeiten des frühen japanischen Anarchismus, im Zusammenhang mit ihrer tragischen Hinrichtung 1911
Von Samuel Clarke erstveröffentlicht bei The Commoner, Übersetzung von Sasha Maijan, entnommen aus dem Archiv vom schwarzen Pfeil
Anmerkung: Da es mir nicht möglich war Quellen auf Deutsch zu finden, habe ich die Englischsprachigen Quellenangaben und Verweise der externen Links von The Commoner, bis auf einen, übernommen. Was ich gefunden habe, und in meinen Augen recht interessant ist, ist die Webseite von Dr. Maik Sprotte, auf welcher einiges zur Japanologieforschung im Zusammenhang mit Sozialismus und Anarchismus zu finden ist. Zum Beispiel eine längere Beschreibung des Dokumentarfilms zur „Hochverratsaffäre“ außerdem finden sich einige gute Literaturhinweise zum Beispiel hier.
Im Jahr 1911 wurden 12 Linke, sowohl Anarchist:innen als auch Sozialist:innen, verhaftet und bei einem Ereignis hingerichtet, das unter dem Namen 大逆事件 (Taigyaku Jiken) oder „Hochverratsaffäre“ bekannt werden sollte. Ihr Verbrechen? Verschwörung (angeblich) zur Ermordung des japanischen Kaisers Meiji, des berüchtigten Herrschers, der den Übergang Japans von einem feudalen, isolationistischen Königreich zu einer imperialistischen, industrialisierten Weltmacht lenkte.
Beginnend mit der Entdeckung von Material zur potentiellen Bombenherstellung in der Wohnung eines Fabrikarbeiters in der Präfektur Nagano führte der Vorfall zur Massenverhaftung von 26 Sozialist:innen, die dann wegen Hochverrats verfolgt wurden. Das Ereignis war bezeichnend für den wachsenden Autoritarismus in Japan und ein Vorgeschmack auf die Regierung, die die Welt während des Zweiten Weltkriegs zu sehen bekommen sollte. Seine Bedeutung wird in „Japan im Krieg“ prägnant beschrieben:
„Die 1910er Jahre wurden als die „Eiszeit“ der japanischen Sozialist:innen bezeichnet, eine Zeit, in der die Schikanen der Regierung und die öffentliche Gleichgültigkeit Marxist:innen zum Schweigen brachten.(…)Es steht außer Frage, wie wichtig in dieser Verkettung der Vorfall des Hochverrats war, als Konservative und Progressive gleichermaßen ihre Empörung über die Verschwörung der Aktivist:innen zum Ausdruck brachten und Schriftsteller aller Couleur sich gezwungen sahen, über Zensur und Geheimprozesse zu schweigen.“
Wie wir oft beobachten können, können Sündenbock und Angstmache der Mächtigen wie ein Schlachtruf wirken und die Nation gegen einen gemeinsamen Feind vereinen. Für die Meiji-Regierung war dieser Feind der Sozialismus in all seinen Formen, und sie würden alles tun, um ihn zu vertreiben; dazu gehörte auch, wie jüngst von Autori:innen aufgedeckt wurde, die Erfindung eines Attentatsversuchs als Teil einer umfassenderen Regierungsstrategie zur Unterdrückung der sozialistischen und anarchistischen Bewegungen Japans.
In diesem Beitrag werde ich die Denkweise des japanischen Anarchismus und Antiimperialismus anhand dieser drei wegen des Hochverrats hingerichteten Menschen vorstellen: Kōtoku Shusui, eine führende sozialistische und anarchistische Persönlichkeit; Uchiyama Gudō, ein Anarcho-Kommunist und Sōtō Zen-Priester; und Kanno Sugako, eine anarcha-feministische Journalistin.
Obwohl der Anarchismus in Japan sicherlich nicht auf diese Persönlichkeiten beschränkt ist, wird durch ihr Leben und ihre Schriften sowohl der Anarchismus im japanischen Kontext als auch das politische Klima der damaligen Zeit beispielhaft sichtbar. Für weitere Lektüre empfehle ich „Anarchismus in Japan“ von Chushichi Tsuzuki.
Kōtoku Shusui (幸徳 秋水)
Am 4. November 1871 in Kakamura geboren und von eher bescheidener Herkunft, begann Kōtoku sein Arbeitsleben als Hausangestellter des liberalen Politikers Hayashi Yūzō. Nachdem er eine Ausbildung erhalten hatte und 1893 Zeitungsjournalist wurde, wuchs das Interesse von Kōtoku an der Politik. Im Jahr 1899 schlug er eine andere Richtung ein und verließ die Zeitung Yorozu Chūhō wegen ihrer Unterstützung des russisch-japanischen Krieges, eine Zeitung, in der er einst gegen die japanische Besetzung der Mandschurei wetterte; und später, 1901, sein erstes Buch veröffentlichte: „Imperialismus: Das Monster des zwanzigsten Jahrhunderts“, eine Kritik des Imperialismus, die älter ist als Hobsbawn und Lenin.
Sein Weg in den Anarchismus sollte sich jedoch nicht als Sprint, sondern als Marathonlauf erweisen, denn sein erstes großes politisches Unterfangen war die Mitarbeit an der Organisation der Sozialdemokratischen Partei im Jahr 1901. Diese Partei wurde sofort von der Regierung verboten, eine Entscheidung, die Kōtoku (neben seinem Rücktritt von Yorozu Chūhō) dazu veranlasste, sich mit dem Sozialisten Sakai Toshihiko (堺 利彦) zusammenzuschließen und eine Zeitung zu gründen: die Heimin Shimbun oder Commoner’s Newspaper (die wir aus offensichtlichen Gründen schätzen). Während dieser journalistischen Periode seines Lebens war Kōtoku zusammen mit Sakai der erste, der das Kommunistische Manifest ins Japanische übersetzte und veröffentlichte; eine Aktion, die ihm hohe Geldstrafen einbrachte. Im Jahr 1905 wurde der radikale Charakter der Zeitung zu viel für die Meiji-Regierung. Heimin Shimbun wurde verboten und Kōtoku ins Gefängnis geworfen. Seine Wende zum Anarchismus kann, wie viele japanische und auch chinesische Anarchisten zu dieser Zeit, weitgehend auf die Werke Kropotkins zurückgeführt werden. Wie aus einem Artikel auf Libcom hervorgeht:
„Seine politischen Gedanken begannen sich zuerst einer freiheitlicheren Philosophie zuzuwenden, als er im Gefängnis Kropotkins „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk“ las. Nach seinen eigenen Worten war er „als marxistischer Sozialist [ins Gefängnis] gegangen und als radikaler Anarchist zurückgekehrt“.
Er entschied sich für das freiwillige Exil und reiste nach Amerika, wo er von den verschiedenen sozialistischen und anarchistischen Gruppen, die sich dort organisierten, stark beeinflusst wurde. Als er mit den International Workers of the World (IWW) auf den Straßen protestierte, vertrat er eine pessimistische Sicht der amerikanischen Gesellschaft:
„Die Art und Weise, wie die Arbeiter:innen hier verfolgt und unterdrückt werden, unterscheidet Amerika nicht im Geringsten von Russland oder Japan. Schauen Sie nur, schauen Sie sich die Narben auf meinen Schultern an! Das kommt von den Schlägen, die mir die Polizei verpasst hat‘. Wie kann es Freiheit geben, wie können Bürgerrechte an einem Ort existieren, wo die Klasse der Kapitalisten existiert, wo die Klasse der Grundbesitzer existiert!“
Diese Erfahrungen sollten dazu führen, den Radikalismus von Kōtoku zu definieren und seine Hinwendung zum Anarchismus zu leiten. Die Teilnahme an der staatlichen Politik war nun nicht mehr gut genug, und wie er 1906 schrieb:
„Ich will selbst Idealist, Revolutionär, Progressiver sein. Ich mag keinen lauwarmen Sozialismus, keinen sirupartigen Sozialismus, keinen Staatssozialismus.“
Aufgrund seiner Erfahrungen mit amerikanischen Anarchosyndikalist:innen, die denen der IWW sehr ähnlich sind, erkannte Kōtoku, dass direkte Aktionen besser und effektiver waren als sich um eine Staatspartei zu scharen. Dies war ein neuer Kōtoku Shusui. Er ließ seine sozialdemokratischen und marxistischen Tage hinter sich und kehrte mit der Absicht nach Japan zurück, radikal anarchistisches Gedankengut zu verbreiten, eine Absicht, die sich im neu gegründeten Heimin Shimbun widerspiegelte, das 1907 aufgelöst und durch zwei neue Zeitungen ersetzt wurde: Social News, für Sozialdemokraten, und die Osaka Common People’s Newspaper, die für eine direkte anarchistische Aktion eintrat. Die Grundsteine wurden somit für das neue politische Ziel von Kōtoku gelegt, aber leider auch für seine spätere Hinrichtung. Sein Leben begann als Hausangestellter, der sozialdemokratisch wurde, und endete mit der Hochverratsaffäre als engagierter Anarchist, Antiimperialist und Sozialist, der die klassischen sozialistischen Texte in Japan populär machte.
Bevor wir jedoch unseren Blick auf das Leben von Kōtoku beenden, möchte ich die Aufmerksamkeit wieder auf das Buch lenken, das er 1901 verfasst hat: „Imperialismus: Das Monster des zwanzigsten Jahrhunderts.“ Dieses Werk verdient es, angesichts seiner Bedeutung und seiner mangelnden Repräsentation in westlichen Kreisen als eine wertvolle Ergänzung unseres Verständnisses des Imperialismus in größerem Rahmen gelesen und verstanden zu werden. Diese Bedeutung liegt hauptsächlich darin, dass es erstens der Analyse des Imperialismus durch Lenin um 16 Jahre vorgreift und zweitens eine umfassende Perspektive des Imperialismus von einem Autoren in der Peripherie bietet, die auch die Bedingungen erklärt, unter denen der Imperialismus in dieser Peripherie entstand. Im Gegensatz zu Lenin, der den Imperialismus als das unvermeidliche Ergebnis der Wertschöpfung des Kapitalismus und seines starken Industrialismus betrachtete, gab Kōtoku die Schuld in erster Linie sozialen, politischen und ideologischen Faktoren.
Um eine Passage aus dem Buch zu zitieren:
„Wie die Ausbreitung der Pest ist der Imperialismus wirklich eine schreckliche Krankheit, die alles infiziert, was er berührt. Tatsächlich ist der so genannte Patriotismus die Mikrobe, die die Krankheit verursacht, während der Militarismus das Mittel ist, mit dem die Mikrobe übertragen wird.“
Er veranschaulicht seinen Standpunkt anhand verschiedener historischer Beispiele wie dem englischen Kolonialismus, dem Aufstieg des Deutschen Reiches und den Massakern der Eingeborenen in den Vereinigten Staaten und argumentiert effektiv, dass der Imperialismus funktioniert, indem er die Angst einer Bevölkerung vor einem „Schreckgespenst“ manipuliert. Die Expansion des Militärs, die dies erlaubt, führt zu gewaltsamem Landraub und Diebstahl von Ressourcen in Übersee, ein Akt, der dann wiederum den Hass der eigenen Bevölkerung auf den „Anderen“ schürt, um dann eine weitere militärische Expansion zu erlauben. Kōtoku stellt sicher, dass betont wird, dass eine solche Expansion immer nur zum Vorteil der herrschenden Klasse eines Landes sein wird. Unter Bezugnahme auf das englische Massaker von Peterloo, bei dem Truppen, die kürzlich gegen Napoleon gekämpft hatten, nun englische Demonstranten, die eine Parlamentsreform forderten, angriffen, stellt Kōtoku fest, dass:
„Die Klinge des Bajonetts, das dem Feind den Kopf abschneidet, dient genauso gut dazu, das Blut der eigenen Landsleute zu vergießen.“
Auf Patriotismus und Nationalismus hereinzufallen ist dasselbe, wie auf die Lügen der herrschenden Klasse hereinzufallen. Die Furcht und das Misstrauen, die das Volk gegenüber Menschen außerhalb ihrer Gemeinschaft hegen mag, erhalten eine Struktur, einen Staat und Militär, durch die sie diese Furcht zum Ausdruck bringen und in abscheulichen Hass verwandeln können. Für Kōtoku ist dies der springende Punkt, des Imperialismus, eine Überzeugung, die verschiedene von Lenin inspirierte Marxist:innen dazu veranlasste, ihn zu kritisieren. Aber, wie der Historiker Robert Tierney feststellte, passt die Entwicklung des japanischen Imperialismus nicht so leicht in die von Lenin geschaffenen Definitionen, denn sie „ging der Entwicklung eines starken kapitalistischen Sektors oder der Anhäufung von überschüssigem Kapital voraus“. Lenins Hypothese wurde im Wesentlichen umgekehrt, da die japanischen Industriellen erst nach und nicht vor der militärischen Eroberung und territorialen Expansion unter Führung des Staates und einer „Vorhut“ von „kleinen und mittleren Händlern“ begannen, in Überseemärkte zu investieren. Die spätere Kritik an Kōtoku scheint Japan dem Leninschen Modell anzupassen, anstatt ihr eigenes Denken an Japan anzupassen. Für Tierney ist dies höchstwahrscheinlich auf „die Akzeptanz von Lenins etablierter Autorität in doktrinären Angelegenheiten“ zurückzuführen und nicht auf die Anwendbarkeit seiner Theorien unter diesen historischen Umständen. Für diejenigen, die daran interessiert sind, mehr über den japanischen Imperialismus zu erfahren, ist es eine Pflichtlektüre.
Kōtoku Shusuis Beiträge zum Sozialismus und Anarchismus in Japan, neben seinem Beitrag zu unserem Verständnis des Imperialismus, dürfen nicht unterschätzt werden. Jede:r Anarchist:in (und wirklich jede:r Sozialist:in) sollte wissen, wer er war und was er dachte. Nicht, um ihn an irgendeinen doktrinären Standard zu fesseln, sondern um den Anarchismus aus der Perspektive eines unglaublichen, nicht-westlichen Denkers zu sehen.
Uchiyama Gudō (内山 愚童)
Uchiyama, der an der Seite von Kōtoku sterben sollte, wurde am 17. Mai 1874 als eines von vier Kindern einer holzverarbeitenden Familie in Ojiya, einem Dorf in der Präfektur Niigata, geboren. Als er seinen Vater im Alter von sechzehn Jahren verlor, wandte Gudō seine Aufmerksamkeit dem Buddhismus zu, welchem er später als Priester beitrat, nachdem er sich am 12. April 1897 im Tempel Hōzōji einer Weihe bei der Zen-Sekte Sōtō unterzog.
Wenn man das typische Bild der Buddhist:innen vor Augen hätte, könnte man glauben, dass Uchiyama aus der materiellen Welt in den erleuchteten und abgeschiedenen Bereich des buddhistischen Tempels trat, wo Mönche und Eingeweihte in Frieden und isoliert von den Menschen um sie herum lebten. Dies ist sowohl in der Vergangenheit als auch für die Gegenwart Uchiyamas weit von der Wahrheit entfernt. Der Buddhismus war, wie alle Teile der japanischen Gesellschaft, vom Vorstoß der Meiji-Ära in Richtung eines imperialistischen Staates mitgerissen worden. Wie in Imperial-Way Zen erklärt wird: Ichikawa Hakugens Fragen zur buddhistischen Ethik:
„Nachdem er in der frühen Meiji-Periode (1868-1872) schweren staatlichen Verfolgungen ausgesetzt war, und in dem Bemühen, sich von der kürzlich diskreditierten Tokugawa-Regierung zu distanzieren, wurde der Buddhismus als eine modernisierende Kraft neu definiert. Dieser „Neue Buddhismus“ (Shin Bukkyō), wie er bekannt wurde, wurde als „sozial sinnvoll“ angesehen. Das heißt, er verfolgte eine Vielzahl von sozialen Dienstleistungsprojekten, unterstützte den Kaiser durch nationenbildende Aktivitäten und projizierte sich selbst als universell ansprechend und kompatibel mit einer modernen, wissenschaftlichen Welt. Im Wesentlichen präsentierte sich der Neue Buddhismus neben Konfuzianismus, Shinto und anderen nationalistischen Ideologien als ein positiver und würdiger Beitrag zum Wesen des japanischen Staates – dem Kokutai – und zum Ruhm des kaiserlichen Weges“.
Es ist sowohl dieses Umfeld des wachsenden japanischen Militarismus und Imperialismus als auch die Akzeptanz des buddhistischen Establishments , welches Uchiyamas heftige Kritik hervorgerufen hat. In seinen verschiedenen Schriften wetterte er gegen die Behandlung der Pachtbauern durch den japanischen Staat, gegen die Arroganz und Heuchelei der herrschenden Klasse und gegen die negativen Elemente seines eigenen Glaubenssystems. Seine Herangehensweise an den Buddhismus spiegelte seine sozialistisch-anarchistischen Ideale wider, und so betonte er in seiner Interpretation der buddhistischen Texte und Praktiken dessen egalitäre und gemeinschaftliche Qualitäten und prangerte gleichzeitig das an, was er als Bigotterie betrachtete. Zum Beispiel in Bezug auf die Frage der Reinkarnation:
„Gudō betrachtete die buddhistische Lehre, nach der das gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Schicksal das Ergebnis vergangener Leben und Handlungen ist, als Aberglauben, der von den Machthabern gefördert wird, um sich gegen berechtigte Ansprüche der Unterprivilegierten zu verteidigen.“
Während er auf der anderen Seite im Heimin Shimbun schrieb:
„Als Propagandist des Buddhismus lehre ich, dass „alle fühlenden Wesen die Buddhanatur haben“ und dass „innerhalb des Dharmas Gleichheit herrscht, ohne Über- oder Unterordnung“. Darüber hinaus lehre ich, dass „alle fühlenden Wesen meine Kinder sind“. Nachdem ich diese goldenen Worte als Grundlage meines Glaubens genommen hatte, entdeckte ich, dass sie in völliger Übereinstimmung mit den Prinzipien des Sozialismus stehen. So wurde ich zum Gläubigen des Sozialismus.“
Gudō war nicht nur dem Buddhismus, sondern auch den Menschen verpflichtet, und so versuchte er in seinen Schriften und Werken eine Synthese aus beidem: einen sozialbewussten und aktiven Buddhismus, der die Not der Ausgebeuteten nicht ignoriert und tatsächlich Lösungen für sie finden kann. Stark von ihrer Organisationsstruktur beeinflusst, nahm Uchiyama zum Beispiel die traditionelle Sangha, den kommunalen Lebensstil der buddhistischen Mönche, und wandte ihn auf seine Kampagne für eine Landreform an. Er argumentierte, dass, wenn „zwei- oder dreihundert Personen, die zu einer Zeit an einem Ort lebten, einen kommunalen Lebensstil teilten“, so wie es die Mönche taten, sie in der Lage wären, Gemeinschaften der Solidarität und des Sozialismus in ganz Japan aufzubauen. Im Gegensatz zu den etablierten Buddhisten, die taktisch ihre Unterstützung für den Meiji-Imperialismus angekündigt hatten, sah Gudō ihre gemeinsame Religion nicht nur als sozialistischen Charakter an, sondern als ein Modell, aus dem eine neue Gesellschaft entstehen kann. Wenn er nicht über den Buddhismus schrieb, entwickelte Uchiyama Polemiken, die sich an Pachtbauern richteten, mit der Absicht, sie von anarchisch-kommunistischen Prinzipien zu überzeugen. In einem Text mit dem Titel „Anarcho-Kommunistische Revolution“ schreibt er:
„Leute, lasst uns aufhören, Steuern an die blöde Regierung zu zahlen, und lasst uns diese abscheulichen Leute so schnell wie möglich ruinieren! Dann lasst uns den Reichtum zurückholen, den uns die Regierung über lange Zeit durch Gewalt und Unterdrückung gestohlen hat, aus der Zeit unserer Vorfahren, und lasst uns das gemeinsam bewahren!“
Das Hauptaugenmerk dieses Textes liegt auf dem unterdrückenden und ausbeuterischen Charakter des Staates und des Kapitalismus, wobei die Schuld für die Probleme der Pachtbauern dem „Dieb, genannt der Gutsherr“, dem „großen Dieb, genannt die Regierung“ und den „anderen Dieben, genannt Kaufleute“ angelastet wird; aber Uchiyama, der wie zu Meijis Zeiten schrieb, war auch daran interessiert, sich des fast übernatürlichen Status, den sich der neue Kaiser geleistet hatte, anzunehmen. Er schreibt:
„Der Anführer dieser Regierung, der Kaiser, ist nicht der Sohn Gottes, wie die Lehrer in der Schule trügerisch behaupten. Die Vorfahren des jetzigen Kaisers kamen aus einer abgelegenen Ecke von Kyushu; sie mordeten und stahlen.“
Gudō möchte in dieser Angelegenheit Klarheit schaffen: Meiji ist ein Dieb, und nicht besser oder besonderer als die Vermieter, die Regierung und die Händler, die in seinem Namen stehlen. Dies ist von großer Bedeutung in der Zeit des japanischen Staatsaufbaus, der versuchte, den Kaiser zu vergöttlichen und die Nation in seinem Namen zu vereinen. Uchiyama setzte diese entschiedene Ablehnung der Regierung bis zu seiner Hinrichtung im Jahr 1911 fort. Wir können uns von der Hartnäckigkeit seiner Worte inspirieren lassen, von der Art und Weise, wie er sich mit dem werktätigen Volk in Verbindung setzen wollte, und von der Art und Weise, wie er den Stimmen des Establishments seiner Religion die Stirn bot. Zum Schluss einige Worte, die seinen Aktivismus ausgezeichnet zusammenfassen:
Die Hand, die einen Rosenkranz hält, sollte immer auch eine Bombe tragen.
Kanno Sugako (管野 須賀子)
Geboren 1881 in Osaka, führte Kanno als eines von fünf Kindern und als Tochter eines Vaters, dessen Familienunternehmen, aus dem Bereich des Bergbaus, zusammengebrochen war, eine turbulente Kindheit. Mit 15 Jahren wurde Kanno von einem Mann, der für ihren Vater arbeitete (was angeblich von ihrer Stiefmutter arrangiert worden war), sexuell missbraucht. Kanno wurde doppelt bestraft, sowohl durch ihren traumatischen Missbrauch als auch durch die Scham, die ihr von der Gesellschaft auferlegt wurde; so wie es Frauen auch heute noch sind. Kanno fand Trost in einem Essay von Sakai Toshihihiko (derselbe Sakai, der Heimin Shimbun mit Kōtoku schuf), der die Opfer sexueller Übergriffe ermutigte, nicht die Scham zu empfinden, die die Gesellschaft von ihnen zu empfinden verlangt, und Kanno wurde zum Sozialismus und später zum Anarchismus hingezogen. Nachdem sie 1889 im Alter von 17 Jahren einen Mann aus einer Kaufmannsfamilie geheiratet hatte, um ihrer Stadt zu entkommen und nach Tokio zu reisen, kehrte Kanno 1902 nach Osaka zurück, um sich um ihren Vater zu kümmern. In den kommenden Jahren schrieb sie verschiedene lange Belletristikstücke, wie „Omokage“ (おもかげ), eine Geschichte, in der eine Frau ihren Eltern übel nimmt, dass sie ihr eine gesellschaftliche Konstruktion von Weiblichkeit aufgedrängt hatten, sowie Gedichte, die eine Antikriegshaltung zum Ausdruck bringen. Kanno schrieb auch für verschiedene Publikationen und Zeitungen und kämpfte gegen das System der Konkubinen, gegen die Ausbeutung von Sexarbeiterinnen und, genau wie ihr jetziger geliebter Kōtoku, gegen den russisch-japanischen Krieg. 1906 wurde der Herausgeber der Zeitung Muro Shinpō der Präfektur Wakayama wegen Beleidigung der Behörden ins Gefängnis geworfen, was Kanno, die bereits verschiedene Artikel beigesteuert hatte, zur Chefredakteurin machte. Während dieser Zeit fuhr sie fort, über die Themen Sozialismus, Anarchismus, Feminismus und Christentum zu schreiben, ein Glaube, der einen Großteil ihrer politischen Arbeit inspirierte.
Alles in allem war Kanno konsequent in ihrer Rebellion gegen die japanische Gesellschaft und ihre Status-quo-Normen und -Werte, ob es sich nun um Frauenfeindlichkeit, Kriegstreiberei oder den Marsch in den Kapitalismus handelte. In ihren Schriften fasste sie all diese Rebellionen zu einer einzigen zusammen, wie sie zum Beispel in einem Aufsatz, dem „Muro Shinpō“:
„Unser Ideal ist der Sozialismus, der auf die Gleichheit aller Klassen abzielt. Aber so wie ein großes Gebäude nicht in einem Augenblick zerstört werden kann, so kann das bestehende hierarchische Klassensystem, das sich über viele Jahre hinweg gefestigt hat, nicht in einem Tag und einer Nacht gestürzt werden … Wir [Frauen] müssen also zunächst das grundlegende Prinzip des ‚Selbstbewusstseins‘ erlangen und unser Potential entwickeln, unseren Charakter stärken und dann schrittweise auf die Verwirklichung unseres Ideals hinarbeiten.“
Ähnlich wie Kōtoku begann Kanno ihren sozialistischen Weg jedoch nicht als unersättliche Verfechterin der direkten Aktion. Auslöser dafür war später der berüchtigte Vorfall mit der „Roten Fahne“, eine Versammlung von Anarchist:innen und Sozialist:innen, die gekommen waren, um die Freilassung des politischen Aktivisten Koken Yamaguchi zu feiern. In dem Augenblick, als die Versammlung von der Polizei angegriffen wurde und mehrere Anarchist:innen, darunter auch Kanno, verhaftet wurden, begann sie deutlicher zu direkten Aktionen aufzurufen. Wie sie später anmerkt:
„Im Grunde gehörte ich selbst unter Anarchist:innen zu den radikaleren Denkern. Als ich im Juni 1908 im Zusammenhang mit dem Vorfall mit der Roten Fahne inhaftiert wurde, war ich empört über das brutale Verhalten der Polizei. Ich kam zu dem Schluss, dass eine friedliche Propagierung unserer Prinzipien unter diesen Umständen nicht möglich war. Es war notwendig, das Bewusstsein des Volkes zu wecken, indem man Aufstände oder eine Revolution inszenierte oder Attentate verübte.“
Seit diesem Ereignis im Jahr 1908 und bis zu ihrer Hinrichtung im Jahr 1911 erlangte Kanno ihre radikalste Haltung, indem sie direkte Aktionen mit Kōtoku und anderen Anarchist:innen organisierte; Aktionen, die sie später eines Komplotts zur Ermordung des Kaisers für schuldig befunden werden sollte. Auf ihrem Weg zum Galgen führte Kanno ein bemerkenswertes Gefängnistagebuch, in dem die Ereignisse während und vor ihrem Prozess und ihrer Hinrichtung ausführlich beschrieben wurden. Auf einer der letzten Seiten des Tagebuchs spricht sie eine Drohung gegenüber der japanische Regierung aus:
„Es scheint, dass die Behörden unsere Genoss:innen in der Welt da draußen, mit noch größerer Wachsamkeit beobachten. Die schockierenden und empörenden Ergebnisse des Prozesses zeigen, dass die Regierung diesen Vorfall für extreme, repressive Maßnahmen zu nutzen gedenkt. Verfolgen Sie uns! Richtig, verfolgen Sie uns! Wissen Sie nicht, dass es für jede Kraft eine Gegenkraft gibt? Versuchen Sie uns zu verfolgen! Verfolgen Sie uns so sehr, wie Sie wollen. Der alte Weg ist der Kampf gegen den neuen – Imperialismus gegen Anarchismus.
Die Art und Weise, in der sie diese letzte Dichotomie „Imperialismus gegen Anarchismus“ präsentiert, fasst die Stimmung der japanischen Anarchist:innen in dieser Zeit zusammen. Im Gegensatz zu denen, die in den europäischen Imperialmächten lebten, deren Kritik in erster Linie am Kapitalismus und Staat geübt wurde, sah Kanno, wie viele ihrer Altersgenossen, die wachsende Stömung des Imperialismus als ihren Hauptfeind an. Die Einzigartigkeit dieser Sichtweise, die die japanischen Anarchist:innen eher mit ihren Kollegen in den europäischen Kolonien als im europäischen Kern der Bewegung auf eine Linie bringt, ist bewundernswert und darf nicht unterschätzt werden.
Schlussfolgerung
Ich hoffe, dass diese Einführung in die frühen japanischen Anarchist:innen interessant und informativ waren, nicht nur als eine weniger bekannte Form des Anarchismus, sondern als ein Anarchismus, der außerhalb des europäischen Kontextes und damit außerhalb der „traditionellen“ Geistesgeschichte des Anarchismus formuliert wurde. Für weitere Lektüre empfehle ich die Lektüre der gesamten Website Kōtoku Shusui’s Imperialism, die hier zu finden ist.
Ein kleiner Hinweis zu einer deutschen Übersetzung, mit bestem Dank an Herrn Dr. Sprotte, noch zum Schluss:
Das Buch von Kotoku zum Imperialismus als Ungeheuer des 20. Jahrhunderts liegt in englischer und französischer Übersetzung vor. Die Einleitung gibt es auch in deutscher Sprache. KÔTOKU, Shûsui (2015), Verfasser der Einleitung: Terada Kuniyuki, Übersetzung der Einleitung v. Wolfgang Schwentker, Übersetzung des Originaltextes v. Robin Weichert: „Imperialismus (1901).“ In: MISHIMA, Ken’ichi/ SCHWENTKER, Wolfgang (Hg.): Geschichtsdenken im modernen Japan. Eine kommentierte Quellensammlung. In Zusammenarbeit mit Manfred Hubricht, Tadashi Suzuki, Kuniyuki Terada und Robin Weichert. München: Iudicium, S. 221-225 (= Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien 56).