Erst dann, wenn nichts von dir ausgesagt und du nur genannt wirst, wirst du anerkannt als du. Solange etwas von dir ausgesagt wird, wirst du nur als dieses Etwas (Mensch, Geist, Christ u.s.f.) anerkannt.
– Max Stirner (Parerga, Kritiken, Repliken, 1986)
Es ist amüsant, wie oft Menschen Identität mit Individualität verwechseln. Identität geht auf ein lateinisches Wort zurück, das „Gleichheit“ bedeutet. Und Gleichheit impliziert die Existenz von etwas, mit dem ich gleich sein kann.
Es ist sicherlich möglich, sich Individuen als identische Atome vorzustellen, die aufeinander prallen – Marxist:innen gehen gerne davon aus, dass es das ist, wovon Individualist:innen sprechen – aber selbst Atome werden erst dann identisch, wenn du oder ich sie als Atome auffassen und ihnen eine Identität geben. Die Atomisierung ist ein Prozess, der seine Grundlage in der Leugnung meiner einzigartigen Individualität hat, und die Identifizierung spielt in diesem Prozess eine Rolle.
Stirner bezeichnete dich und mich, d. h. jedes Individuum, das in diesem Moment leibhaftig ist, als „der Einzige“. In Parerga, Kritiken, Repliken erklärt er, dass dies nur ein Name ist, mehr nicht. Um zu sprechen, um zu schreiben, musste er einen Namen verwenden. Aber, so schrieb er, „der Einzige … hat keinen Inhalt; er ist Unbestimmtheit in sich selbst …“ Ihm einen Inhalt zu geben, bevor ich es in meiner Welt auslebe, bevor du es in deiner Welt auslebst, bedeutet, ihm eine Identität, eine Gleichheit zu geben, ihn als einzigartig zu zerstören. Dem Einzigartigen einen begrifflichen Inhalt zu geben, bedeutet, ihn ad absurdum zu führen.
Aber selbst als Einzigartiger bin ich gezwungen, mich mit Identität auseinanderzusetzen. Es gibt die Banalitäten, dass ich mich ausweisen muss, wenn ich zum Beispiel eine Kneipe betrete, wenn ich einen Scheck einlöse oder von der Polizei angehalten werde. In jedem dieser Fälle ist jemand mit einer gewissen rechtlichen Befugnis ausgestattet, um sicherzustellen, dass ich so bin, wie es die Regeln verlangen. Bin ich derselbe wie derjenige, der alt genug ist, um zu trinken? Bin ich dieselbe wie diejenige, die berechtigt ist, den Scheck einzulösen? Bin ich derselbe wie eine Person, gegen die kein Haftbefehl vorliegt? Jede dieser Identitäten sind Konzepte, denen ich gerecht werden soll. Und wenn ich versage, muss ich die Konsequenzen tragen. Aber in Wirklichkeit ist niemand jemals das Selbe wie irgendeines dieser Dinge. Selbst wenn ich jede dieser Anforderungen erfüllen kann, um das zu bekommen, was ich will (ein paar Drinks, etwas benötigtes Geld, etwas Abstand von den Schweinen), bin ich keines dieser Dinge. Und diejenigen, die mir diese Tests auferlegen, sind meine Feinde, da sie meinem einzigartigen Selbst Abstraktionen auferlegen und eine Konformität mit ihren Regeln und einer sozialen Forderung nach persönlicher Konsistenz erzwingen. Sie versuchen, meine Eigenheit und damit meine Einzigartigkeit auszuhöhlen.
Darüber hinaus ist jede herrschende Gesellschaftsordnung nur darauf ausgerichtet, Individuen in Bezug auf kategorische Identitäten zu bearbeiten: Rasse, Geschlecht, Nationalität, Sexualität usw. Obwohl dies alles Fiktionen sind, beeinflussen sie Menschen körperlich und geistig. Diese Kategorien dienten als Rechtfertigung für die Versklavung von Individuen, den Ausschluss von Individuen, die Einschränkung von Individuen, das Schlagen und Töten von Individuen usw., bis zum Gehtnichtmehr. Es macht Sinn, dass diejenigen, die auf der Grundlage solcher kategorischer Identitäten Missbrauch erfahren haben, sich zusammenschließen, um gegen diesen Missbrauch und diejenigen, die ihn begangen haben, zu kämpfen. Was für mich keinen Sinn ergibt, ist, dass die Meisten von denen, die sich zu diesem Zweck vereinigen, ihre Einheit nicht auf den gemeinsamen Wunsch gründen, den Missbrauch auszurotten, sondern auf der kategorische Identität, die dazu diente, diesen Missbrauch zu rechtfertigen. In anderen Worten: Sie entscheiden sich dafür, sich nicht als Feinde einer Ordnung zusammenzuschließen, die sie zerstören wollen, sondern als Opfer einer Ordnung, von der sie Anerkennung und Gerechtigkeit wollen. Eine soziale Ordnung kann nur Kategorien anerkennen, nicht einzigartige Individuen. Gerechtigkeit kann sich nur mit dem befassen, was gemessen und abgewägt werden kann, d.h. was verglichen und gleichgesetzt werden kann. Identität, Gleichheit, Zugehörigkeit zu einer Gruppe sind verschiedene Ausdrucksformen für das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und Gerechtigkeit. Ich als Egoist, der sich seiner Einzigartigkeit bewusst ist, reagiere anders, nämlich als Feind, der die kategorische Identität und diejenigen, die von ihr profitieren, sofort zerstören will, so wie ich sie hier und jetzt erlebe. Wenn ich mich mit anderen verbünde, dann mit denen, deren Ziele und Kräfte meine eigenen verstärken. Nicht Identitätspolitik, sondern die Zerstörung von Identität und Politik, zugunsten meiner selbst und meiner Vereinigungen. Aber ich bin kein Moralist. Ich kann durchaus einen Nutzen für die Identität in gewisser Weise finden, auch wenn ich erkenne, dass sie immer eine Lüge ist. Tatsächlich verwende ich Identität immer dann, wenn ich „Ich“ sage. In diesem Wort identifiziere ich mich hier und jetzt, mein unmittelbares konkretes Selbst, mit meiner Vorstellung von mir in der Vergangenheit. In meiner Einzigartigkeit (d.h. so wie ich hier und jetzt konkret existiere) bin ich nicht das Selbe, aber ich entscheide mich dafür, mich damit zu vereinen, sogar in dem Maße, dass ich mich damit identifiziere, weil es mir eine bedeutende Stärke in der Beziehung zu meiner Welt und in der Interaktion mit anderen verleiht, so wie die Identifizierung anderer mit den vergangenen Formen dieser anderen, denen ich begegnet bin, diese Stärke verstärkt. Hier kann die Identität also zu meinem Werkzeug werden. Aber auch hier spreche ich nicht von kategorischer Identität, sondern von persönlicher Identität, von Gleichsetzungen, die ich für mich selbst mache, wohl wissend, dass sie nichts weiter sind als begriffliche Werkzeuge zu meinem Gebrauch, zur Steigerung meines Selbstgenusses. Wenn ich sie für mich selbst halte, mache ich mir etwas vor.
Kürzlich bin ich auf Kommuniqués von Einzelpersonen (die offenbar in kleinen Gruppen agieren) gestoßen, die sich als Individualisten-Nihilisteninnen und Egoistinnen-Nihilisten bezeichnen und verschiedene Angriffe gegen die herrschende Ordnung für sich in Anspruch nehmen. Jeder, der sich auflehnt und die Herrscherordnung für sich selbst angreift, ist sicherlich meine Kameradin. Ich fühle eine Verbundenheit mit ihr, auch wenn ich nicht mit allen seinen Entscheidungen, wie er vorgeht, einverstanden bin. Aber ich frage mich, warum jemand, der für sich selbst handelt, aus seinem eigenen Leben heraus, überhaupt das Bedürfnis verspürt, ihre Aktion für sich zu beanspruchen, geschweige denn einen Gruppennamen zu verwenden, eine Gruppenidentität zu schaffen. Wenn ich mich entscheide, die herrschende Ordnung anzugreifen oder auf andere Weise gegen das Gesetz zu handeln, entspringt diese Entscheidung der Unmittelbarkeit meines Lebens hier und jetzt, und ich schulde niemandem eine Erklärung. Ich brauche auch nicht die Inspiration durch andere Handlungen, um mich zu bewegen. Es sind mein eigenes Leben und meine eigenen Möglichkeiten, die mich bewegen. Es ist wahr, dass eine rebellische Handlung den Rebellen mit Leidenschaft bewegen kann, so dass er ihre Wut und Freude ausdrücken möchte. Dann schreibt er vielleicht, um ihre Tat zu reklamieren, aber es gibt keine Notwendigkeit, dies zu tun, und birgt eine gehörige Menge Weisheit, dies nicht zu tun. Aber was ich dabei am meisten in Frage stelle, ist, dass Individuen, die eine Handlung auf diese Weise beanspruchen, eine Identität annehmen. Deshalb müssen sie sich Namen geben (und so schön und poetisch manche dieser Namen auch sind, sie bleiben Etiketten für eine Identität). Das signierte Kommuniqué ersetzt die unmittelbare flüchtige Bedeutung der Handlung für die einzigartigen Individuen, die sie ausgeführt haben, durch eine permanente Bedeutung, die die Handlung einem Publikum erklären soll. Mit dauerhaften Bedeutungen kommen dauerhafte Identitäten und die einzigartigen Individuen verschwinden in dieser kristallisierten Form. Ein einzigartiges Individuum, die für sich selbst handelt, ist namenlos. Sie ist namenlos, weil seine Existenz zu unmittelbar und flüchtig ist, als dass ein Name, der nicht völlig sinn- und gedankenleer ist, ihn beschreiben könnte. Wenn sie sich entscheidet, zu handeln, ist es für sie sinnvoll, anonym zu handeln, ohne eine Identität. Wenn sie sich entscheidet, über ihre Tat zu sprechen, sie zum Gegenstand von Gesprächen oder Debatten zu machen oder andere wissen zu lassen, dass sie in ihrer Rebellion nicht allein sind, macht es für sie Sinn, dies ebenfalls anonym zu tun. Es ist nicht schwer, herauszufinden wie. Das Individuum, das aus ihrer Einzigartigkeit heraus handelt, hat es nicht nötig, sich mit ihrer Handlung zu identifizieren, sie war in dem Moment, in dem sie es tat, vollständig in dieser Handlung. In jedem Fall sollten die vollen Implikationen des Behauptens der eigenen Handlungen Gegenstand einer fortlaufenden Debatte sein, ohne die Solidarität und Verbundenheit zu schmälern, die man mit denen empfindet, die in ihrer Rebellion andere Entscheidungen treffen.
Bei der Identität geht es darum, zu definieren, was du bist. Wie ich schon sagte, gibt es Momente, in denen das Spiel mit solchen Definitionen Sinn machen (oder Freude bereiten) kann. Aber diese Definitionen, diese Identitäten können niemals ich sein. Sie können jedoch zu Gefängnissen werden, die mich in die Zelle einer Rolle oder einer Reihe von Rollen einsperren. Und wenn ich kein Sklave sein will, muss ich diese Rollen ablehnen, außer als gelegentliche Masken, die ich aufsetzen kann, wenn es meinen Interessen dient. Wenn ich mich nicht an die Rollen anpasse, werde ich natürlich unberechenbar, ich werde flüchtig, ich werde unverständlich für die Institutionen und für diejenigen, die ihre Welt auf institutionelle Weise betrachten. Stirner sagt in „Stirners Kritiker“, dass er „den Einzigen benennt und zugleich sagt, dass ‚Namen es nicht benennen’…“ Gerade als einzigartiges Individuum bin ich namenlos, gerade als solches habe ich keine Identität. Ich bin einfach ich selbst hier und jetzt.