Anarchismus, gegenseitige Hilfe und Selbstorganisation: Vom George-Floyd-Aufstand bis zur indischen Bauernrebellion

Der folgende Essay untersucht die Explosion der Massenkämpfe in Indien unter der rechten Modi-Regierung und vergleicht sie mit dem George-Floyd-Aufstand in den Vereinigten Staaten, wobei er die Rolle hervorhebt, die gegenseitige Hilfe und Selbstorganisation in beiden Fällen gespielt haben.

Von Pranav Jeevan P, Originalveröffentlichung auf It’s Going Down

In Indien gab es in den letzten zwei Jahren zwei große Protestbewegungen, bei denen Millionen gegen die unterdrückenden Gesetze der Regierung auf die Straße gingen. Dies waren die Anti-CAA-Proteste gegen das diskriminierende Staatsbürgerschaftsänderungsgesetz (CAA, Citizenship Amendment Act) und die Proteste der Bauern und Bäuerinnen gegen eine Reihe von konzernfreundlichen Landwirtschaftsgesetzen. Während der Anti-CAA-Proteste waren die lautesten Stimmen des Dissenses die Frauen; von Hausfrauen zu Großmüttern, Anwältinnen zu Studentinnen, Frauen in ganz Indien waren an vorderster Front in diesem Kampf. Dieses von Frauen vorangetriebene politische Erwachen wurde vor allem durch den Sitzprotest in Shaheen Bagh, einem Viertel in Neu-Delhi, verkörpert, der eine generationenübergreifende, größtenteils weibliche Menschenmenge anzog, wie sie in Indien noch nie zuvor gesehen wurde [1]. Dann kamen die Bauernproteste, bei denen Millionen von Bauern und Bäuerinnen auf die Straße gingen, um gegen die Anti-Bauern-Gesetzgebung zu kämpfen, die im indischen Parlament verabschiedet wurde, und um auf die Probleme der Agrarkrise hinzuweisen, die in Indien in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist. Bei diesen Protesten gibt es eine beispiellose Solidarität, die sich in den täglichen Kundgebungen zeigt, die Tausende von Menschen in allen indischen Städten anlocken. Es gibt keine sichtbaren Anführenden, die die Menschen dazu aufrufen, auf die eine oder andere Weise zu protestieren, dennoch hat das Land einen Weg gefunden, vor den Mächtigen die Wahrheit auszusprechen. [2].

Die Proteste in Shaheen Bagh wurden hauptsächlich von muslimischen Frauen angeführt, als Reaktion auf die Verabschiedung diskriminierender und verfassungswidriger Gesetze durch das indische Parlament und den Angriff der Polizei auf Student:innen an der Jamia Millia Islamia Universität. Die Demonstrierenden agitierten nicht nur gegen das CAA, das Nationale Bürgerregister (NRC) und das Nationale Bevölkerungsregister (NPR), sondern auch gegen die Wirtschaftskrise, steigende Ungleichheit, Polizeibrutalität, Arbeitslosigkeit, Armut und gegen Angriffe auf Frauen. Die Demonstrierenden unterstützten auch Bauerngewerkschaften, die sich gegen die arbeiterfeindliche Politik der Regierung stellten und protestierten gegen Angriffe auf akademische Einrichtungen. Die Demonstrationen begannen mit 10-15 lokalen Frauen, meist Hijab tragende muslimische Hausfrauen, aber innerhalb von Tagen zogen sie Menschenmassen von bis zu hunderttausend an, was sie zu einem der längsten Sitzproteste dieser Größenordnung im modernen Indien machte. Die Shaheen-Bagh-Proteste inspirierten auch ähnliche Versammlungen im ganzen Land, wie die in Gaya, Kolkata, Prayagraj, Mumbai, Chennai und Bengaluru. Die Demonstrierenden in Shaheen Bagh setzten seit dem 14. Dezember 2019 ihren Sitzprotest in Neu-Delhi mit gewaltfreiem Widerstand 101 Tage lang fort, bis er am 24. März 2020 aufgrund des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie beendet wurde.

Die meisten der Frauen, die zum Shaheen-Bagh-Protest kamen, waren zum ersten Mal Protestierende, meist Hausfrauen, die sich gegen die Regierung auflehnten [3]. Es war das erste Mal, dass sie sich für ein nationales Thema einsetzten, das die religiösen Grenzen überschritt. Einige kamen mit ihren Neugeborenen und Kindern und einige waren Großeltern. Die Frauen waren das Zentrum der Proteste und die Männer unterstützten sie vom Rand aus. Sie waren kreativ und strategisch. Sie leiteten ihre Welt leise aus dem Hintergrund und wussten, wann eine Krise sie brauchte, um unsichtbare Grenzen zu überschreiten und in den Vordergrund zu treten. Sie traten in den öffentlichen Raum, um sich kollektiv einer drohenden Krise zu stellen [2]. Bewaffnet mit dicken Decken, warmen Tassen Tee und Liedern des Widerstands haben diese Frauen einem der kältesten Winter, den Delhi in den letzten 118 Jahren erlebt hat, getrotzt [4]. Diese Frauen waren die treibenden Kräfte dieses Protests, sie schlossen sich unabhängig von Gesellschaftsklasse und Religion an und wechselten sich ab, um vor Ort zu sitzen. Sie brachen die historisch vorherrschende Geschlechtertrennung des Patriarchats auf und übernahmen die Kontrolle. Sie zerstörten auch die populäre Vorstellung, die muslimische Frauen als machtlos und handlungsunfähig darstellte.

Shaheen Bagh ist in vielerlei Hinsicht typisch für die Protestbewegung, die in ganz Indien ausbrach, da sie führerlos war. Keine politische Partei oder Organisation konnte für sich in Anspruch nehmen, den Protest anzuführen. Stattdessen wurde er hauptsächlich von den Frauen aus den Arbeitervierteln von Shaheen Bagh angeheizt. Da es ein führerloser Protest war, konnte er nicht von ein paar prominenten Organisator:innen beendet werden [5]. Als diese versuchten, den Protest unter Berufung auf die Einmischung politischer Parteien und Sicherheitsbedrohungen „abzubrechen“, wiesen die Frauen von Shaheen Bagh dies zurück und beschlossen, die Proteste fortzusetzen. Die Bewegung hatte keine formellen Organisator:innen und lebte allein von einer umherziehenden Gruppe von Freiwilligen und der Hartnäckigkeit der lokalen Frauen. Das Fehlen von Anführenden verwirrte auch die Polizei, die nicht wusste, an wen sie sich wenden sollte, um die Frauen zur Räumung des Geländes zu bewegen.

Die Demonstrierenden wurden von einer vielfältigen Gruppe von mehr als hundert Freiwilligen unterstützt und koordiniert, darunter Anwohner:innen, Student:innen und Berufstätige. Diese Freiwilligen organisierten sich um verschiedene Aufgaben herum, wie das Aufstellen von behelfsmäßigen Bühnen, Unterkünften und Betten; die Bereitstellung von Essen, Wasser, Medikamenten und Zugang zu Toiletten; die Installation von Überwachungskameras, das Bereitstellen von elektrischen Heizungen, Außenlautsprechern und das Sammeln von Spenden [6]. Zu den Spenden gehören Matratzen, ein Sortiment an Tischen, die das Fundament der Bühne bilden und endlose Tassen dampfenden Tees, die an kalten Wintertagen für Wärme sorgen. Die Anwohner:innen bildeten informelle Gruppen, die Sicherheit, Rednerinnen, Lieder und Kulturprogramme koordinierten, die auf diesen behelfsmäßigen Bühnen stattfanden. Die Menschen verteilten Tee, Snacks, Biryani, Süßigkeiten und andere Esswaren am Protestort. Einige spendeten Holzscheite, um die Demonstrierenden warm zu halten. Über die sozialen Medien wurden Sammelaktionen für Decken und andere lebensnotwendige Dinge organisiert. Neben dem Protestcamp wurde auch ein Gesundheitscamp eingerichtet, das die Demonstrierenden mit Medikamenten versorgte. Ärzte und Ärztinnen und Pflegekräfte sowie Medizinstudent:innen aus verschiedenen medizinischen Instituten und Krankenhäusern schlossen sich freiwillig für diesen Zweck an [7]. Eine Gruppe von Sikh-Bäuer:innen aus dem Punjab kam und richtete eine Langer (kostenlose Gemeinschaftsküche) in der Gegend ein.

Der Platz war mit Kunst geschmückt [8]. Die Treppen, die zu den geschlossenen Geschäften in der Nähe des Protestkreises führten, wurden von freiwilligen Student:innen der Jamia zusammen mit den kleinen Kindern von Shaheen Bagh in eine öffentliche Bibliothek und ein Kunstzentrum verwandelt. Protestkunst wurde während der Veranstaltung zur Stimme des Widerstands und des Dissenses, und das Gebiet war mit Wandmalereien, Graffiti, Postern und Bannern bedeckt [9]. Ein Lesebereich mit dem Namen „Read for Revolution“ war mit hunderten von crowd-sourced Büchern sowie Schreibmaterialien eingerichtet worden [10]. Eine nahegelegene Bushaltestelle wurde in die Fatima Sheikh-Savitribai Phule Bibliothek umgewandelt, die Material über die Verfassung des Landes, Revolution, Rassismus, Faschismus, Unterdrückung und verschiedene soziale Themen bereitstellte [11]. Öffentliche Leseplätze wurden für die Sache des Dissenses geschaffen und um die Idee der Bildung unter den Demonstrierenden von Shaheen Bagh zu verstärken. Da ein Großteil der Frauen von Shaheen Bagh zum ersten Mal aus ihren Häusern herausgetreten sind, war dies ein Versuch, diese Frauen näher zu bringen, damit sie lesen und den sozialen Wandel, den sie vorleben, ermöglichen. Neben kleinen Kindern waren auch Senior:innen, Berufstätige, Hausangestellte und viele aus Shaheen Bagh und den umliegenden Gebieten vor Ort, um sich Bücher auszusuchen oder Farben und Zeichenpapier zu holen, während einige auch kamen, um ihre alten Bücher und Schreibwaren zu spenden.

लड़ो पढ़ाई करने को, पढ़ो समाज बदलने को
(Kämpfe um zu lesen, lese um zu verändern)

Auch die Kinder, die neben den Eltern anwesend waren, beteiligten sich an dem Protest. Die meisten dieser Kinder besuchten am Morgen die Schule, bevor sie sich ihren Eltern am Protestort anschlossen, der für viele Kinder zu einem Kunstraum wurde [12]. Sie drückten ihre Gedanken aus und beteiligten sich am Protest durch Geschichtenerzählen, Poesie, Puppenspiel, Singen und Malen. Studentische Freiwillige beschäftigten die lokalen Kinder mit Lesen, Malen und Singen und hielten informelle Lesestunden ab.

Reden, Vorträge, Rap und Shayari-Poesie-Lesungen wurden jeden Tag abgehalten [13]. Aktivist:innen, Künstler:innen und Sozialarbeiter:innen kamen und hielten Vorträge zu verschiedenen Themen, mit denen Muslime, Dalits, Adivasis, Behinderte, LGBTQ-Menschen und alle Unterdrückten konfrontiert sind. Die Bühne ist demokratisch und beherbergt Dichter:innen und Professor:innen, Hausfrauen und Älteste, zivilgesellschaftliche Gruppen und zivilgesellschaftliche Führende, Schauspieler:innen und Prominente und natürlich Student:innen – von Jamia, JNU bis zu den lokalen Regierungsschulen. Eine große Anzahl von Frauen nehmen an Open-Mics teil, um ihre Gedanken auszudrücken, viele sprechen zum ersten Mal in der Öffentlichkeit. Die Demonstrierenden lesen die Präambel der Verfassung, die sie an ihre Rechte auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit erinnert. Wenn die Shaheen-Bagh-Bühne eine Voreingenommenheit hatte, dann gegenüber Frauen und jenen, aus dem akademischen Bereich und anderswo, die sie nicht nur über CAA-NRC-NPR, sondern auch über den Freiheitskampf, Ambedkar, Gandhi und die Ideen, die die Präambel der Verfassung beleben, aufklären können [13]. Die Sprechchöre „inquilab zindabad (es lebe die Revolution!)“ und „rettet die Verfassung“ erfüllten den Platz. Nachts sahen sich die Menschen Filme und Dokumentationen über die Flüchtlingskrise, antifaschistische Kämpfe und Revolution an, die auf dem Gelände gezeigt wurden. Auch musikalische und kulturelle Veranstaltungen wurden in Solidarität mit den Anti-CAA-Protesten durchgeführt. Dieser Occupy-Protest lieferte ein Beispiel dafür, wie man eine Gemeinschaft ohne staatliche Unterstützung durch freiwillige Assoziation und gegenseitige Hilfe schafft, Entscheidungen auf demokratische Weise trifft, an denen sich alle beteiligen und die Macht dezentralisiert, indem es keine Organisator:innen oder Anführende gibt, die alles kontrollieren. Diese Elemente der anarchistischen Organisierung sind auch im Protest der Bauern und Bäuerinnen sichtbar.

Kleine und marginale Bäuer:innen mit weniger als zwei Hektar Land machen 86,2% aller Bauern und Bäuerinnen in Indien aus, besitzen aber nur 47,3% der Anbaufläche. Insgesamt 2.96.438 Landwirt:innen haben in Indien von 1995-2015 Selbstmord begangen [14]. 28 Menschen, die von der Landwirtschaft abhängig sind, sterben in Indien jeden Tag durch Selbstmord [15]. Indien befindet sich bereits in einer großen Agrarkrise und die drei neuen Gesetze haben die Tür für die Korporatisierung der Landwirtschaft geöffnet, indem sie den Mindeststützungspreis (MSP) abschaffen und die Bauern und Bäuerinnen der Gnade der großen kapitalistischen Unternehmen überlassen.

Die Proteste der Landwirt:innen begannen mit lokalen Protesten der Bauerngewerkschaften gegen die neuen Gesetze, vor allem im Punjab. Nach zwei Monaten der Proteste begannen die Bauern und Bäuerinnen aus Punjab und Haryana eine Bewegung namens Dilli Chalo (Geh nach Delhi), in der Zehntausende von Landwirt:innen in Richtung der Hauptstadt marschierten [16]. Die indische Regierung setzte die Polizei ein und griff die Demonstrierenden mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Tränengas an, um sie daran zu hindern, nach Delhi zu gelangen. Am 26. November 2020 fand der größte Generalstreik der Welt mit über 250 Millionen Menschen statt, um die Bauern und Bäuerinnen zu unterstützen [17]. Eine Menge von 200.000 bis 300.000 Landwirt:innen versammelte sich an verschiedenen Grenzpunkten auf dem Weg nach Delhi. Als Protest blockierten sie die Autobahnen rund um Delhi, indem sie sich auf die Straßen setzten [18]. Transportgewerkschaften, die 14 Millionen LKW-Fahrer:innen repräsentieren, traten ebenfalls zur Unterstützung der Bäuer:innen auf. Die Landwirt:innen haben dem Obersten Gerichtshof Indiens mitgeteilt, dass sie nicht auf Gerichte hören werden, wenn sie aufgefordert werden, sich zurückzuziehen. Sie organisierten am Tag der Republik eine Traktorenkundgebung mit über 200.000 Traktoren und stürmten das historische Rote Fort [19]. Die Regierung verbarrikadierte die Straßen der Hauptstadt mit zementierten Nägeln und Gräben, um die Bauern und Bäuerinnen aufzuhalten und Strom, Internet und Wasserversorgung wurden von den Protestorten abgeschnitten.

Dutzende von Langars, d.h. kostenlose Gemeinschaftsküchen, wurden von Bauernorganisationen und NGOs eingerichtet, um den Nahrungsmittelbedarf der hunderttausenden Landwirt:innen in den Bauerncamps zu decken, die an den Grenzen Delhis entstanden [20]. Die Bauern und Bäuerinnen kamen voll ausgerüstet, um in diesen Gemeinschaftsküchen Massenmahlzeiten zuzubereiten, wobei die Lieferungen täglich aus ihren Dörfern kamen. Traktoren und Lastwagen mit Säcken voller Gemüse und Mehl sowie Kannen mit Öl und Milch kommen täglich aus Dörfern und Städten, in denen das Zusammenlegen von Ressourcen für Gemeinschaftsmahlzeiten eine Lebensweise ist. Diese Langars arbeiten rund um die Uhr und bieten kostenloses Essen ohne Unterscheidung von Kaste, Klasse oder Religion. Unterstützende des Bauernhofprotests bringen oft Mandeln, Äpfel, Süßigkeiten und abgepacktes Wasser mit. Sie lieferten sogar eine Maschine, die jede Stunde tausend „Rotis“ ausrollt. Über die sozialen Medien werden Decken und andere lebensnotwendige Dinge für diese Proteste gesammelt, die dem strengen Winter trotzen. Viele Demonstrierende kampieren im kalten Winter in Delhi am Straßenrand und verbringen die Nächte zusammengerollt in Traktoranhängern. Freiwillige haben solarbetriebene mobile Ladestationen, Wäschestände mit Waschmaschinen, medizinische Stände für Medikamente, arrangierte Ärzt:innen und Pflegekräfte, zahnärztliche Camps und mitgebrachte Fußmassagestühle für ältere Demonstrierende eingerichtet [21].

Eine behelfsmäßige Schule wurde im Camp eingerichtet, genannt „Sanjhi Sathh“ (ein gemeinsamer Ort), um eine dörfliche Tradition wieder aufleben zu lassen, in der Diskussionen über wichtige Themen stattfinden. Kinder aus unterprivilegierten Familien, die aufgrund finanzieller Probleme und der anhaltenden Covid-19-Pandemie keine Schule besuchen können, kommen in dieses Zelt. Es hat eine Bibliothek, in der Biographien des indischen Freiheitskämpfers Bhagat Singh, des Revolutionärs Che Guevara und andere Bücher verschiedener Genres sowie Zeitungen in Englisch, Hindi und Punjabi ausliegen. Dutzende von Plakaten mit darauf geschriebenen Slogans bedecken jeden Zentimeter der Planenzelte [22]. Die Landwirt:innen installierten auch Kameras, um den Protestplatz zu überwachen und zu dokumentieren, was passiert und um jeder Erzählung entgegenzuwirken, die ihren Protest diskreditieren soll. Am Protest nahmen auch viele Frauen teil, die in großer Zahl auf die Straße gingen. Bäuerinnen und Landarbeiterinnen fuhren mit Traktoren aus ihren Dörfern zu den Protestplätzen, unbeeindruckt vom grausamen Winter.

Genau wie der Shaheen-Bagh-Protest, ist dies ein dezentraler, führerloser Protest von hunderten von Bauernverbänden. Auch wenn an den Verhandlungen mit der Regierung Vertreter:innen von 32 Bauernverbänden teilnehmen, fungieren sie als Sprecher:innen, die die kollektive Forderung aller Bauern und Bäuerinnen präsentieren. Wann immer die Regierung einen neuen Vorschlag einbringt, kommen die Vertreter:innen zurück zu den Gewerkschaften, wo sie zusammensitzen, diskutieren, debattieren und das weitere Vorgehen gemeinsam auf demokratische Weise entscheiden. Die Landwirt:innen führen Kisan Mahapanchayats (öffentliche Versammlungen) durch, die von Hunderttausenden von Menschen in Dörfern rund um Delhi, UP, Punjab, Rajasthan und Haryana besucht werden, um Strategien und Wege zu diskutieren, um Druck auf die Regierung auszuüben. Es war diese Dezentralisierung, die den Protest robust machte und die Verurteilung rund um die Gewalt während der Truck-Rally am Tag der Republik überwand. Auch wenn viele Führende der Bauerngewerkschaften dazu aufriefen, den Protest zu beenden, blieben die Bauern und Bäuerinnen standhaft in ihrer Entscheidung, nicht zurückzugehen, bis die Gesetze zurückgeschlagen wurden.

Die Schauplätze der beiden oben genannten Proteste können mit der Capitol Hill Autonomous Zone (CHAZ) verglichen werden, die im Capitol Hill-Viertel von Seattle, Washington von Black Lives Matter (BLM)-Demonstrierende während der Nachwirkungen des Mordes an George Floyd durch die Polizei errichtet wurde [23]. CHAZ war eine entstehende Kommune, die durch gegenseitige Hilfe aufgebaut wurde, in der keine Polizei erlaubt war und fast alles kostenlos war.

CHAZ, Shaheen Bagh und die Bauernproteste waren Besetzungsproteste, bei denen die Protestierenden selbst eine Gemeinschaft bildeten und eine autonome Zone schufen. Ging es bei der einen gegen Rassismus und Polizeigewalt, richteten sich die anderen gegen religiöse Diskriminierung und die Agrarkrise. Die Proteste waren meist selbstorganisiert und ohne eine offizielle Führung. Die Orte waren gefüllt mit Protestkunst, Malerei, Filmvorführungen und musikalischen Darbietungen [24]. Genau wie die Kooperative der gegenseitigen Hilfe in CHAZ, wurden kostenloses Essen, Wasser, Snacks und andere Dinge für alle bereitgestellt. Es wurden Bereiche für Versammlungen und zur Erleichterung des Diskurses eingerichtet [25].

CHAZ war eine führerlose Zone, in der die Besetzenden die Entscheidungsfindung im Konsens in Form einer Generalversammlung mit täglichen Treffen und Diskussionen bevorzugten [26]. Sie schliefen in Zelten, Autos und umliegenden Gebäuden und waren auf Spenden von lokalen Ladenbesitzer:innen und Aktivist:innen angewiesen. Sie sammelten Spenden für die Obdachlosen und legten Gemeinschaftsgärten an [27]. Medizinische Stationen wurden eingerichtet, um eine medizinische Grundversorgung zu gewährleisten.

„Wir Anarchist:innen wollen nicht die Menschen emanzipieren; wir wollen, dass die Menschen sich selbst emanzipieren.
Die einzige Grenze für die Unterdrückung durch die Regierung ist die Macht, mit der sich das Volk in der Lage zeigt, sich ihr zu widersetzen.“
-Errico Malatesta

Der Anarchismus versucht, Institutionen einer neuen Gesellschaft „innerhalb der Schale der alten“ zu schaffen, um die Strukturen der Herrschaft zu entlarven, zu untergraben und zu unterminieren, aber dabei immer auf demokratische Weise vorzugehen, eine Weise, die selbst zeigt, dass diese Strukturen unnötig sind [28]. (Leider völlig falsch. Der Autor des Textes scheint davon auszugehen, dass es im Anarchismus eine demokratische Dimension gäbe. Den Begriff „Institution“ sehen wir mehr als nur kritisch. Auch im weiteren Verlauf zeigt sich, dass der Autor seltsame Vorstellungen von Anarchismus hat. Einiges ist so grotesk, dass dieser Kommentar einfach notwendig ist. — Anm. d. Übers.)
Anarchist:innen beobachten, was Menschen in ihren Gemeinschaften bereits tun und versuchen dann, die verborgene symbolische, moralische oder pragmatische Logik, die ihren Handlungen zugrunde liegt, herauszukitzeln und auf eine Art und Weise zu verstehen, die ihnen selbst nicht vollständig bewusst ist. Sie schauen sich diejenigen an, die praktikable Alternativen schaffen, versuchen herauszufinden, was die größeren Implikationen dessen sein könnten, was sie bereits tun, und bieten dann diese Ideen zurück an, nicht als Rezepte, sondern als Beiträge [28]. Sie verstehen, dass Menschen bereits selbstorganisierte Gemeinschaften bilden, wenn der Staat sie im Stich gelassen hat, und wir können von diesen Gemeinschaften eine Menge über direkte Aktion und gegenseitige Hilfe lernen.

Direktdemokratische Entscheidungsfindung, Dezentralisierung von Macht, Solidarität, gegenseitige Hilfe und freiwilliger Zusammenschluss sind die Kernprinzipien der anarchistischen Organisierung. Anarchist:innen nutzen direkte Aktionen, stören und protestieren gegen ungerechte Hierarchien und verwalten ihr Leben selbst durch die Schaffung von Gegeninstitutionen wie Kommunen und nicht-hierarchischen Kollektiven. Die Entscheidungsfindung wird antiautoritär gehandhabt, wobei alle gleiches Mitspracherecht bei jeder Entscheidung haben. Sie nehmen an allen Diskussionen teil, um einen groben Konsens unter den Mitgliedern der Gruppe zu schaffen, ohne dass es einen Anführenden oder eine führende Gruppe braucht. Anarchist:innen organisieren sich, um öffentliche Räume zu besetzen und zurückzuerobern, in denen Kunst, Poesie und Musik vermischt werden, um die anarchistischen Ideale zu zeigen. Hausbesetzungen sind eine Möglichkeit, den öffentlichen Raum vom kapitalistischen Markt oder einem autoritären Staat zurückzuerobern und sind auch ein Beispiel für direkte Aktion. Wir können Elemente davon in all diesen Protesten finden und das ist der Grund für ihre Robustheit und ihren Erfolg. Es sprengt den Mythos, dass man eine zentralisierte Befehlskette mit einer kleinen Gruppe von Anführenden an der Spitze braucht, die die Strategien bestimmen und eine sehr große Gruppe von Anhänger:innen, die diesen Entscheidungen blind gehorchen, um den Erfolg einer groß angelegten Organisierung zu sichern. All diese Proteste waren führerlose Proteste, bei denen die Menschen selbst entschieden haben und zu einem Konsens über die zu verfolgende Vorgehensweise auf demokratische Weise gekommen sind. Wenn Menschen sich entscheiden, selbst Entscheidungen zu treffen und sich in kleinen Gemeinschaften miteinander abstimmen, indem sie sich gegenseitig helfen, schafft das die stärkste Form von Demokratie und Solidarität.

Die Tatsache, dass diese Proteste stattfanden, mit so vielen Menschen, die sich kollektiv organisierten und kooperierten, für eine so lange Zeit, zeigt uns, dass wir uns selbst organisieren und Gemeinschaften ohne externe Institutionen schaffen können und dass es demokratischer sein kann als die autokratische Bürokratie und autoritäre Regierungen, die alle Macht konzentrieren und die Menschen unterdrücken. Diese Proteste wurden vor allem von ungebildeten Frauen, armen Bauern und Bäuerinnen und Menschen aus anderen marginalisierten Gemeinschaften getragen, die zeigten, dass sie Gemeinschaften schaffen können, die moralischer und egalitärer sind, als die, die in hierarchischen Gesellschaften mit den Wohlhabenden und Hochgebildeten existieren. Sie haben gezeigt, dass Menschen, die unterdrückt und unterprivilegiert sind, sich in Gemeinschaften gegenseitiger Hilfe und direkter Demokratie organisieren können, was die Notwendigkeit von zwanghaften hierarchischen Regierungssystemen, die nur existieren, um sie auszubeuten, eliminiert.

Die Proteste der Occupy-Bewegung zeigen uns, dass wir Gemeinschaften bilden und kollektiv verschiedene Formen der demokratischen Entscheidungsfindung organisieren können, während gleichzeitig alle ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Die Proteste zeigen uns Modelle der Organisation von Gemeinschaften in großem Maßstab, die Hunderttausende von Menschen umfassen. Auch wenn sie nicht perfekt sind, können wir von den Ideen dieser Proteste lernen – von Solidarität, gegenseitiger Hilfe, direkter Demokratie, Dezentralisierung der Macht – und versuchen, diese in unserem Leben und in unseren Gemeinschaften zu verwirklichen.


Referenzen

[1]H. E. Petersen and S. Azizur Rahman, “‘Modi is afraid’: women take lead in India’s citizenship protests,” The Guardian, 21 January 2020.
[2]N. Badwar, “Speaking truth to power, in Shaheen Bagh and beyond,” Livemint, 17 January 2020.
[3]B. Kuchay, “Shaheen Bagh protesters pledge to fight, seek rollback of CAA law,” Al Jazeera, 15 January 2020.
[4]“Shaheen Bagh: The women occupying Delhi street against citizenship law – ‘I don’t want to die proving I am Indian’,” BBC, 4 January 2020.
[5]K. Sarfaraz, “Shaheen Bagh protest organiser calls it off, can’t get people to vacate,” The Hindustan Times, 2 January 2020.
[6]“The volunteers of Shaheen Bagh,” The Telegraph (Culcutta), 24 December 2019.
[7]“Behind Shaheen Bagh’s Women, An Army of Students, Doctors & Locals,” The Quint, 14 January 2020.
[8]R. Venkataramakrishnan, “The Art of Resistance: Ringing in the new year with CAA protesters at Delhi’s Shaheen Bagh,” Scroll.in, 6 January 2020.
[9]A. Bakshi, “Portraits of resilience: the new year in Shaheen Bagh,” 2 January 2020.
[10]J. Thakur, “Shaheen Bagh Kids and Jamia Students Make Space for Art, Reading and Revolution,” The Citizen, 11 January 2020.
[11]F. Ameen, “The Library at Shaheen Bagh,” The Telegraph (Culcutta), 20 January 2020.
[12]A. Purkait, “In Shaheen Bagh, Children Paint Their Protest while Mothers Hold Dharna,” Makers India, 22 January 2020.
[13]S. Chakrabarti, “Shaheen Bagh Heralds a New Year With Songs of Azaadi,” The Wire, 31 December 2019.
[14]P. Sainath, “Maharashtra crosses 60,000 farm suicides,” People’s Archive of Rural India (PARI), 21 July 2014.
[15]R. Sengupta, “Every day, 28 people dependent on farming die by suicide in India,” Down to Earth, 3 September 2020.
[16]“Dilli Chalo | Farmers’ protest enters fifth day,” The Hindu, 30 November 2020.
[17]S. Joy, “At least 25 crore workers participated in general strike; some states saw complete shutdown: Trade unions,” Deccan Herald, 26 November 2020.
[18]“Farmers’ Protest Highlights: Protesting farmers refuse to budge, say ‘demands are non-negotiable,” The Indian Express, 1 December 2020.
[19]G. Bhatia, “Tractors to Delhi,” Reuters, 29 January 2021.
[20]“Langar Tradition Plays Out in Farmers Protest, Students Use Social Media To Organise Essentials,” India Today, 2 December 2020.
[21]J. Sinha, “Protest site draws ‘Sewa’ – medicine stalls, laundry service, temple & library come up,” Indian Express, 11 December 2020.
[22]B. Kuchay, “A school for the underprivileged at Indian farmers’ protest site,” AlJazeera, 24 January 2021.
[23]D. Silva and M. Moschella, “Seattle protesters set up ‘autonomous zone’ after police evacuate precinct,” NBC News, 11 June 2020.
[24]C. Burns, “The Capitol Hill Autonomous Zone Renames, Expands, and Adds Film Programming,” The Stranger, 10 June 2020.
[25]H. Allam, “‘Remember Who We’re Fighting For’: The Uneasy Existence Of Seattle’s Protest Camp,” NPR, 18 June 2020.
[26]K. Burns, “Seattle’s newly police-free neighborhood, explained,” Vox, 16 June 2020.
[27]h. Weinberger, “In Seattle’s CHAZ, a community garden takes root | Crosscut,” Crosscut, 15 June 2020.
[28]D. Graeber, Fragments of an Anarchist Anthropology, 2004.