Der nachfolgende Beitrag ist eines von 85 Artikeln aus dem Buch Schwarze Saat – Gesammelte Schriften zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus.
Anmerkung: Im Buch befinden sich völlig unterschiedliche, und teils widersprechende, Positionen. Es werden hier alle Beiträge veröffentlicht, auch solche, deren Positionen wir nicht teilen.
Besiege die weiße Vorherrschaft!
Lorenzo Kom’boa Ervin
Das eigentliche Mittel der Klassenkontrolle durch die Reichen ist das am wenigsten verstandene. Die weiße Vorherrschaft ist mehr als nur eine Reihe von Ideen oder Vorurteilen. Sie ist eine nationale Unterdrückung. Doch für die meisten Weißen beschwört der Begriff eher Bilder der Nazis oder des Ku-Klux-Klans herauf als das System der Privilegien der weißen Hautfarbe, das dem kapitalistischen System wirklich zugrunde liegt. Die meisten Weißen, Anarchist*innen eingeschlossen, glauben im Wesentlichen, dass Schwarze Menschen „gleich“ sind wie Weiße und dass wir nur um „gemeinsame Themen“ kämpfen sollten, anstatt uns mit „racialen Fragen“ zu befassen, wenn sie überhaupt eine Dringlichkeit sehen, sich mit dem Thema zu befassen. Einige werden es nicht so unverblümt ansprechen, sie werden sagen, dass „Klassenfragen Vorrang haben sollten“, aber es bedeutet das Gleiche. Sie glauben, dass es möglich ist, den Kampf gegen die weiße Vorherrschaft auf die Zeit nach der Revolution zu verschieben, obwohl es in Wirklichkeit keine Revolution geben wird, wenn die weiße Vorherrschaft nicht zuerst angegriffen und besiegt wird.
Sie werden keine Revolution in den USA gewinnen, solange sie nicht dafür kämpfen, das Los der Schwarzen und der unterdrückten Menschen zu verbessern, die ihrer demokratischen Rechte beraubt und als Arbeiter*innen super ausgebeutet werden. Fast seit den Anfängen der nordamerikanischen sozialistischen Bewegung wurde die einfältige ökonomistische Position, dass alles, was Schwarze und weiße Arbeiter*innen tun müssen, um eine Revolution zu führen, darin besteht, einen „gemeinsamen (ökonomischen) Kampf“ zu führen, benutzt, um den Kampf gegen die weiße Vorherrschaft zu vermeiden. Tatsächlich hat die weiße Linke immer die chauvinistische Position eingenommen, dass, da die weiße Arbeiter*innenklasse ohnehin die revolutionäre Vorhut ist, warum sich um ein Thema kümmern, das „die Klasse spaltet“? Historisch gesehen haben Anarchist*innen das Thema „Rassenpolitik“, wie es ein Anarchist bei der ersten Veröffentlichung dieses Pamphlets nannte, nicht einmal angesprochen.
Dabei ist es die kapitalistische Klasse, die Ungleichheit als Mittel zur Spaltung und Herrschaft über die gesamte Arbeiter*innenklasse schafft. Das Privileg der weißen Hautfarbe ist eine Form der Herrschaft des Kapitals über weiße Arbeitskräfte sowie über Arbeitskräfte unterdrückter Nationalitäten und bietet nicht nur materielle Anreize, um weiße Arbeiter*innen „freizukaufen“ und sie gegen Schwarze und andere unterdrückte Arbeiter*innen aufzustellen. Dies erklärt die Gehorsamkeit der weißen Arbeiter*innen gegenüber dem Kapitalismus und dem Staat. Die weiße Arbeiter*innenklasse sieht ihren besser gestellten Zustand nicht als Teil des Systems der Ausbeutung. Nach jahrhundertelanger politischer und sozialer Indoktrination haben sie das Gefühl, dass ihre privilegierte Position gerecht und angemessen ist und darüber hinaus „verdient“ wurde. Sie fühlen sich von den sozialen Errungenschaften nicht-weißer Arbeiter*innen bedroht, weshalb sie sich so vehement gegen Fördermaßnahmenpläne gewehrt haben, die Minderheiten bei Jobs und Einstellungen begünstigen und die jahrelange Diskriminierung gegen sie wiedergutmachen sollten. Das ist auch der Grund, warum weiße Arbeiter*innen die meisten Bürger*innenrechtsgesetze abgelehnt haben.
Dennoch ist es die tägliche Arbeit der weißen Vorherrschaft, die wir am energischsten bekämpfen müssen. Wir können nicht ignorant oder gleichgültig gegenüber dem Wirken von Race und Klasse in diesem System bleiben, so dass unterdrückte Arbeiter*innen weiterhin zu Opfern werden. Jahrelang wurden Schwarze von der kapitalistischen Industrie „zuerst eingestellt, zuerst gefeuert“. Schwarze wurden sogar aus ganzen Industrien, wie dem Kohlebergbau, vertrieben. Doch die weißen Arbeitsbosse haben nie widersprochen oder für ihre Klassengeschwister interveniert, und sie werden es auch nicht tun, wenn sie nicht von weißen Arbeiter*innen an die Wand gedrückt werden.
Wie bereits erwähnt, gibt es materielle Anreize für diesen weißen Arbeiter*innenopportunismus: bessere Jobs, höhere Löhne, verbesserte Lebensbedingungen in weißen Gemeinschaften usw., kurz gesagt, was als „weißer Mittelklasse-Lebensstil“ bekannt geworden ist. Das ist es, wofür die Arbeiter*innenschaft und die Linke immer gekämpft haben, nicht die Klassensolidarität, die einen Kampf gegen die weiße Vorherrschaft erfordern würde. Dieser Lebensstil basiert auf der Superausbeutung des nicht-weißen Sektors der heimischen Arbeiter*innenklasse sowie der vom Imperialismus ausgebeuteten Länder in aller Welt.
In Amerika hat der Klassenantagonismus schon immer racialen Hass als wesentlichen Bestandteil beinhaltet, aber er ist strukturell und nicht nur ideologisch. Da alle Institutionen, die Kultur und das sozioökonomische System des US-Kapitalismus auf der weißen Vorherrschaft beruhen, wie ist es dann möglich, die Herrschaft des Kapitals wirklich zu bekämpfen, ohne gezwungen zu sein, die weiße Vorherrschaft zu besiegen? Die duale Ökonomie von Weißen oben und Schwarzen unten (sogar mit all den Klassenunterschieden unter Weißen) hat jedem Versuch radikaler sozialer Bewegungen erfolgreich widerstanden. Diese zögerlichen Reformer*innen haben um das Thema herumgetanzt. Obwohl sie Reformen durchgesetzt haben, in vielen Fällen hauptsächlich nur für weiße Arbeiter*innen, haben diese weißen Radikalen das System noch nicht gestürzt und den Weg zur sozialen Revolution geöffnet.
Der Kampf gegen das Privileg der weißen Haut erfordert auch die Ablehnung der Identifizierung von Nordamerikaner*innen als „weiße“ Menschen, statt als Waliser*innen, Deutsche, Iren, etc. als deren nationale Herkunft. Diese Bezeichnung als „weiße Rasse“ ist eine erfundene Supernationalität, die dazu dient, die soziale Bedeutung der europäischen Ethnien aufzublähen und sie als Werkzeuge im kapitalistischen Ausbeutungssystem einzusetzen. In Nordamerika hat weiße Haut immer Freiheit und Privilegien impliziert: die Freiheit, Arbeit zu bekommen, zu reisen, soziale Mobilität aus der geborenen Klassenzugehörigkeit heraus zu erlangen, und eine ganze Welt von eurozentrischen Privilegien. Bevor also eine soziale Revolution stattfinden kann, muss es eine Abschaffung der sozialen Kategorie der „weißen Rasse“ geben.
Diese „weißen“ Menschen müssen sich auf Klassenselbstmord und ‚Rassenverrat‘ einlassen, bevor sie wirklich als Verbündete der Schwarzen und national unterdrückten Arbeiter*innen akzeptiert werden können; die ganze Idee hinter einer „weißen Rasse“ ist Konformität und macht sie zu Kompliz*innen von Massenmord und Ausbeutung. Wenn die Weißen nicht selbst mit dem historischen Erbe von Kolonialismus, Sklaverei und Genozid belastet werden wollen, dann müssen sie dagegen rebellieren. Also müssen die „Weißen“ die weiße Identität und ihr System der Privilegien anprangern und sie müssen darum kämpfen, sich selbst und ihre Beziehung zu anderen neu zu definieren. Solange die weiße Gesellschaft (durch den Staat, der von sich behauptet, im Namen der Weißen zu handeln) weiterhin alle Institutionen der Schwarzen Gemeinschaft unterdrückt und dominiert, wird es weiterhin raciale Spannungen geben und die Weißen im Allgemeinen werden weiterhin als Feind*innen angesehen.
Was also fangen Nordamerikaner*innen an zu tun, um racialen Opportunismus, Privilegien der weißen Hautfarbe und andere Formen der weißen Vorherrschaft zu besiegen? Zuerst müssen sie die Mauern niederreißen, die sie von ihren nicht-weißen Verbündeten trennen. Dann müssen sie gemeinsam einen Kampf gegen die Ungleichheit am Arbeitsplatz, in den Gemeinschaften und in der sozialen Ordnung führen. Doch es sind nicht nur die demokratischen Rechte der afrikanischen Menschen, auf die wir uns beziehen, wenn wir über „nationale Unterdrückung“ sprechen. Wenn das das ganze Thema wäre, dann könnten vielleicht mehr Reformen die raciale und soziale Gleichheit erreichen. Aber nein, das ist nicht das, worüber wir sprechen.
Schwarze (oder Afrikaner*innen in Amerika) sind kolonisiert. Amerika ist ein Mutterland mit einer internen Kolonie. Für Afrikaner*innen in Amerika ist unsere Situation eine der totalen Unterdrückung. Kein Volk ist wirklich frei, bis es sein eigenes Schicksal bestimmen kann. Unser ist ein gefangener, unterdrückter kolonialer Status, der gestürzt werden muss, nicht nur durch die Zerschlagung des ideologischen Rassismus oder die Ablehnung der Bürger*innenrechte. Ohne die interne Kolonie zuerst zu zerschlagen, bedeutet das die Wahrscheinlichkeit eines Fortbestehens dieser Unterdrückung in einer anderen Form. Wir müssen die soziale Dynamik einer sehr realen Existenz Amerikas zerstören, die aus einer unterdrückenden weißen Nation und einer unterdrückten Schwarzen Nation besteht (in der Tat gibt es mehrere gefangene Nationen).
Dies erfordert die Schwarze Befreiungsbewegung, um eine Kolonie zu befreien, und deshalb ist es nicht nur eine einfache Angelegenheit, dass Schwarze sich einfach mit weißen Anarchist*innen zusammenschließen, um die gleiche Art von Kampf gegen den Staat zu führen. Das ist auch der Grund, warum Anarchist*innen keine starre Position gegen alle Formen des Schwarzen Nationalismus einnehmen können (insbesondere revolutionäre Gruppen wie die Black Panther Party), auch wenn es ideologische Differenzen über die Art und Weise gibt, wie einige von ihnen geformt sind und arbeiten. Aber Weiße müssen die Ziele der racial unterdrückten Befreiungsbewegungen unterstützen, und sie müssen das Privileg der weißen Hautfarbe direkt herausfordern und zurückweisen.
Es gibt keinen anderen Weg; weiße Vorherrschaft ist ein riesiger Stolperstein für revolutionären sozialen Wandel. Die Schwarze Revolution und andere nationale Befreiungsbewegungen in Nordamerika sind unverzichtbare Teile der gesamten sozialen Revolution. Weiße Arbeiter*innen müssen sich mit Afrikaner*innen, Latinx und anderen zusammenschließen, um raciale Ungerechtigkeit, kapitalistische Ausbeutung und nationale Unterdrückung abzulehnen. Weiße Arbeiter*innen haben sicherlich eine wichtige Rolle dabei, diesen Kämpfen zum Sieg zu verhelfen. Allein die materielle Hilfe, die von weißen Arbeiter*innen für die Schwarze Revolution zusammengestellt werden kann, könnte in einem bestimmten Stadium über Sieg oder Niederlage dieses Kampfes entscheiden.
Ich nehme mir die Zeit, all das zu erklären, weil vorhersehbar einige anarchistische Purist*innen versuchen werden, mich niederzuargumentieren, dass es eine gute Sache ist, eine weiße Bewegung zu haben, dass Schwarze und andere unterdrückte Nationalitäten einfach an Bord des „anarchistischen guten Schiffes“ (ein Narrenschiff?) klettern müssen, und dass all das nur „marxistischer nationaler Befreiungsunsinn“ ist. Nun, wir wissen, dass ein Teil des Grundes für eine anarchistische antirassistische Bewegung darin besteht, diese chauvinistische Perspektive mitten in unserer eigenen Bewegung herauszufordern. Eine anarchistische antirassistische Föderation würde nicht nur existieren, um Nazis zu bekämpfen. Wir müssen rassistische und doktrinäre Positionen zu Race und Klasse innerhalb unserer Bewegung herausfordern und korrigieren. Wenn wir das nicht tun können, dann können wir die Arbeiter*innenklasse, ob Schwarz oder weiß, nicht organisieren und sind für niemanden von Nutzen.